Freitag, 10. März 2017
30 The March Violets “Walk Into The Sun”
Dienstag

Es ist schon früher Nachmittag als wir aus dem Bett krabbeln. Keine Ahnung, wann wir zuhause waren. Was für eine grandiose Party.
Pete und ich haben gestern Judith gebeten, quasi schon am Vortag unsere Krankmeldung entgegen zu nehmen. Wir hätten da jeweils so ein Gefühl, dass es uns am nächsten Morgen nicht gut gehen würde. Sogar nicht nur nicht gut, sondern wirklich richtig schlecht, so dass wir nicht aufstehen könnten um zu telefonieren. Sie hat genickt und dann gesagt, dass, wenn die Helden in den Sonnenuntergang reiten müssen, sie sich nicht weigern könnte, die Steigbügel zu halten. Wir haben das dann als eine klare und deutliche Zustimmung zu unserem Anliegen interpretiert.
Die „If I Die ... I Die“ von den Virgin Prunes läuft. Ein wirklich unglaublich gutes und unglaublich schräges Album: Luz behauptet immer, dass sie das nicht mag. Dafür hört sie aber ganz schön intensiv zu und wippt ordentlich mit.
Vorhin hat der Captain eine Nachricht rumgeschickt. Wir sollten mal einen Blick auf WAZ-Online werfen, da gäbe es einen interessanten Artikel zu lesen. Und in der Tat, den gibt es.
Heute Vormittag haben die Sheriffs einen anonymen Tipp erhalten und sind diesem nachgegangen. Und dann haben sie ein hochrangiges Mitglied der Stadtverwaltung, welches gleichzeitig ein sehr ambitionierten Lokalpolitiker ist, im Rathaus eingesammelt. Natürlich wird kein Name genannt. Natürlich weiß trotzdem fast jeder sofort, um wen es da nur gehen kann. Da hat der gute OB aber ganz schnell Nägeln mit Köpfen gemacht und den aufmüpfigen Emporkömmling ganz schnell entsorgt. Er mich pampig, ich ihm gleich in die Fresse.
Es klingelt. Wir erwarten niemanden. Zumindest ich erwarte niemanden. Luz erwartet hingegen wohl doch vielleicht jemanden, denn sie hüpft von der Couch hoch.
Tür auf. Luz raus. Tür zu.
Sie hat keine Wort gesagt. Weder jetzt, noch vorher. Durch den geriffelten Glaseinsatz der Tür sehe ich, dass sie mit jemandem im Flur spricht. Keine Ahnung mit wem, ich sehe nur Umrisse.
Tür auf. Luz wieder rein. Aber nicht nur sie.
Hinter ihr betritt ein Mann den Raum. Der Typ ist ein paar Jahre jünger als ich . So um die vierzig. Südeuropäer. Also wahrscheinlich Spanier. Also wahrscheinlich Katalane.
„Das ist mein Cousin Rodrigo. Roddie.“
Seit ich Luz kenne, habe ich meine Fremdsprachenkenntnisse etwas erweitert. An unserer VHS kann man leider kein Katalanisch lernen. So ist Katalanisch immer noch etwas, was ich nicht verstehe. Aber ich konnte Kurse in Kastilisch besuchen, die hier aber unter dem Begriff Spanisch angeboten werden. Dass das so ist, darum hat Franco sich als guter Unterdrücker seiner Völker damals sorgfältig gekümmert. Kastilisch war seine Sprache, also hat er kurzerhand mal eben alle anderen, und das sind schon einige, verboten.
„Ola, buenas tardes. Me llamo Waller. Que tal?”
“Gracias. Muy bien. Ich weiß das wirklich zu schätzen. Aber ich bin hier im Ruhrgebiet aufgewachsen.“
Während wir so ein bisschen verbal plänkeln, beginne ich mich ernsthaft zu fragen, was der wirkliche Grund seines Besuches ist. Ich denke nicht, dass er gerade heute zufällig in der Gegend gewesen ist und sich dann gedacht hat, da schelle ich doch mal bei meiner Cousine an.
Ein kurzer, aber intensiver Blick zu Luz bestätigt mir das. Sie denkt darüber nach, wie sie das Gespräch dahin lenken kann, wo sie es hin haben will. Dann holt sie den Laptop unter dem Tisch hervor, klappt ihn auf und fährt ihn hoch. Das Einzige, was man jetzt hört, sind die Geräusche der Festplatte. Luz schweigt, Roddie sagt nichts und ich bin ganz still.
Zu meiner Überraschung öffnet Luz dann den Blog der Sprayer. Zu meiner Überraschung gibt es einen neuen Eintrag von heute. Zu meiner Überraschung zeigt je ein Blick zu Luz und Roddie mir, dass sie darüber nicht überrascht sind. Das überrascht mich dann erst so richtig. Also beginne ich mir Gedanken zu machen. Das dauert aber nicht lange, dann beginne ich mir Sorgen zu machen.
Luz öffnet den neuen Eintrag und wir gucken uns die drei Bilder an, die es dort gibt. So richtig glauben kann ich nicht, was ich da sehe, aber so was in der Art ist in den letzten Wochen regelmäßig passiert. Ich habe inzwischen eine gewisse Übung darin, aber ich habe mich längst noch nicht daran gewöhnt. Nicht im Ansatz. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich da überhaupt dran gewöhnt sein möchte.
Auf den Bildern ist ein Auto zu sehen. Ein Auto in einer Garage. Ich glaube, den Wagen wiederzuerkennen. Den habe ich gestern vor der Sparkasse gesehen. Und der Buchstabe auf dem Nummernschild bestätigt meinen Verdacht. Das S steht für Seelmann. Allerdings hat sich die schwarze Luxuskarre seit gestern etwas verändert. Sie ist quasi gepimpt worden.
Auf beiden vorderen Türen und der Motorhaube ist jeweils ein richtig großes, einzelnes V und darunter in kleineren Buchstaben ein VOD zu sehen. In Weiß. Wegen dem Kontrast. In Schablonenschrift. Wie es sich gehört.
Irgendwas stimmt aber nicht. Eumel und der Rest von den „Dead Drivers“ waren gestern im „Mercy Seat“ auf der Party. Und sie waren lange da. Und sie waren blau. Hackendicht. Die können das eigentlich nicht gewesen sein. Und ich glaube auch nicht, dass Stefanie an den Schlüssel von der Garage vom Seelmann kommen kann.
Die Zeichen hat jemand anderes gemacht. Mein Blick geht zu Roddie und der Groschen fällt. Luz liest in meinem Gesicht, dass ich die Zusammenhänge erkannt habe. Sie strahlt mich an, so wie sie nur mich anstrahlt. Sonst niemanden. Warum auch immer gerade mich.
In ihren Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut.
Roddie merkt, dass ich mir seine Tattoos auf den Oberarmen ansehe. Er schiebt die Ärmel höher, damit ich alles erkenne kann. Links das Zeichen der CNT, rechts das Bild von Buenaventura Durruti.
Auch in seinen Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut.
Der Kreis schließt sich.
Roddie hat sich damals Zugang zum Büro von Seelmann verschafft und dort das erste VOD-Zeichen hinterlassen. Jetzt hat er sich Zugang zur Garage von Seelmann verschafft und die letzten VOD-Zeichen hinterlassen.
Der Kreis ist richtig schön rund. So wie es sich für einen guten Kreis gehört.
„Wenn ich endgültig aus dem Knast bin, könnte ich mich hier in der Stadt niederlassen. Das Klima gefällt mir.“
Ein Gefühl sagt mir, dass es in Zukunft auf jeden Fall nicht langweilig wird.

Und das Gefühl sagt es wirklich sehr laut.

***
ENDE

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Montag, 6. März 2017
29 Angelic Upstarts “Solidarity”
Montag

Der Wecker macht sich bemerkbar. Lautstark. Ein gezielter Hieb und die himmlische Ruhe kehrt zurück. Ich bin ausgesprochen schlagfertig für meine Verhältnis um diese Zeit. Und auch schon ziemlich wach. Es ist Montag. Zeit für die CD, aber ich zögere einen Augenblick, denn eigentlich würde es nicht gut passen, wenn ausgerechnet heute die Zufallswiedergabe mit mir sein würde.
Und heute ist nicht nur Montag, sondern der erste Montag im Monat. Der Tag, an dem die Meister der Verwaltung ihr spektakuläres Treffen haben und dabei den immer wieder beeindruckenden Worten ihres Obermeisters lauschen. Seit ich zumindest als Interimsmeister zu dieser Runde gehöre, habe ich jeden ersten Montag im Monat gehofft, dass mich „Blue Monday“ vor dieser Show retten würde. Jedoch jedes Mal vergeblich. Aber auch die Aussicht aus der Nummer rauszukommen, ändert nichts. Heute würde es wirklich nicht gut passen.
Aber es ist mein Spiel, es sind meine Regeln. Und die gelten auch heute. Ob ich nun will oder nicht. Und wenn es dann so sein soll, dann ist es eben so. Dann muss ich halt zusehen, das anders auf die Reihe zu bekommen. Also schmeiße ich das Gerät an und warte gespannt.
Es kommt „Electricity“ von Ochestral Manoeuvres In The Dark. Ich merke, dass ich auch gleich Strom in der Birne bekomme. Und die Lampe dann auch. Es werde Licht. Luz schaut mich erst vorwurfsvoll an, lächelt dann aber strahlend. Es werde noch viel mehr Licht. Die orchestralen Manöver in der Dunkelheit enden dann auch recht schnell. „Electricity“ ist nicht sonderlich lang.
Den ersten Kaffee hole ich uns ans Bett. Wir sitzen schweigend nebeneinander. Die Ruhe nach dem Sturm oder auch die vor dem nächsten Sturm. Wir wissen es nicht. Ich muss los. Bevor ich mich aufmache, küsse ich sie noch einmal. Weil ich es darf. Weil nur ich es darf.

Als ich ins Amt komme, sitzt Pete schon in seinem Büro, also pflanze ich mich auf seine Schreibtischkante und leiste ihm ein wenig Gesellschaft. Wir schweigen gemütlich im Duett, aber das wird sich gleich ändern. Pete möchte reden, das merke ich ihm an, aber die Suche nach den passenden Worten ist noch in vollem Gang. Ich stelle uns zwei frische Kaffee auf den Tisch.
„Ich habe Eve angerufen.“
Das ist jetzt so wirklich verwunderlich nicht, das hat er ja gestern bereits so angekündigt.
„Wir haben lange geredet. Über dies und das und anderes. Auch über damals und so. Über alles halt.“
So ist Pete, mein ältester und bester Freund. Seit Ewigkeiten, noch heute und hoffentlich für immer. Genau so ist er. Kein Mann vieler Worte. Und er war auch nie anders. Ich sehe ihm direkt ins Gesicht, ich gucke quasi durch die Augen in seinen Kopf. Wir kennen uns so gut und so lange, dass mir das total leicht fällt. Dann grinse ich ihn an. Er schüttelt den Kopf.
„Frag nicht.“
Und ich frage nicht. Brauche ich auch nicht. Ich kenne die Antwort schon, warum soll ich ihn also noch fragen. Er will Eve zurück. Am besten sofort. Besser gestern als heute. Aber er weiß noch nicht, ob das umgekehrt genau so ist. Aber er wirkt da schon irgendwie zuversichtlich. Er guckt mich an.
„Wenn du mir vor vier Wochen gesagt hättest, dass Eve wieder hierhin zurückkommt, hätte ich das nicht geglaubt.
„Wenn du mir vor vier Wochen erzählt hättest, was in den letzten vier Wochen passiert ist, hätte ich dir nicht geglaubt, dass du von unserem Leben sprichst. Von wessen Leben auch immer, aber bestimmt nicht von unserem: Nie nicht.“
Wir sehen uns an und müssen beide grinsen. Wir lassen das noch einmal vor unserem geistigen Auge ablaufen, was alles so passiert ist. Und was wir gemacht haben. Da sind schon ein paar recht wilde Sachen dabei gewesen.
Um am Ende verknacken die mich noch, weil ich auf dem Friedhof ein paar Blumen geklaut habe.“
„So was haben wir doch schon seit zwanzig Jahren oder so nicht mehr gemacht, da werden die jetzt nicht mehr mit um die Ecke kommen, auch wenn die dich irgendwie auf dem Kieker zu haben scheinen.“
„Ein Fleuraub für Luz kann so lange noch nicht her sein.“
Ich gucke ihn leicht debil an. Er verdreht die Augen und hebt die Hände Richtung Decke oder auch Himmel. Wer auch immer im Universum dafür zuständig ist, möge Hirn vom Himmel werfen. Und sie oder er möge gut zielen. Und sie oder er möge dann auch genau treffen. Und zwar den Typen ihm direkt gegenüber. Dort scheint es wirklich ernsthaften Bedarf zu geben.
Pete schaut auf die Uhr. Wir werden langsam ungeduldig. Stefanie haben wir gestern gebeten, Pete zu kontaktieren, wenn Heike Kaiser oder Martin Beier beim Seelmann auftauchen. Und jetzt passiert nichts. Ist die Sache doch nicht zu Ende? Haben wir irgendwas übersehen? Wir warten weiter. Was bleibt.
Petes Handy klingelt. Er guckt auf das Display, aber er muss nichts sagen. Seine Miene spricht schon Bände. Es ist Stefanie. Endlich. Und kaum hat er die grüne Taste gedruckt, rattert sie schon los wie ein Maschinengewehr. Laut und schnell. Unseren Ohren verschwinden in einem imaginären Schützengraben.
„Tut mir leid, Leute. Ich kann mich erst jetzt melden, früher ging es nicht. Die Kaiser ist vorhin in unser Büro gekommen und dann war auch fast sofort richtig Getöse. Der Seelmann ist direkt aus seiner Kaschemme geschossen, dann haben sie sich quasi direkt vor meinem Schreibtisch duelliert. Ich habe schon fast damit gerechnet, dass die sich noch prügeln, so hoch ging das her.“
Eine kurze Pause. Sie muss zumindest ein wenig frische Luft holen. Wirklich nur eine sehr kurze Pause. So kurz, dass die Ohren diese kaum wahrnehmen.
„Als die Kaiser ihm dann klar gemacht hat, dass sie und ihr Halbbruder raus wären und der Pachtvertrag nicht gekündigt wird, ist der Seelmann erst richtig ausgetickt. Ich weiß gar nicht, worüber die sich bis dahin eigentlich gestritten haben, aber jetzt, beim Gewerkschaftshaus, ging die Post dann noch doller ab.“
Eine weitere kurze Pause. Sie muss noch ein wenig frische Luft holen. Wirklich nur eine sehr kurze Pause. So kurz, dass die Ohren diese kaum wahrnehmen.
„Dann hat der Seelmann seine Kohle zurück gefordert. Aber die Kaiser hat gesagt, er habe keine Belege und ohne Belege keine Kohle. Er könne sie mal und das auch kreuzweise. Seelmann hat dann noch mehr getobt, aber das hat ihr nichts weiter gemacht. Das ist eben unter der Hand gelaufen und da hat er sich wohl verkalkuliert. Sein Pech. Dann ist die Kaiser abgerauscht. Das ganze Projekt mit dem Gewerkschaftshaus ist damit gestorben. Das ist tot. Mausetot.“
Stille. Die Ohren wagen sich vorsichtig aus dem Schützengraben. Offensichtlich ist das verbale Dauerfeuer vorbei. Pete und ich schauen uns fragend an.
„Und was ist jetzt? Was macht er?
Wir hören Schritte. Stefanie scheint durch das Büro zu gehen, dann lacht sie.
„Der Seelmann läuft da draußen im Regen auf und ab und wartet auf seine Olle.“
Auch Stefanie nennt die Olle vom Seelmann Olle. Die ist in der Rolle der Ollen wirklich ausgesprochen gut, weil alle unabhängig voneinander immer sofort Olle zu ihr sagen. Ehe ich fragen kann, warum der da im Regen rumrennt und auf sie wartet, bekomme ich auch schon Antwort auf meine noch nicht einmal zu Ende gedachte, geschweige denn ausgesprochene Frage.
„Der hat ja gerade keinen Lappen mehr. Vor drei oder vier Wochen hat der einen krassen Auftritt bei der Sparkasse gehabt und ist dann wutentbrannt und mit Vollgas in eine Polizeikontrolle geknallt. Und was getrunken hatte er mal wieder auch. Da haben die ihm erst Blut und dann den Lappen abgenommen.“
An einen Teil seines Auftritts kann ich mich erinnern, als wäre ich dabei gewesen, was aber wahrscheinlich daran liegt, dass ich tatsächlich dabei gewesen bin. Mein Mitleid hält sich in Grenzen. In ganz engen Grenzen.
„Im „Mercy Seat“ ist aus gegebenem Anlass heute ab halb acht große Party. Du bist herzlich eingeladen.“
„Danke, danke, aber ich glaube nicht, dass das was für mich ist. Ich bin ja eher so eine Schlagertante. Aber ich denke nachher noch drüber nach..“
Sie ist eine Frau von Ehre.
Der Kreis schließt sich.
Pete guckt mich an. Ich gucke ihn an. In beiden Gesichtern ein großes Fragezeichen. War es das jetzt? Wir gucken uns weiter an.
„Waller, das war es, oder? Alles ist gut.“
Ich nicke. Ja, alles ist gut. Glauben wir zumindest.
Der Kreis ist richtig schön rund. So wie es sich für einen guten Kreis gehört.
Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es Zeit ist zum Rathaus zu fahren. Die „Große Runde“ steht gleich an. Als ich aufstehen will, packt mich Pete am Arm.
„Wissen die anderen, das Eve wieder da ist?“
„Snake, Betty, Luz und ich. Und ich glaube nicht, dass einer von denen den andern schon davon erzählt hat.“
„Ich schreibe ihr jetzt, dass heute Abend Party ist. Dann ist sie halt Überraschungsgast. Und wenn sie nicht kommt, können wir immer noch davon erzählen.“
So sei es.

Der Bus hält nicht weit vom Rathaus. In meinem Portemonnaie herrscht Ebbe und ich habe noch Zeit bis die „Große Runde“ losgeht, also mache ich noch einen Abstecher zur Hauptstelle der Sparkasse. Genau hier habe ich vor knapp vier Wochen den Aufstand vom Seelmann miterleben dürfen oder müssen. Ganz wie man will. Alles eine Frage der Perspektive.
Mir geht durch den Kopf, dass Stefanie gesagt hat, dass er vorhin wieder ganz dolle getobt hat und auf seine Olle gewartet hat, damit die ihn irgendwo hinfährt. Wo auch immer er hin will, ich habe ein wenig Mitleid mit den Menschen, die es dort mit ihm zu haben werden.
Als ich mir gerade die Frage stellen will, wem er denn auf die Nerven gehen möchte, habe ich auch schon die Antwort. Ein Stück vom Eingang entfernt steht die Luxuskarre von ihm und seine Olle sitzt drin. Sie hat sich wieder sehr seltsam aufgetakelt und segelt wohl in sehr nervösen Gewässern. In einer Tour trommelt sie mit den Fingern auf dem Lenkrad. Um den Seelenfrieden der beiden scheint es gerade bestenfalls bedingt gut zu stehen.
Als ich nur noch ein paar Schritte von der Tür weg bin, wird es plötzlich laut. Das hat jetzt aber rein gar nichts mit mir zu tun. Fast gleichzeitig kommen die Sheriffs und ein Rettungswagen mit Blaulicht und Sirene angebraust und dann mit quietschenden Reifen zu stehen. Die Autotüren fliegen auf und die Besatzungen stürmen in die Sparkasse. Ich gleich hinterher. Aber nicht stürmend sondern mit gemäßigtem Schritt. Ich will für die ja nicht deren Job erledigen, ich brauche nur dringend ein paar Penunsen. Und mich interessiert natürlich auch ein wenig, was hier denn wohl los ist. Ein Gefühl sagt mir, dass Seelmann im Gebäude ist und die alle wegen ihm angerückt sind. Aber das ist nur so ein ganz vages Gefühl. Muss auch nicht stimmen. Vielleicht ist er auch nur hier irgendwo Brötchen holen.
Aber dieses vage Gefühl bestätigt sich schon kurz nachdem ich dem Geldautomaten ein paar Scheine abgeluchst habe. Es geht mit Geschrei los und die Stimme vom Seelmann kann ich heraus hören. Und dann gibt es auch was zu sehen.
Die beiden Sheriffs haben dem Seelmann wirklich Handschellen anlegen müssen und zerren ihn jetzt an den Armen Richtung Ausgang. Es sind viele Leute hier. Monatsanfang eben. Und alle bleiben stehen und gucken interessiert. Seelmann dreht sich immer wieder um und beschimpft lauthals irgendwelche Banker.
Durch die Glasfront kann ich nach draußen gucken. Und wer draußen ist, kann umgekehrt natürlich in die Halle gucken. Und das macht gerade die Olle vom Seelmann. Ihr Gesichtsausdruck friert erst ein und verändert sich dann ein wenig Richtung leichter Panik. Die Finger stellen das Trommeln ein und schweben unbeweglich in der Luft.
Wenige Augenblicke später kommen auch die Sanis zurück ins Bild. Sie sind in Begleitung eines Bankers, der ihnen aber offensichtlich nicht den Ausgang zeigen will. Der Typ blutet ganz ordentlich aus Mund und Nase. Sein weißes Hemd hat reichlich rote Flecken. Ich bezweifele, dass das nur mit Waschmittel wieder raus geht. Da wird selbst der Weiße Riese kapitulieren. Sieht mehr nach einem Fall für die Fleckenschere aus. Da hat der Seelmann ihm wohl richtig eine verpasst. Deswegen auch die Sheriffs.
Der Kreis schließt sich.
Die Sheriffs besteigen mit ihrem Gefangenen ihre Schleuder und sausen los. Die Sanis besteigen mit ihrem Verwundeten ihre Schleuder und sausen los. Die Olle sitzt schon in ihrer Schleuder und saust los. Den Sheriffs hinterher. Mit sorgenvoller Miene. Ich vermute, Luz hat gerade eine Kundin verloren.
Der Kreis ist richtig schön rund. So wie es sich für einen guten Kreis gehört.

Da ich gerne bei meiner ersten Rückkehr ins Rathaus nach meinem letzten Besuch beim OB möglichst wenig Aufsehen erregen will, betrete ich den Bau durch einen Seiteneingang und wandere zum großen Besprechungssaal. Unterwegs motiviert das postmoderne Abbild eines schwarzen Männekens auf einer weißen Tür meine Blase um sofortige Entleerung zu bitten.
Diese Bitte kann ich ihr nicht abschlagen und ich betrete das Klo, um dasselbige mit einer Stange Wasser zu tun. In der Tür zum eigentlichen Bedürfnisraum bleibe ich stehen. Carsten Schmitz steht vor einem der Becken, hat aber noch nicht wahrgenommen, dass er nicht mehr alleine ist. Entweder ist er total fasziniert von dem, was er da gerade tut, oder diese Aufgabe benötigt seine kompletten geistigen Kapazitäten. Ich tendiere eher zur zweiten Variante.
„Schmeiß weg, was du in der Hand hältst.“
Meine Stimme donnert durch den Raum. Er schmeißt zwar nicht weg, aber er lässt zumindest los. Kein schöner Anblick. Die Reinigungsfachkräfte werden auch nicht erfreut sein.
Im Moment ist er mit der Situation ein klein wenig überfordert. Er versucht, die Kontrolle über alle Teile seiner unteren Körperhälfte wieder zubekommen und gleichzeitig auch herauszufinden, wer da rumbrüllt. Das Multitasking funktioniert eher rudimentär. Dazu hat er auch das falsche Geschlecht, das ist im Moment sogar ganz offensichtlich. Dann sieht er endlich mich. Ich lehne cool und locker mit verschränkten Armen im Türrahmen und grinse breit. Vermutlich gefällt mir die ganze Situation irgendwie deutlich besser als ihm.
Er grinst nicht sondern guckt reichlich entsetzt. Dann versucht er etwas zu sagen, jedoch passiert irgendwie nicht viel. Sein Mund öffnet sich zwar, aber das war es auch schon. Sprache ist gerade nicht. Bei mir schon.
„Schmitz, das mit den Sheriffs hättest du nicht tun sollen. Du bist ein Riesenarschloch. Und jetzt verpiss dich! Ohne Händewaschen!“
Hinter einer der geschlossen Türen der Orte für das große Geschäft wird applaudiert. Offenkundig vertrete ich keine Einzelmeinung. Der Schmitz hat Tränen in den Augen, als er sich an mir vorbei windet. Ist wohl nicht unbedingt sein Tag. Richtig viel Mitleid kann ich nicht empfinden.
Ich erledige das, weshalb ich hier reingekommen bin. Dann werfe ich noch eine Blick auf die Tür, hinter der geklatscht worden ist, aber sie wird noch nicht geöffnet. Der Sympathisant bleibt anonym. Also Händewaschen und auf zur „Großen Runde“.

Die Tür zum großen Besprechungssaal steht weit offen und lacht mich quasi an. Als wäre sie nur für mich überhaupt da und auch offen, also trete ich ein. Hier bin ich. Waller. Waller Krawallek. Live und in Farbe. Also live und in Schwarz. Alle Augen auf mich. Und sie starren mich an. Bisher wussten sie gar nichts mit mir anzufangen und jetzt eher noch weniger. Ich will das hier auch nicht. Aber es bleibt mir ja nichts. So unbedingt freiwillig und gerne bin ich nicht hier.
Mein Blick wandert durch en Raum und zu DreiElf. Er lächelt mir zu, leider sind beide Stühle neben ihm besetzt. Aber sofort steht neben ihm einer auf und murmelt irgendwas, was sich irgendwie so anhört, als würde er sagen, dass er gerne für mich den Platz neben meinem Freund räumt. Dabei sieht er aber gar nicht so aus, als täte er das gerne. Ich halte ihn aber trotzdem nicht auf, sondern setze mich auf den jetzt freien Stuhl. Der somit schon kein freier Stuhl mehr ist.
„Warst du schon mit Nick beim Ordnungsamt?“
Er ist noch genauso aufgeregt wie am Freitag, als er die Sache mit den zurückgespielten Dateien anspricht. Inzwischen hat er mich auch angesteckt und ich bin auch total neugierig.
„Nein, aber wir sind gleich verabredet und gehen dahin. Heute Abend ist große Party im „Mercy Seat“. Du bist dazu herzlich eingeladen.“
„Vielen Dank, aber ich glaube nicht, dass das was für so einen alten Mann wie mich ist. Aber ich denke drüber nach.“
Der OB betritt den Saal und geht zum Kopfende. Dort ist sein Platz. Wie es sich für den Platzhirsch gehört. Er hat aber schon mal besser ausgesehen als heute. Er setzt sich hin und guckt in die Runde. Sein Blick bleibt bei mir hängen und ich gucke zurück. Kurz habe ich den Eindruck, er hätte mir zugezwinkert. Er nimmt seine Tagesordnung und legt los.
Die Runde der Meister. Der Meister der Stadtverwaltung. Alle Wichtigen und viele von denen, die sich zumindest für einen der Wichtigen halten. Und ich. Weil ich erst nicht richtig aufgepasst und im Anschluss noch irgendwie Pech gehabt habe.
Aus guter alter Tradition höre ich nicht zu. Jetzt gucke ich in die Runde und ich bleibe bei Herbert Stupski hängen. Nur dank des Intranets der Verwaltung weiß ich, wie er überhaupt aussieht . Ich mustere den unscheinbaren Typen ganz offen. Bisher ist der mir hier nie aufgefallen, aber wird schon immer dabei gewesen sein. Dass ich ihn anstarre, ist ihm total unangenehm. Ich genieße das eine Weile, bis ich ein wenig gelangweilt davon bin.
Also weiter. Jetzt nehme ich die Tuse vom OB ins Visier. Die fängt sofort an, sich unter dem Blick zu winden. Ich kann ihre Abneigung fast körperlich spüren. Eigentlich ist sie die Einzige, die dem OB hier wirklich zuhört. Aber wohl nur, weil sie ihr nichts anderes bleibt. Sie muss ja das Protokoll schreiben. Seit ich sie aber im Visier habe, hört sie nicht mehr zu. Sie nimmt nur noch mich wahr. Das Protokoll wird eine Lücke haben.
Eher zufällig lande ich dann beim Kämmerer, aber der merkt das erst gar nicht. Der beobachtet den OB. Wie ein Bussard die Maus. Hungrig. Siegessicher. Er sieht sich selbst schon da vorne. Als Meister der Meister. Als Obermeister. Dann merkt er, dass ich ihn mustere. Er guckt zurück. Mir gefällt die Art nicht, aber ich bin auch nur kurz für ihn interessant. Das Objekt seiner Begierde sitzt woanders.
Der OB hat es heute sehr eilig mit dieser Veranstaltung. Er fasst sich so kurz, wie er sich bisher noch nie gefasst hat und auch nie vorgehabt hat sich zu fassen. Nicht nur bei einem Punkt der Tagesordnung. Bei allen Punkten. Vom ersten bis zum letzten.
Das hat ein bisschen was mit mir zu tun. Ich habe ihn vorhin auf dem roten Telefon der Verwaltung angerufen. Eine Nummer die nur die wirklich Wichtigen und Mächtigen in der Stadt haben. Und ich. Und ich habe ihm gesagt, dass ich ihn zehn Minuten nach dem Palaver wieder in dem Hinterhof treffen will, in dem wir uns beim letzten Mal unterhalten haben. Allerdings reisen wir getrennt an. Nicht wie beim ersten Mal.
Das hat aber auch ein wenig mit ihm zu tun. Er weiß nicht, was ich von ihm will und das macht ihn bestimmt etwas unruhig. Außerdem hat er heute noch einen wichtigen Termin, das hat Pete über seine Quelle bei den Vorzimmermädels herausgefunden. Und weil er nicht weiß, wie lange das mit mir dauern wird und weil der seinen Termin danach unbedingt halten will, macht er jetzt mal zügig. Damit erfreut er bestimmt nicht nur mich.
Der Kreis schließt sich.
Heute hat sich unser Amtsleiter gemeldet. Sein Feuer brennt wieder. Ab Januar ist er wieder im Einsatz. Dann sitzt er wieder in dieser Runde in diesem Saal. Dann bin ich raus. Endlich. Das hier ist überhaupt nichts für ich. So gar nicht.
Der Kreis ist richtig schön rund. So wie es sich für einen guten Kreis gehört.

An eine Mauer gelehnt warte ich im Hinterhof auf den OB. Und da ist er auch schon. Super pünktlich. Genau zehn Minuten nach Ende des Palavers. Wir haben beide nicht viel Zeit und auch nicht so richtig Lust, also gleich in medias res.
„Ich will wissen, warum Sie in dem Puff waren. Worum ging es da?“
„Wie damals schon gesagt, es ging um nichts, was auch nur im Ansatz mit Ihnen oder dem Gewerkschaftshaus zu tun hat. Es ging um etwas vollkommen anderes. Und wie ich gehört habe, haben Sie ihr Ziel ja auch bereits erreicht.“
Er ist gut informiert, aber wenn nicht er, wer dann. Gehört zur Arbeitsplatzbeschreibung. Jetzt sieht er mich an. Ich ihn im Gegenzug auch. Ich habe überhaupt keine Lust jetzt irgendein Drohgebilde mit den Bildern aufzubauen, aber wenn es sein muss, werde ich das trotzdem tun. Eigentlich will ich das einfach nur wissen, weil ich es wissen will. Weil es der letzte offene Punkt ist. Und offenkundig ist meine nonverbale Botschaft angekommen.
„Okay. Was bleibt mir.“
Genau. Was bleibt ihm. Eigentlich nichts. Zumindest, wenn er nicht allzu viel mal eben auf die Schnelle verspielen will.
„Ich war da, weil ich klären wollte, ob es möglich ist, jemanden so was wie eine Falle zu stellen. Um ihn zu kompromittieren. Sie wissen schon, was ich meine. Und irgendwas mit Sex oder Drogen ist da immer gut. Und wo kann man da besser was versuchen als im Rotlichtmilieu.“
Er guckt mich an und ich nicke ihm aufmunternd zu. Weiter im Text bitte.
„Da arbeitet jemand, der vorher bei uns im Ordnungsamt war. Die haben den abgeworben. Wahrscheinlich deutlich bessere Bezahlung, aber bei ungewöhnlichen Arbeitszeiten. Viel Nachtzulage. Den kenne ich aus seiner Zeit bei uns. Und er hat für mich den Termin mit seinem Chef gemacht.“
Er guckt mich an. Ich nicke ihm wieder aufmunternd zu. Weiter im Text bitte.
„Es geht um den Kämmerer. Der will meinen Job. Um jeden Preis. Der war bestimmt auch ganz schnell bei Ihnen, nachdem er Sie bei mir im Büro getroffen hat. Und er hat versucht, Sie mit irgendwas zu ködern.“
Den letzten Satz hätte er auch als Frage formulieren können, hat er aber nicht. Er kennt den Kämmerer. Er weiß, wie der tickt. Das ist Politik. Das ist nichts für mich. Ich nicke jetzt vielsagend und verdrehe ein wenig die Augen. Ja, er war da. Ja, hat er.
Er schaut mich fragend an. Ich hebe abwehrend die Hände. Er versteht sofort. Ich werde ihn hier bestimmt nicht aufhalten. Das sollen die beiden untereinander klären, da mische ich mich nicht ein. Mir geht etwas durch den Kopf, dass er genau im gleichen Moment in Worte fasst.
„Ja, Herr Krawallek. Für jemanden wie sie, der irgendwie seinen Weg geht und sich nicht unterordnet, ist es vielleicht besser, wenn an der Spitze der Stadt ein Arschloch steht, gegen das Sie was in der Hand haben, als wenn da einfach nur ein Arschloch steht.“
Jetzt lacht er, während ich doch eher sprachlos bin. Mit der Aussage hat er mich doch kalt erwischt. So was habe ich von ihm nicht erwartet.
Der Kreis schließt sich.
Jetzt sind wir durch, nur ein kleiner Punkt ist noch offen. Wahrscheinlich unwichtig, aber noch offen. Ich krame mein Handy raus. Der OB guckt irgendwo zwischen überrascht und entsetzt, aber ich schüttele den Kopf und winke sofort ab. Er braucht sich keine Sorgen zu machen. Um ihn geht es nicht mehr, er ist raus. Ich zeige ihm das Bild von dem Typ, er ganz zum Schluss den Puff verlassen hat. Er wirft einen schnellen Blick auf das Display.
„Walter Michel. Der Mann, der vorher beim Ordnungsamt gearbeitet hat.“
Der Kreis ist richtig schön rund. So wie es sich für einen guten Kreis gehört.
Der OB sieht aber so aus, als will er noch was sagen. Er zögert kurz, aber leider nicht so lange, dass ich einen Abgang machen Kann.
„Herr Krawallek. Wir kennen uns ja schon lange. Länger als die Zeit, die Sie bei der Stadt sind. Wir kennen uns ja schon aus der Schule.“
Da sagt er mir nichts, was ich nicht schon weiß.
„Und ich habe Sie auch damals schon gemocht. Weil Sie auch zu der Zeit schon so waren, wie so heute noch sind.“
Jetzt sagt er mir etwas, was ich bis gerade noch gewusst habe. Wird das sein Coming Out? Und eine Liebeserklärung an mich? Ich bin glücklich vergeben. Luz ist eine absolut tolle Frau.
„Den Namen Andreas Kopsch werden Sie mit Sicherheit nicht vergessen haben.“
Die Alarmglocken läuten. Aber volles Programm. Ein Höllenlärm. Natürlich erinnere ich mich an den Namen Andreas Kopsch. Und das ist ganz dünnes Eis. Nicht für ihn. Für mich. Innerlich bin ich mächtig aufgewühlt, nach außen bleibe ich total cool. Das kann ich gut. Richtig gut. Es gibt nicht viel, was ich besser kann. Aber vorerst schweige ich eisern. Weil das besser ist. Zweifelsfrei. Erst will ich hören, was er dazu zu sagen hat.
„Andreas Kopsch war damals und ist heute immer noch ein absolutes Arschloch. Der geht gar nicht. Und der hat damals diese abscheulichen Schmierereien an der Wand neben dem Eingang gemacht. Das wissen Sie. Das weiß ich. Das wissen alle.“
Ich weiß, dass ich das weiß. Bis gerade habe ich nicht gewusst, dass er das auch weiß. Und dass das scheinbar alle wissen. Ich sage aber weiterhin nichts.
„Aber wir konnten damals nichts machen. Wir konnten ihn nicht von der Schule schmeißen. Wir konnten in gar nicht bestrafen. Weil es keinen Beweis gab. Niemand hat etwas gesehen oder niemand hat sich getraut etwas zu sagen. Uns waren die Hände gebunden. Wir wollten. Und wie wir wollten. Aber wir konnten nicht.“
Noch immer habe ich keine Ahnung, worauf er hinaus will. Irgendetwas folgt noch. Irgendetwas, was ich wahrscheinlich nicht hören möchte. Irgendetwas, was ich mit Sicherheit nicht hören möchte. Ich hülle mich weiter in Schweigen und bin total cool. Aber nur nach außen.
„Ja, und dann war da ja ein paar Tage später die Sache mit dem Auto von dem Burschen: Mit rotem Lack übergossen und dann in Flammen aufgegangen. Ein anständiger Feuerwehreinsatz. Viel Blaulicht. Ein Mordsgestank. Und die Straße sah aus. Und auch da wieder. Keiner hat was gesehen. Niemand hat etwas gesagt. Niemand wurde bestraft.“
Er ist immer noch nicht am Ende der Geschichte. Das Finale furioso fehlt noch, aber es wird kommen, da bin ich mir aber so was von sicher. Ich habe aber immer noch keine Ahnung, was seine Botschaft sein wird, aber ich denke nicht, dass ich mit dem Schlimmsten rechnen muss.
„Dass keiner was gesehen hat, stimmt dann aber doch nicht. Wir hatten noch Lehrer-AG und ich war auch in der Gasse neben der Sporthalle.“
Inzwischen gucke ich so cool, dass mir dabei das Blut in den Adern zu frieren beginnt. Ansonsten ändere ich jetzt meine Grundtaktik und fange augenblicklich an mit dem Schlimmsten zu rechnen. Und das sicherlich nicht zu Unrecht.
„Drei junge Männer waren in der Gasse. Aus einem Kanister haben sie den Lack auf dem Auto verteilt. Wahrscheinlich sollte das auch alles sein. Dass der Wind einem die Zigarettenkippe aus dem Mund reißt und die dann die Farbe in Brand setzt, war wohl nicht geplant. Ich weiß aber nicht ob sie von Ihnen, Pete oder TomTom gekommen ist.“
Er guckt mich an wie ein Zauberer, der gleich ein Kaninchen aus dem Hut ziehen wird.
„Der Kanister war weiß mit einem roten Totenkopf drauf.“
Kein Kaninchen, sondern seine eindeutige Botschaft. Er spekuliert nicht, was gewesen sein könnte, er weiß es. Weil er es tatsächlich gesehen hat. Der Kanister war weiß. Und ein roter Totenkopf war drauf.
Jetzt schweigt er, ich aber auch immer noch. Durch einige vorsichtige Bewegungsübungen der Zunge versuche ich herauszufinden, ob mir inzwischen das Blut in den Adern total gefroren und der komplette Mechanismus dadurch lahmgelegt ist. Da geht aber noch was, also müsste auch sprechen gehen. Allerdings weiß ich gerade spontan nicht, was ich dazu jetzt sagen soll. Das ist etwa dreißig Jahre her und mit dem Thema bin ich eigentlich schon lange durch. Das hat sich jetzt aber schlagartig ganz deutlich geändert.
„Warum haben Sie nichts gesagt?“
Wirklich absolut nicht originell, aber originell ist gerade nicht. Er sieht mich einige Sekunden lang an, bevor die Antwort kommt.
„Es war mit Sicherheit nicht richtig, was Sie gemacht haben. Allerdings war es ja wohl eher als eine Art Denkzettel geplant, aber dann ist die Sache schief gegangen. Glaube ich zumindest. Und wenn es doch mehr war, will ich es jetzt auch gar nicht mehr wissen.“
Er macht eine kurze Pause, geht in sich und nickt dann.
„Der Typ hatte eine Strafe verdient. Und hat sie dann auch bekommen. Wir konnten nicht, aber Sie drei haben gehandelt. Damit haben Sie sich bei mir Respekt erworben.“
Er macht noch eine kurze Pause, geht in sich und nickt dann erneut.
„Ich habe da noch nie mit jemandem drüber geredet. Eigentlich habe ich auch nicht vorgehabt, je mit Ihnen darüber zu reden.“
Der OB hat jetzt wohl gesagt, was er sagen wollte. Auch wenn er eigentlich wohl nicht alles davon hätte sagen wollen. In meinem Kopf schießen die Gedanken hin und her. Ich bin froh, dass die sich nicht frontal treffen, sonst könnte der Kopf explodieren. Oder eher implodieren. Wegen dem momentan dort herrschenden Vakuum. Ich wage gar nicht ernsthaft darüber nachzudenken, wie mein Leben denn wohl gelaufen wäre, wenn er nicht geschwiegen hätte. Mit Abitur wäre dann wohl nichts gewesen und meine Akademikerkarriere hätte es auch nie gegeben. Wobei diese auch so keinerlei Spuren an der Universität oder in der Wissenschaft hinterlassen hat. Dafür aber im Nachtleben. Und da sogar reichlich.
Alles scheint jetzt aber wirklich gesagt, eigentlich sogar eher noch ein bisschen mehr als nur alles. Abgang Waller.
„Herr Krawallek?“
Alles scheint gesagt, eigentlich sogar eher noch ein bisschen mehr. Was will er denn jetzt noch? Wenn ich einfach weitergehe, werde ich es nie erfahren. Also drehe ich mich zu ihm um und sehe ihn mehr oder weniger interessiert an.
„Wissen Sie was ich nicht verstehe?“
„Finnisch?“
Er zögert. Aber nur kurz. Zwei Mal fällt er auf die gleiche Sache nicht herein. Offenkundig habe ich ihn unterschätzt. Das darf mir nicht noch einmal passieren.
„Ja, richtig. Mit den ganzen Äs komme ich gar nicht klar. Aber eigentlich geht es mir darum, dass ich mich frage, warum Sie und ihre Freunde das alles gemacht haben. Ging es nur um diese Kneipe? Da hätte man doch auch an anderer Stelle weitermachen können.“
„Es geht nicht einfach nur um diese Kneipe. Ganz und gar nicht. Es geht um mehr. Viel mehr. Es geht um ...“
Bevor ich die Suche nach den richtigen Worten, die sich als schwieriger als erwartet darstellt, obwohl ich doch genau weiß, wie die Botschaft lauten soll, erfolgreich beenden kann, winkt er schon ab.
„Reicht schon. Ich habe verstanden. Wenn es mehr Leute wie Sie und Ihre Freunde gäbe, wäre die Welt bestimmt besser. Vielleicht dafür aber langweiliger. Oder ein Scherbenhaufen. Wir wissen es nicht.“
Und wahrscheinlich werden wir es auch nie erfahren.
Reichlich Stoff zum Nachdenken. Und dabei habe ich ihn noch nicht einmal mehr gefragt, warum er nichts unternommen hat, nachdem mich der Schmitz damals angeschissen hat.
Es hat wahrlich schon so absolut gereicht.

Aber das mit dem Nachdenken wird auf später verschoben, denn kaum bin ich um die Ecke, sehe ich auch schon Nick, der zum Rathaus stapft. Er schaut glücklich und zufrieden aus der schwarzen Wäsche. Dazu hat er aber auch allen Grund. Er sieht mich, wartet kurz und dann setzten wir den Weg gemeinsam fort. Dieses Mal betrete ich das Gebäude durch den Haupteingang. Wir latschen in den Südflügel. Da residiert das Amt für öffentlich Ordnung. Und da wollen wir hin. Und da kommen wir dann auch an.
Heute ist offizielle Sprechzeit und den Schildern an den Türen nach stehen dem werten Bürger in drei Büros fachkundige Stadtverwalterinnen oder Stadtverwalter für Anträge und Auskünfte zur Verfügung. Das rote Licht zeigt uns, dass bei Chantal Chmielewski schon jemand sitzt. Die anderen beiden Büros sind gerade frei. Da könnten wir sofort rein.
Wollen wir aber nicht. Wir wollen wieder zu Chantal. Sie gehört in die Kategorie angenehme Mitmenschen. Also lungern wir mehr oder weniger geduldig rum und warten darauf, dass wir dran sind. Dabei begucken wir uns die Leute, die vorüberziehen. Allerdings macht sich bei mir das Gefühl breit, dass zumindest mich die Stadtverwalterinnen und Stadtverwalter mehr begucken als ich sie. Scheinbar bin ich hier immer noch Wer. Wer auch immer. Dann öffnet sich die Tür von Chantals Büro und ein Typ kommt raus. Dafür gehen wir dann rein.
Chantal ist überrascht uns zu sehen, scheint sich aber zu freuen. Insbesondere über Nick.
„Ich fürchte, ihr seid vergebens da. Ich hatte euch doch gesagt, ich melde mich, wenn wieder was geht. Letzten Mittwoch habe ich noch nachgeschaut, aber da war noch immer nichts. Tut mir leid, aber wir können wohl noch nicht weitermachen.“
„Vielleicht solltest du es jetzt noch einmal versuchen. Es könnte sich ja inzwischen was geändert haben.“
Chantal sieht mich forschend an. Ich demonstriere wieder, dass mir beim coolen Gucken kaum einer das Wasser reichen kann. Gleichzeitig merke ich, dass ich Durst bekomme. Es wäre nett, wenn mir jetzt jemand ein Wasser reichen könnte. Besser noch einen Kaffee. Schwarz. Stark.
Sie versucht es also noch einmal. Sie ahnt wohl, dass ich etwas weiß und nicht nur auf blauen Dunst hier bin. Jetzt merke ich auch, dass mir der Sinn nach einer Zigarette steht. So ein bisschen Rauch um nichts, wäre auch schön. Würde gut zum Kaffee passen.
Inzwischen hat Chantal die Tastatur bearbeitet und blickt auf den Monitor. Sie braucht nichts zu sagen. Ihr Gesicht spricht schon Bände. Die Daten sind wieder da und offenbar hat es vorher niemand bemerkt. Sie tippt noch ein wenig und nickt dann zufrieden.
„Sieht gut aus. Du hast ja bereits vor ein paar Jahren einen Antrag gestellt. Biergarten. Toiletten in dem vorhandenen Schuppen. Nutzung auch für Musikveranstaltungen. Ist aber damals abgelehnt worden. Sollen wir den Antrag wiederbeleben oder willst du jetzt was anderes?“
Nick guckt mich an. Ich gucke Nick an. Wie wissen beide, dass er damit damals volles Programm abgeblitzt ist. Nick grinst Chantal an.
„Wir können ja zunächst das alte Teil noch einmal nehmen. Manches liegt ja auch im Ermessen der Sachbearbeiterin.“
Chantal knipst ihm ein Auge zu und studiert dann eine Weile die Dokumente auf dem Bildschirm. Wir wundern uns, dass das so lange dauert. Beim letzten Versuch war das Unterfangen nach einer Minute gescheitert. Und das total. Untergang mit wehenden Fahnen.
Nach einer Weile runzelt sie die Stirn. Das war es dann wohl. Ermessen hin oder her. Sie sucht wohl die passenden Worte, um Nick die unfrohe Botschaft zu überbringen.
„Ermessen hin oder her. Ich verstehe nicht, warum dem Antrag damals nicht stattgegeben wurde. Es spricht absolut nichts dagegen. Es gibt dabei auch keine Probleme mit dem Denkmalschutz. Habt ihr beim letzten Mal irgendwen geärgert?“
Dabei guckt sie dann aber nur mich an. Ich hebe abwehrend die Hände. Zumindest in diesem Fall bin ich mir gar keiner Schuld bewusst. Ähnliche Einschätzungen meinerseits haben sich in der Vergangenheit aber auch schon als fehlerhaft herausgestellt.
„Der einzige Punkt, um den ich mir ernsthaft Sorgen mache, ist, dass da einer von den Nachbarn ernste Probleme bereiten könnte. Ein gewisser Heinz Schulz hat hier schon mehrfach vorgesprochen.“
Nick guckt mich an. Ich gucke zurück. Dann sehen wir beide wieder Chantal und sprechen unbeabsichtigt im Chor.
„Um den machen wir uns keine Sorgen. Wir hatten neulich ein Gespräch in angenehmer Atmosphäre mit ihm.“
Der Kreis schließt sich.
„Ja dann. Wir können das jetzt sofort machen. Dann ist das erledigt. Dauert aber ein wenig.“
Sie gehört in die Kategorie angenehme Mitmenschen.
Nick macht es sich sofort bequem. Die Beute will er nicht mehr vom Haken lassen. Also den Biergarten. Nicht Chantal. Oder doch vielleicht beides? Mich braucht jetzt hier aber kein Mensch mehr, also mache ich dann auch einen Abflug.
Der Kreis ist richtig schön rund. So wie es sich für einen guten Kreis gehört.
Draußen fällt mein Blick auf das Schild, das an der Tür hängt. HEUTE SPRECHZEIT. Ich zucke mit den Schultern und grinse ein bisschen dämonisch. Dann drehe ich das Schild um. BITTE VERSUCHEN SIE ES IN DEN BÜROS A44 ODER A45. Soll hier niemand unnötig stören oder lange warten.

Nach einem frühen Feierabend bin ich erst noch ins „Mercy Seat“. Es gab noch einiges für die große Party vorzubereiten. Nick strahlt wie zwei Uranbrennstäbe. Die Kneipe gerettet und den Biergarten endlich genehmigt bekommen. Zum Thema Chantal verweigert er komplett die Aussage. Er hält nicht viel von staatlichen Institutionen. Aber vielleicht schon etwas von einer der dazugehörigen Mitarbeiterinnen. Ich werde das im Auge behalten. Da kann er sich sicher sein.
Nick ist ein Phänomen. Manchmal wundert man sich doch stark, wie das „Mercy Seat“ unter seiner Regie so lange überleben konnte und nicht nach kurzer Zeit schon vom Erdboden verschwunden ist. Der Organisationsgrad ist manchmal eher gering und ich weiß nicht, wie oft wir noch in der Nacht zur Tanke sind und noch Cola, Fanta, Bier gekauft haben, damit der Laden nicht zur Wüste wird.
Und dann gibt es die andere Seite. Erst gestern zeichnete sich ab, dass heute eine Party steigen könnte. Und gestern war auch noch Sonntag. Und erst vor ein paar Stunden war dann klar, dass es wirklich abgeht. Und das mit mindestens 70 Leuten.
Und dann ist er richtig steil gegangen, bevor wir uns vor dem Rathaus getroffen haben. Und hat sich gekümmert. Und wie. Der Getränkelieferant hat noch schnell geliefert. Inklusive Sekt und allem. Er hat einen Partyservice schwindelig geredet, damit der für heute noch ein kaltes Büffet bringt. Vielleicht hat er aber auch den Preacherman als Parlamentär dorthin geschickt, um seine Argumente zu untermauern. Und er hat noch einen DJ, der damals im „Klaro“ aufgelegt hat, davon überzeugt heute mit seinem ganzen Krempel anzurücken und für uns die Musik zu machen.
Jetzt ist dort alles vorbereitet und ich öffne unsere Wohnungstür. Luz steht im Flur vor dem großen Spiegel. Sie sieht fantastisch aus. Sie sieht immer fantastisch aus. Aber heute besonders extrem fantastisch. Aber wenn nicht heute, wann dann? Ich sehe an mir herunter. Da muss ich aber noch bei, bevor ich mich neben ihr sehen lassen kann. Zumindest ansatzweise. Im Rahmen meiner Möglichkeiten. Ich küsse sie. Weil ich es darf. Weil nur ich es darf.
Mein Blick fällt auf einem amtlich aussehenden Brief auf dem Schuhschrank. Das Wort Polizei ist gut lesbar. Habe ich heute Morgen eine selbsterfüllende Prophezeiung gemacht, als ich zu Pete gesagt habe, dass sie mich womöglich letztendlich ausgerechnet für den Fleuraub einkerkern werden? Das wäre dann aber doch ein sehr bizarres Ende. Und eins, das selbst ich nicht verdient hätte.
Luz sieht mich irritiert an, wahrscheinlich weil ich selbst so irritiert gucke. Ihr Blick folgt dem meinen und landet ebenfalls bei dem Brief. Sie hebt die Achseln.
„Ich weiß auch nicht. Der ist heute gekommen. Da hat Anfang des Monats wohl jemand den Fiat beim Ausparken gerempelt und sich dann erst jetzt bei den Sheriffs gemeldet. Schlechtes Gewissen bekommen oder was auch immer.“
Da bin aber erleichtert, doch kein Knast für den Blumenklau. Sie lächelt und winkt dann ab.
„Ich habe geguckt. An der Karre ist nichts zu sehen, also egal. Soll damals in einer Straße namens „Am alten Flöz“ passiert sein. Habe ich nie gehört. Glaube kaum, dass ich dann da war. Seltsam, oder?.“
„Nein nicht seltsam. In der Straße habe ich den Hobel abgestellt, als der Preacherman und ich beim Seelmann im Büro waren und versucht haben, die Glastür leise einzutreten.“
Wir müssen beide blöd grinsen. Dann mache ich mich ausgehfein, damit ich neben meiner Gefährtin nicht allzu negativ auffalle.

Da wir im „Mercy Seat“ quasi zum Inventar gehören und das Inventar natürlich da sein muss, wenn die Party losgeht, sind wir zeitig dort und belagern unsere Stehtische. Alle von uns sind da. Betty, Snake, Claudia, der Captain, Siouxsie, Zeus, Pete, TomTom, der Preacherman, Kati, Nick, Luz, ich.
Und dann geht es los. Der DJ eröffnet mit „Bela Lugosi’s Dead“ von Bauhaus. Clever, da hat er gleich mal zehn Minuten Zeit in Ruhe ein Bier zu trinken. Nick nimmt erst mal den Platz am Eingang ein, um die Leute zu begrüßen und ihnen gleich einen Sekt in die Hand zu drücken. So was hat es hier noch nie gegen, aber einmal ist immer das erste Mal. Und wenn nicht heute, wann dann? Er hat sofort viel zu tun. Die Massen strömen zeitig. Überall großes Hallo.
Eumel und die anderen von den „Dead Drivers“ treffen ein und werden von Nick freudig hereingebeten. Der DJ hat gerade „Do They Owe Us A Living“ von Crass aufgelegt. Sehr symbolisch, aber absoluter Zufall. Die Band kommt zu uns rüber und wir begrüßen uns. Die Gläser bimmeln.
Eumel tippt mich an und blickt demonstrativ misstrauisch in Richtung DJ. Ich mach eine abwehrende Handbewegung und schüttle den Kopf. Er versteht. Keine Absprache. Reiner Zufall halt. Die Mädels und Jungs verkrümeln sich in ihre Stammecke.
Stefanie betritt das „Mercy Seat“ und wird von Nick begeistert in Empfang genommen. Es läuft gerade „Moscow Idaho“ von The Cassandra Compplex. Ganz schön hartes Zeug für so eine Schlagertante. Sie wirft einen schüchternen Blick Richtung DJ. Wir haben nicht gewusst, ob sie kommt oder nicht. Wir freuen uns, dass sie da ist. Sie gesellt sich zu uns. Die Gläser bimmeln zur Begrüßung.
DreiElf betritt das „Mercy Seat“ und wird von Nick begeistert in Empfang genommen. Es läuft gerade „Never Understand“ von The Jesus And Mary Chain. Ganz schon schrilles Zeug für so einen Progrocker. Er wirft einen vorwurfvollen Blick in Richtung DJ. Wir haben nicht gewusst, ob er kommt oder nicht. Wir freuen uns, dass er da ist. Er gesellt sich zu uns. Die Gläser bimmeln zur Begrüßung.
Der Watchman betritt das „Mercy Seat“ und wird von Nick begeistert in Empfang genommen. Es läuft gerade „Atmosphere“ von Joy Division. Ganz schon weiches Zeug für einen so harten Kerl. Er wirft keinen Blick in Richtung DJ. Wir haben nicht gewusst, ob er kommt oder nicht. Wir freuen uns dass er da ist. Er gesellt sich zu uns. Die Gläser bimmeln zu Begrüßung.
Der Kreis schließt sich.
Jetzt sind wirklich alle da. Alle, die in den letzten Wochen dazu beigetragen haben, dass heute diese Party steigt. Altnernativ hätte es sonst womöglich stattdessen bald eine R.I.P.-Party gegeben.
Der Kreis ist richtig schön rund. So wie es sich für einen guten Kreis gehört.
Aber zumindest Pete und ich wissen, dass eigentlich noch nicht wirklich alle da sind. Auch wenn es sonst niemand ahnt, aber eine fehlt eigentlich noch. Eve. Unauffällig sehe ich zu Pete rüber, aber der zuckt nur mit den Schultern. Er weiß auch nicht, was mit ihr ist. Das macht ihn unruhig und er ist noch nicht von der ansonsten euphorischen Stimmung infiziert.
Aus den Augenwinkeln nehme ich war, wie Nick die Eingangstür plötzlich von innen schließt und auf mich zusteuert. Eine dezente Ahnung, wer da gerade draußen vor plötzlich verschlossenen Türen steht, habe ich schon, aber das lasse ich mir erst mal gar nicht anmerken. Er drängt mich so unauffällig von unseren Tischen weg, dass alle sofort neugierig zu uns rüber sehen.
„Draußen vor der Tür steht Eve.“
Ich werfe ihm einen Blick mit der Botschaft, ich wisse gar nicht, was er von mir wolle, zu, bevor ich dann auch verbal aktiv werde.
„Ja und? Steht sie nicht auf der Gästeliste oder wo ist das Problem?“
Jetzt schaut er mich vollkommen verständnislos an. Ich demonstriere im Gegenzug mal wieder, dass ich unglaublich unbeeindruckt gucken kann.
„Waller. Da steht nicht irgendeine Eve. Da steht die Eve. Unsere Eve. Petes Eve.“
„Eine andere Eve kenne ich auch nicht. Ich kenne nur die eine Eve. Unsere Eve. Petes Eve.“
Da merkt er, dass ich nicht überrascht wirke, weil ich nicht überrascht bin. Dann verdreht er die Augen zur Decke und schielt danach zu Pete rüber. Ich nicke Nick beruhigend zu. Kopfschüttelnd geht er zurück zur Tür.
Eve betritt das „Mercy Seat“ und bleibt nach zwei, drei Schritten stehen. Bei uns herrscht plötzlich große Aufregung. Zumindest bei denen, die Eve kennen und bis gerade nicht gewusst haben, dass sie wieder hier ist. Für die, die sie nicht kennen, ist einfach nur eine gutaussehende Frau hereingekommen. Pete geht nach kurzem Zögern zu ihr und holt sie zu uns an die Tische. Die Gläser bimmeln zu Begrüßung.
Der Kreis schließt sich.
Luz und ich sitzen irgendwann auf dem kleinen Treppchen zum Podest in der Ecke und gucken zu den anderen rüber. Sie stupst mich an. Wir sehen, wie Eve nach Petes Hand greift. Oder wir sehen wie Pete nach Eves Hand greift. Das können wir nicht so ganz genau erkennen. Aber wir sehen, dass sie dann beide nicht los lassen. Das können wir aber ganz genau erkennen.
Ich küsse meine Gefährtin. Weil ich es darf. Weil nur ich es darf.
„Weißt du was ich nicht versehe?“
„Baskisch?“
„Ja, aber das weißt du doch. Ist auch schwer zu erlernen.“
Bevor ich weiterreden kann, schlingt sie ihre Arme um meinen Hals und küsst mich. Nicht nur eben kurz, sondern so richtig. Offenkundig hat sie im Moment wenig Interesse an tiefschürfender Kommunikation über die Dinge, die ich nicht verstehe. Innerhalb von Sekundenbruchteilen habe ich vergessen, was ich vorher ja auch schon nicht verstanden habe. Kann also so wichtig nicht gewesen sein. Wird sich finden. Morgen. Oder irgendwann. Wir werden sehen.
Der Kreis ist richtig schön rund. So wie es sich für einen guten Kreis gehört.
Es ist eine rauschende Ballnacht. Viele tanzen auch. Sogar der Preacherman. Zu „Alice“ von The Sisters Of Mercy. Er sieht dabei aber etwas hölzern aus. Ich tanze nicht.

Natürlich nur wegen meinem schlimmen Knie.

***
Am Freitag geht es weiter.

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Donnerstag, 2. März 2017
28 Skids “The Saints Are Coming”
Sonntag

Es wird schon langsam dunkel. Noch eine halbe Sunde bis es vollkommen finster ist. Der gestrige Abend war für alle hart, wir haben es ganz schön krachen lassen. Aber die Aufregung hat uns doch ziemlich früh aus dem Bett getrieben. Dann haben wir den Tag totgeschlagen, bis es endlich Zeit war zu gehen.
Luz und ich haben Nick und Kati abgeholt. Sehr zeitig, jetzt sind wir die Ersten am Treffpunkt, der an einer Straßenecke etwas mehr als hundert Meter von der Hütte der beiden Erben entfernt liegt. Spannung liegt in der Luft. Wir sind unruhig. Keiner kann richtig still stehen. Duell am O. K. Doppelhaus-Corral. Nur ohne Waffen. Nur mit Worten. Hoffentlich.
Wir brauchen nicht lange zu warten, dann sind auch schon Siouxsie und Zeus da. Und nur wenige Augenblicke auch Snake und Betty zusammen mit TomTom. Wie aus dem Nichts erschienen steht dann auch der Preacherman neben uns. Der Captain und Claudia haben Pete unterwegs irgendwo eingesammelt. Alle da, keiner fehlt. So wie es sein muss.
Pete sieht noch blasser aus als gestern. Hätte ich mir gar nicht vorstellen können, ist aber so. Wenn er noch mehr Farbe einbüßt, können wir bestimmt durch ihn hindurchgucken. Er sieht gleichzeitig aber noch nach etwas anderem aus und ich habe auch eine Ahnung nach was. Aber ich will es nicht nur vermuten, sondern von ihm hören. Deshalb separiere ich ihn ganz unauffällig von den anderen, indem ich heftig an seinem Arm zerre.
„Waller, ist gut.“
Dann guckt er mich an, zögert aber noch einen Augenblick, ehe er weiterspricht.
„Luz hat Recht gehabt. Eve ist heute Mittag zu mir gekommen und hat mir all das erzählt, was sie auch bei Snake gesagt hat. Woher hat sie gewusst, das sie kommen wird?“
„Denk einfach kurz nach. Luz. Eve. Häng noch ein R dran und spricht es dann laut aus. Dann weißt du, mit wem die beiden im Bunde stehen.“
Dabei gucke ich dermaßen ernst und gleichzeitig ein bisschen wahnsinnig, so dass Pete in seinem leicht übermüdeten Zustand nicht sofort merkt, dass ich ihn auf die Schüppe nehme. Er sieht mich an, als hätte ich nicht alle Latten auf dem Zaun. Vielleicht auch so, als wenn die Latten vollkommen abhanden gekommen wären oder selbst von einem Zaun an sich gar nicht gesprochen werden kann. Dann grinst er endlich. Ihm fehlt eindeutig Schlaf.
„Blödmann. Wie auch immer. Sie war da und hat das alles erzählt. Und sie hat gesagt, dass sie es damit auch hinter sich hat, die ganze Geschichte zu erzählen. Ursprünglich hat sie gedacht, sie müsse drei Mal, aber zwei Mal hat ja dann gereicht.“
„Wer ist denn da in Ungnade gefallen?“
„Keiner, aber du warst ja zufällig bei Snake. Da hat sie euch beide in einem Rutsch erledigen können.“
Auch wenn ich so spontan keine Ahnung gehabt habe, wer es noch hätte sein können, mich selbst habe ich gar nicht auf der Liste gehabt. Ich sehe Pete an und warte. Pete guckt zurück und wartet auch. Aber nicht lange.
„Ich habe gesagt, dass ich nachdenken muss und sie dann vielleicht anrufe.“
Ich sehe ihn weiter an und warte. Er guckt zurück, und wartet auch. Aber wieder nicht lange.
„Ich habe inzwischen nachgedacht.“
Ich sehe ihn weiter an und warte. Er guckt zurück, und wartet auch. Aber wieder nicht lange.
„Ich werde sie anrufen.“
Ich sehe ihn weiter an und warte. Er guckt zurück, und wartet auch. Aber wieder nicht lange.
„Nachher, wenn ich wieder zuhause bin.“
Wir gehen die paar Schritte zu den anderen zurück. Luz schaut zu mir rüber, ich morse sie an und sie nickt erst kurz und lächelt dann zufrieden.
Ansonsten herrscht ein unruhiges Palaver. Die Aufregung und Vorfreude ist groß. Es schwingt aber auch ein bisschen Angst mit, dass doch noch im letzten Augenblick irgendetwas passiert, womit wir nicht rechnen. Worauf wir nicht vorbereitet sind. Was wir übersehen haben. Was uns einen Strich durch die Rechung macht.
Es muss jetzt losgehen. Nick verteilt noch schnell eine Runde kleine Fläschchen Ramazotti.
Die Fläschchen bimmeln.
Der Preacherman ist die Vorhut, er geht zuerst. Erstaunlich, wie geschmeidig, lautlos und schnell sich der große Mann bewegen kann. Wir sehen ihm dabei zu, wie er plötzlich im Vorgraten vor dem Haus von Martin Beier verschwindet und sich hinter einem Busch versteckt. Wie er mit dem Busch eine Einheit wird. Dazu muss er aber den Hut abnehmen. Wir können ihn eigentlich nur noch sehen, weil wir wissen, dass er da sein muss.
Wir gucken uns noch einmal gegenseitig an. Jetzt ist es so weit, es geht los. Nick und Kati vorneweg. Dahinter der ganz Rest. Der Captain. Claudia. Snake. Betty. Siouxsie. Zeus. TomTom. Pete. Luz. Ich. Halt alle. Außer dem Preacherman, der hockt ja ohne Hut im Vorgarten und ist eins mit dem Universum und eins mit einem Busch. Es dauert nicht lange, bis unsere seltsame Prozession ihr Ziel erreicht hat. Für hundert Meter braucht eigentlich niemand lange. Wir also auch nicht. Dann verteilen wir uns gleichmäßig vor den beiden Haushälften. Auf beiden Seiten brennt Licht. Sie sind da. Mit Sicherheit warten sie nicht auf uns. Das ist uns allerdings reichlich egal.
Nick und Luz gehen Richtung Haustür. Auch heute sollen sie wieder mit den beiden reden. Das haben sie nach der Abfuhr vor einigen Tagen verdient. Nick schiebt Luz nach vorne.
„Beim letzen Mal musstest du auch reden. Heute ist es deshalb natürlich auch an dir, den beiden die frohe Botschaft zu verkünden.“
Luz strahlt Nick an. Genau darauf hat sie gehofft, hätte aber nicht zu fragen gewagt. Sie macht die letzten beiden Schritte und ist an der Tür. Nick steht mit verschränkten Armen und unbewegtem Gesicht hinter ihr.
Sie legt den Finger auf den Klingelknopf und drückt drauf. Schon hier draußen ist das ein Höllenlärm. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Drei Sekunden. Vier Sekunden. Fünf Sekunden. Dann nimmt sie den Finger wieder runter. Ruhe. Drinnen passiert nichts.
Wir schauen uns etwas irritiert an. Der Typ ist noch sturer als wir gedacht haben. Stur können wir aber auch.
Luz legt den Finger erneut auf den Klingelknopf und druckt drauf. Der grelle Ton klirrt wieder in unseren Gehörgängen. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Drei Sekunden. Vier Sekunden. Fünf Sekunden. Dann nimmt sie den Finger wieder runter. Ruhe. Drinnen geht das Licht im Flur an und ein Schatten erscheint. Geht doch. Luz und Nick gehen zwei Schritte zurück.
Martin Beier reißt die Tür auf. Damit, dass Luz und Nick schon wieder da sind, hat er nicht gerechnet. Auch nicht mit dem Menschenauflauf auf dem Bürgersteig. Er glotzt verärgert in die Runde.
„Soll ich euch einen guten Rat geben?“
Luz guckt naiv interessiert. So wie ein kleines Mädchen den großen, schlauen Onkel anguckt, der, bevor er endlich die Schokolade rausrückt, noch ein paar wichtige Dinge verkünden will. Dabei hat sie auch schon ihr spezielles Lächeln eingeschaltet. Das Lächeln, das Granit schmelzen kann. Heute aber in der bösen Variante. Mir schwant nicht Gutes.
In ihren Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut.
„Haut einfach ab. Ihr alle. Sofort!“
Dabei gestikuliert er in fast alle Richtungen. Aber nur in fast alle. Nicht jedoch in Richtung des Preacherman. Entweder hat der den noch nicht wahrgenommen oder er ist der einzige, der willkommen ist. Ansonsten wird der gutgemeinte Rat von uns offenkundig als Unrat eingestuft, den keiner setzte sich auch nur im Ansatz in Bewegung. Luz sieht ihn an und sagt ziemlich laut nur ein Wort.
„NEIN!“
„Was?“
„Welchen Teil des Wortes NEIN hast du nicht verstanden?“
Beier springt auf die Provokation auch sofort an und macht zwei Schritte auf sie zu. Darauf hat der Preacherman gewartet. Er löst seine innige Verbindung mit dem Busch, setzt blitzschnell seinen Hut wieder auf und steht dann, ohne dass das geringste Geräusch zu hören ist, in der Eingangstür. Allerdings bleibt von dem Durchgang nicht mehr viel übrig, wenn der Preacherman davor steht.
„Hast du sie nicht verstanden? Sie hat doch laut und deutlich gesprochen.“
Beier zuckt zusammen, als er den Preacherman hinter sich hört, dreht sich um und zuckt wieder zusammen, als er den Preacherman dann auch sieht. Das alles passiert für ihn zu schnell. Er wird überrollt. Man kann quasi auf seiner Glatze sehen, wie darunter gearbeitet wird.
In diesem Augenblick geht die Haustür der anderen Hälfte auf und Heike Kaiser kommt raus. Die können wir noch nicht brauchen, aber der ganze Radau hat sie angelockt. Das haben wir so nicht bedacht, das hätten wir jedoch bedenken sollen, aber jetzt müssen wir improvisieren.
„Was ist denn das für ein Krach. Was wollt ihr denn schon wieder? Ich dachte, wir hätten das geklärt.“
Aber auf der anderen Seite muss noch irgendwas passieren, das ich von meiner Position aus nicht sehen kann. Etwas, das aber Pete und Snake sehen könnten, die beide ganz ungläubig gucken.
„Na Bruder, alles klar bei dir?“
„Ja sicher, schön , dass du da bist.“
Der Preacherman hat das offenkundig bedacht und den Watchman dazu geholt. Der jetzt wohl so in der anderen Tür steht, wie der Preacherman in dieser. Der wohl schon vor uns da war und im anderen Vorgarten eins mit einem anderen Busch oder mit was auch immer geworden ist. Und wir haben ihn nicht gesehen, da wir nicht wussten, dass er da ist. Wir konnten den Preacherman vorhin ja auch nur sehen, weil wir wussten dass er da sein muss. Wir wissen fast nichts über diese beiden Brüder. Und sie stecken voller Überraschungen.
Durch das unerwartete Auftauchen des Watchman ist die Lage jetzt für alle etwas verworren. Ich schiebe mich Richtung Pete, bis ich neben ihm stehe und auch die andere Tür sehen kann. Und auch den Watchman, der mir kurz zuzwinkert.
Einen Augenblick herrscht dann Ruhe und Luz will diese Gelegenheit nutzen, aber dann kommt aus Petes Jackentasche ein einzelnes Bimmeln seines Handys. Dann wieder Ruhe. Als Luz wieder ansetzten will, kommt wieder das Geräusch aus seiner Jackentasche. Das wiederholt sich dann noch einmal.
Luz ist wenig amüsiert. Pete zieht das Handy aus der Tasche und guckt drauf. Seine Stirn kräuselt sich. Dann hält er das Display so, dass auch ich drauf gucken kann.
Zieh die Plane weg.
Über dem Zaun zwischen den beiden Eingängen hängt eine Plane. Auf beiden Seiten bis zum Boden. Die ist mir bis jetzt gar nicht aufgefallen, aber ich bin ziemlich sicher, dass die eigentlich nicht dahin gehört.
Aber von wem kommen die drei SMS? Wer auch immer die schickt, muss uns sehen. Das hat wohl auch Pete im gleichen Moment so gecheckt, denn wir beginnen gleichzeitig unmotiviert in alle Richtung zu gucken. Luz schaut stirnrunzelnd in unsere Richtung. Wahrscheinlich sehen wir ziemlich blöde dabei aus.
Dann greift Pete mit beiden Händen nach der Plane und zieht sie mit einem Ruck weg. Und da ist er. Der VOD-Schriftzug. Auf beiden Seiten des Zauns so gut, wie nur irgendwie möglich auf die Latten gesprüht. In Schwarz. In Schabloneschrift. Wie es sich gehört. Eine saubere Arbeit, die auch von allen Anwesenden mit gebührenden Schweigen zur Kenntnis genommen wird.
„Nick möchte sich sein neues Haus gerne auch mal von innen ansehen.“
Luz hat die allgemeine Verwirrung genutzt, um endlich weiterzukommen. Ihre Augen funkeln. Sie spricht laut und deutlich, damit sie auch jeder versteht. Wirklich jeder. Allerdings scheint das bei den beiden Halbgeschwistern trotzdem nicht richtig angekommen zu sein. Zumindest gucken die so.
„Ah, ich merke, ich muss deutlicher werden. Ihr versteht mich noch nicht. Oder ihr wollt nicht.“
Luz stellt sich so hin, dass die beiden sie und auch Nick, der wieder mit verschränkten Armen und unbewegtem Gesicht halb hinter ihr steht, gut sehen können. Und sie lächelt wieder. Dieses Lächeln, das Granit schmelzen kann. Und wieder in der bösen Variante.
In ihren Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut.
Und sie spricht zu den beiden. Ganz langsam. Wort für Wort. Beinahe schon Buchstabe für Buchstabe. Inklusive Leerzeichen. So wie man spricht, wenn man dem Gesprächspartner eindeutig mitteilen möchte, dass man sie oder ihn für eine Idiotin oder einen Idioten hält.
„Ihr wollt den Pachtvertrag beenden. Und wie ihr bestimmt sogar besser wisst als wir, fällt eure Hütte hier genau in dem Augenblick an Nick. An Helmut Pozigalla.“
Damit die beiden auch genau wissen, wer dieser unglaublich nette Typ ist, von dem sie redet, zeigt sie quasi mit ihren strahlenden Augen auf ihn.
„Und deshalb wollen wir uns heute schon einmal sein neues Haus angucken. Das versteht ihr doch bestimmt und ist doch auch okay für euch, oder?“
Die beiden kapieren endlich, was läuft. Aber Verständnis haben sie nicht und okay ist für sie schon gar nichts. Quasi synchron drehen sich beide Richtung der eigenen Tür. Dass dort der Preacherman und der Watchman stehen, scheint ihnen kurzfristig entfallen zu sein. Das ändert sich dann aber sofort wieder und quasi synchron drehen sie sich wieder um. Die Kaiser findest sogar ihre Stimme wieder.
„Ja, gut. Wir haben gedacht, das könnte klappen. War ja wohl nichts. Was wollt ihr jetzt noch?“
Eins muss man ihr lassen, sie bleibt ihrer unangenehmen Art auch in Krisensituationen treu. Da knickt sie nicht gleich ein. Da wird nicht plötzlich auf Schönwetter gemacht.
„Ihr geht morgen früh zu Seelmann und sagt ihm, dass es das war. Das ihr raus seid. Einer von euch geht da hin. Persönlich. Nicht per Telefon oder so.“
„Das ist alles?“
„Das ist alles.“
Vom Hauseingang meldet sich zum Abschied noch der Preacherman. Er hat einen drohenden Unterton in der Stimme. Aber was er sagt, ist keine Drohung, das ist ein Versprechen. Eins, das er halten wird. Und nicht nur er. Er verspricht für uns alle.
„Wenn das nicht so läuft, wie wir wollen, kommen wir morgen wieder. Wenn es sein muss auch an jedem verdammten Tag.“
Er unterstreicht seine Worte, indem er zwei der Metallstreben des Zauns zwischen den beiden Eingängen packt und ohne sichtbare Anstrengung verbiegt. Das gilt zwar nicht mir, aber es beeindruckt mich trotzdem. So wie er das gemacht hat, scheint er nicht in Erwägung gezogen zu haben, dass das nicht klappen könnte. Und die Dinger wirken wirklich reichlich stabil.
Aber ich sehe, dass er nicht nur mich beeindruckt hat. Auch bei Kaiser und Beier hinterlässt das einen Eindruck. Einen hoffentlich bleibenden Eindruck. Einen hoffentlich zumindest bis morgen bleibenden Eindruck. Die beiden gucken im Moment jedoch so, als würden sie am nächsten Vormittag zeitig zu Seelmann gehen.
Jetzt scheint alles gesagt. Der Preacherman und der Watchman kommen zu uns rüber und wir rücken in aller Ruhe ab. Eher mit einem Gefühl der Erleichterung als des Triumphs. Jetzt sollte eigentlich nichts mehr schief laufen können. Aber erst wenn die dicke Frau endgültig aufhört zu singen, ist die Oper zu Ende. Und ganz sicher bin ich mir nicht, ob sie nicht gerade nur neu Luft holt.
Pete geht jetzt neben mir.
„Eumel und seine Band waren doch gestern auch im „Mercy Seat“, da müssen sie mitbekommen haben, dass wir heute hier hin wollen. Die Hütte war ja auch eigentlich überfällig für so ein Zeichen, aber woher haben die deine Nummer?“
„Habe ich auch vorhin überlegt. Kann nur von Stefanie kommen, würde ich mal vermuten.“
Da hätte ich aber auch selbst drauf kommen können. Es ist nicht lange her, dass ich dabei war, als sie ihn angerufen und uns über Neues bei Seelmann ins Bild gesetzt hat. Nicht nur Pete muss sich mal wieder richtig ausschlafen.

Luz und ich sind zurück. Draußen war es reichlich kalt und wir machen uns erst mal einen heißen, starken Kaffee. Im CD-Player läuft die „Disintegration“ von The Cure. Schon beim Opener „Plainsong“ frage ich mich eigentlich jedes Mal, warum ich das Ding in den letzten Jahren so selten rauskrame.
Luz hat den Laptop hochgefahren und wir gucken uns den ganz neuen Eintrag im Blog an. Der ist erst vor wenigen Minuten online gestellt worden. Er zeigt uns die Entstehung von dem Kunstwerk, das Pete vorhin quasi enthüllt hat. Hätten wir das vorher gewusst, hätten wir für den Anlass eine Flasche Sekt mitgebracht und drauf angestoßen.
Wir genießen leckeren Kaffee bei schöner Musik und hängen ein wenig unseren Gedanken nach. In den letzten Tagen ist echt viel passiert. Wir kommen mit unserem eigenen Tempo selbst kaum noch mit. Sonst ist unser Leben meist nicht so schnell, im Moment schon.
Es klingelt. Einfach so. Wir haben da überhaupt nicht drum gebeten. Luz sieht nicht so aus, als wenn sie jemanden erwarten würde und ich tue das auch nicht. Trotzdem schlurfe ich mit maximal äußerst geringer Begeisterung zur Tür. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, die Türklingel mit Nichtachtung zu strafen. Es könnte Pete sein, der verzweifelt ist. Es könne Eve sein, die verzweifelt ist. Es könnte sogar der Preacherman sein, der seine Lebensgeschichte erzählen will. Na ja, vielleicht doch eher kein sentimentaler Preacherman.
Der Summer summt, weil ich drauf gedrückt habe. Er hat also keine andere Chance gehabt, als genau das zu tun. Ich stehe in der halboffenen Tür und höre wie unten die Haustür wieder geschlossen wird. Den Geräuschen der Schritte nach müssten da zwei Humanoiden die Treppe hoch stapfen. Dem Klackern nach mindestens ein weibliches Wesen, Es sei denn, einer unserer Freunde trägt jetzt so was wie Pumps. Kann natürlich auch sein. Wäre auch absolut okay. Wir leben im dritten Jahrtausend und wir sind auch schon im zweiten sehr tolerant gewesen.
Und da taucht der Überraschungsbesuch auch schon auf dem Treppenabsatz unter mir auf. Meine bisher maximal äußerst geringe Begeisterung entschwindet vollkommen, als ich meine Eltern da um die Ecke biegen sehe. Meine Mutter vorneweg, mein Vater dahinter. Ich bin beinahe fassungslos, was wollen denn ausgerechnet die, ausgerechnet jetzt, ausgerechnet hier? Trotzdem lasse ich die beiden leicht resigniert herein.
Luz steht in der Küchentür und sieht auch eher nicht so glücklich aus. Sie schaut mich verwundert und gleichzeitig fragend an, aber ich kann auch nur ein bisschen ratlos gestikulieren. Wirklich keine Ahnung, was die hierhin führt. Vor allem meinem Vater habe ich nach unserem letzten, nicht ganz so harmonischen Treffen so schnell nicht erwartet.
Also platzieren wir die beiden am Küchentisch und bieten Getränke an. Ehe meine Mutter ihn bremsen kann, äußert mein Vater seinen Wunsch.
„Ich hätte gerne ein Bier, wenn du hast.“
Das sagt er immer, weil er weiß, dass wir eigentlich nie Bier im Haus haben. Nur nach Partys. Aber Party war gerade nicht, wir haben beide im Sommer Geburtstag. Er bereitet schon seinen Spruch vor. Ich gucke in sein süffisantes Lächeln.
Meiner Mutter sehe ich deutlich an, dass es nicht so läuft, wie sie sich das vorgestellt hat. Luz guckt völlig unbeteiligt in der Gegend rum. Nach seinem letzten Auftritt in diesem Theater kann er von ihr keine Unterstützung erwarten. Sie wird mich nicht zurückhalten. Der Erhalt des Friedens oder zumindest des brüchigen Waffenstillstands liegt ganz allein in den Händen meiner Mutter.
Wortlos stehe ich auf und gehe zum Kühlschrank, Es ist noch eine Flasche von den beiden über, die ich mir am Freitag bei Snake für den Heimweg eingesteckt hatte. Zwei Bier in zwanzig Minuten hat vielleicht vor zwanzig Jahren noch funktioniert. Vorgestern habe ich mit Mühe eine Pulle geschafft. Das kommt mir jetzt gelegen. Ich öffne die Flasche und knalle sie vor ihm auf den Tisch. Mich selbst knalle ich wieder auf meinen Stuhl.
Damit habe ich ihn kalt erwischt. Wahrscheinlich will er eigentlich gar kein Bier. Er hat das nur gesagt, damit er danach irgendeinen Spruch absondern kann. Jetzt starrt er enttäuscht die Falsche an.
„Ich hätte gerne ein Glas.“
Meine Mutter zuckt zusammen, sie bekommt die Situation noch nicht in den Griff. Mich bringt er aber bisher nicht aus der Ruhe. Noch nicht. Kann sich aber jeden Augenblick ändern. Ich merke, dass es in mir zu brodeln beginnt. Aber ich bleibe zunächst weiterhin cool.
Wortlos stehe ich wieder auf und gehe zum Schrank. Ich knalle das Glas neben der Flasche auf den Tisch. Mich selbst knalle ich wieder auf meinen Stuhl.
Im Moment fühlt es sich an, wie die Ruhe vor dem Sturm. Man weiß noch nicht woher der Wind weht, aber man spürt, dass er bereits weht. Bis jetzt jedoch nur ganz leicht.
Mein Vater gießt sich ein Bier ein. Schön mit Schaumkrone, setzt das Glas an und nimmt einen Schluck. Er stellt das Glas wieder ab. Ich gucke und gucke gleich noch einmal genauer. Auch Luz muss zwei Mal hinsehen, bis sie es glaubt. Aber es ist wirklich so. Zwischen Nase und Oberlippe bleibt ein etwa drei Zentimeter breites Stück Schaum kleben. Wie ein schmaler Schnäutzer. Wir sehen ihn ganz gebannt an und warten darauf, dass er beginnt, mit fanatischer Stimme eine flammende Rede zu halten. Dann leckt er den Schaum mit der Zunge weg. Schade, keine Rede.
Aus der Hemdtasche ziehe ich den Tabak, drehe mir blitzschnell eine und puste den Rauch durchs Gelände . Mein Vater hasst Zigarettenqualm. Er findet das ganz schrecklich, aber erst, seitdem er es selbst dran geben musste, weil sein Arzt es ihm ganz dolle nahegelegt und meine Mutter im deswegen dann die Hölle richtig heiß gemacht hat.
„Würdest du das bitte lassen. Ich mag das nicht.“
„Wohl eher nicht, ich wohne hier.“
Luz guckt jetzt wieder total unbeteiligt durch den Saal. Es ist an meiner Mutter die Sache in andere Bahnen zu lenken. Sonst ist hier gleich Achterbahn. Aber nicht nur Wilde Maus sondern richtig. Mit Looping und allem. Meine Mutter sieht meinen Vater ernst an. Den Blick kenne ich von früher. Als ich Kind war. Wenn sie so geguckt hat, war Schluss. Mit allem und auch mit lustig. Dann sollte man auf sie hören.
„Wir sind hier, weil du dich entschuldigen willst.“
Mein Vater zuckt zusammen, als sie das ausspricht. Ich zucke zusammen, als sie das ausspricht. Luz zuckt nicht zusammen, in ihren Adern fließ nicht unser Blut. In ihren Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut. Da bedarf es mehr, damit sie zusammenzuckt.
Mein Vater sieht erst zu meiner Mutter und dann zu mir. Ich gucke gönnerhaft zurück. So wie ein Lehrer guckt, der dem Schüler eine absolut unbeantwortbare Frage gestellt hat, um ihm eine ‚Chance zu geben, doch noch eine Vier auf dem Zeugnis zu bekommen. Meine Vater windet sich erst und überwindet sich dann.
„Ja. Also. Beim letzten Mal, das war so nicht richtig von mir.“
Ich warte noch, aber das war es auch schon. Nicht viel, aber doch mehr, als ich je erwartet hätte. Jetzt sieht er mich so an, als würde er damit rechnen, dass auch ich mich für irgendwas entschuldige. Das mache ich aber nicht. Ich glaube auch nicht, dass ich das muss. Zumindest beim letzten Mal habe ich nur auf ihn reagiert. Aber irgendwas muss ich jetzt sagen, deshalb sage ich auch irgendwas. Was bleibt mir.
„Na dann. Okay.“
Danach werden noch ein paar belanglose Sätze getauscht, bis meine Mutter zum Aufbruch drängt. Sie will mit ihm hier weg, bevor doch noch wieder alles ruiniert wird. Von meinem Vater oder auch von mir. Wir können so was beide. Sogar aus dem Stehgreif. Und das jederzeit.
Als wir die Tür hinter den beiden wieder geschlossen haben, schaue ich meiner Gefährten in die Augen. Dann küsse ich sie. Weil ich es darf. Weil nur ich es darf.

Die Welt ist verrückt.

***
Am Montag geht es weiter.

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Montag, 27. Februar 2017
27 The Rose Of Avalanche “Everythings OK”
Samstag

Direkt nach dem Aufstehen habe ich versucht Pete anzurufen. Wir müssen uns unbedingt treffen, ich muss ihm von gestern erzählen. Eve ist definitiv wieder in der Stadt und sie wird bleiben. Daher werden die Karten jetzt neu gemischt. Das heißt aber nicht, dass man danach ein besseres Blatt hat und im Skat noch zwei Bauern liegen. Kann passieren, muss aber nicht.
Aber ich habe ihn nicht erreicht. Nicht übers Festnetz und das Handy war komplett aus. Der gewünschte Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar. Gerade eben habe ich es noch einmal versucht, aber das Ergebnis bleibt das gleiche. Kein Pete zu erreichen.
Luz und ich sitzen im Cafe und haben uns gerade zwei Schlemmerfrühstück bestellt. Bisher bin ich noch nicht dazu gekommen, ihr so richtig von gestern zu erzählen. Als ich gerade anfangen wollte, hatten wir eine Katastrophe. Luz hat Hunger bekommen, aber der Toast war schimmelig. Und eine hungrige Luz ist keine zuhörende Luz. Eine hungrige Luz ist ein Raubtier, das Nahrung will. Nicht irgendwann. Sofort.
Also ab in die Stadt und in unser Stammcafe. Dort begrüßte und verabschiedete uns ein Schild mit der Aufschrift „Geschlossene Gesellschaft“. Die eigentliche Alternative zu dem Laden liegt genau am anderen Ende der Fußgängerzone. Das war für das Raubtier zu weit. Es wollte seine Nahrung jetzt und nicht gleich. So sind wir in dem Cafe gelandet, in dem wir schon immer nur ausgesprochen selten landen. Dabei ist das Frühstück hier schon immer hervorragend gewesen.
Wir haben gerade unseren Kaffee bekommen, als Luz etwas verwundert an mir vorbei schaut. Sie hat natürlich den Platz gewählt, von dem aus sie die Tür im Auge hat. Man will ja wissen, wer kommt oder geht. Deshalb sitze ich leider mit dem Rücken zur Tür und sehe nicht, wer kommt oder geht. Offenkundig hat irgendwer in meinem Rücken ihr Interesse geweckt.
Die Neugier siegt schnell und ich schaue mir selbst über die Schulter Richtung Tür. Und ich sehe Eve, die dort steht und sich dabei total unwohl fühlt. Sie wäre viel lieber nicht hier, sondern sonst wo. Wo auch immer, aber nicht hier. Aber sie steht da wie angewurzelt und schaut mich mit ihren grünen Augen an. Es dauert etwas, bis jemand spricht. Aber es ist nicht Eve und ich bin es auch nicht. Die sprechende Stimme klingt aber kühler als ich sie kenne. Und ich kenne sie inzwischen sehr gut. Ich höre sie seit fünf Jahren eigentlich jeden Tag.
„Ich will ja nicht unbedingt stören, aber ist noch alles in Ordnung mit euch beiden?“
Die kühle Stimme bricht das Eis.
„Das war nie ein Laden, in dem wir uns rumgetrieben haben. Deshalb bin ich jetzt hier. Besser ich gehe aber sofort wieder nach hause.“
„Warte bitte.“
Sie wartet also und erwartet auch, dass ich weiter rede. Das erwartet sie zu recht und deshalb tu ich das auch .Aber noch nicht unbedingt sofort, aber bestimmt gleich. Ich schaue von Eve zu Luz. Sie liest die Frage in meinen Gesicht und schreibt die Antwort in ihres. Und dort seht dann, dass das alles ganz alleine meine Entscheidung ist. Und noch einiges mehr. Das hilft mir nicht weiter. Und es ist nicht das, was ich erwartet habe. Dann schaue ich wieder von Luz zu Eve. Und spreche dann sogar wieder.
„Stimmt. War nicht unser Laden, ist auch heute immer noch nicht unser Laden. Wir sind nur zufällig hier. Magst du dich zu uns setzen?“
Jetzt schaut sie von mir zu Luz, kann aber in deren Gesicht das Gleiche lesen wie ich vorhin.
In diesem Augenblick schießt mir durch den Kopf, dass Luz keine Ahnung hat, wer vor ihr steht. Ganz Gentleman mache ich die beiden wortreich und ausführlich, wenn auch etwas verspätet, miteinander bekannt.
„Luz. Eve.“
Mir geht durch den Kopf, wie sich anhören würde, wann man am Ende noch R ergänzt.
Luz wirft mir für meine Nachlässigkeit die Etikette betreffend quasi im vorbeigucken einen nicht nur leicht tadelnden Blick zu. Sie blinkt Richtung Eve jetzt nicht mehr ein „Mach was du für richtig hältst, aber trage die Konsequenzen, auch wenn sie wahrscheinlich fürchterlich für dich sein werden. In meinen Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut und du bist dabei, dieses zu reizen.“ Die neue Botschaft ist viel kürzer und lautet „Ich würde mich freuen, dich kennen zu lernen.“ Eve erkennt die geänderte Aufschrift sofort.
„Danke, mache ich gerne.“
Und dann sitzt sie da. Und wir sitzen auch da. Und das Trio schweigt sich ein weinig an. Der Zustand hält aber nicht lange an, dann quatschen die beiden fröhlich miteinander. So, als würden sie sich schon ewig plus minus drei Tage und nicht erst seit gerade kennen. Mich überrascht das nicht, mir war klar, dass die beiden auf der selben Welle reiten, dazu kenne ich alle zwei gut genug. Im Prinzip bin ich überflüssig, aber das stört mich nicht. Ich nutze die Zeit, um ein wenig nachzudenken, auch wenn nicht viel dabei rum kommt. Mit einem Ohr höre ich aber zu, sicher ist sicher. Wir genießen unser Frühstück.
Eve haut dann ab. Sie hat noch viel mit ihrem Umzug zu tun. Luz kritzelt ein paar Zahlen auf einen Zettel.
„Das ist meine Nummer. Wenn die dir bekannt vorkommt, liegt das daran, dass das eigentlich seine ist.“
Dabei wedelt sie mit den Händen in meine Richtung. Eve wirft einen Blick auf den Zettel, nimmt ihn aber nicht in die Hand.
„Ich kenne die Nummer. Auch immer noch auswendig. Die ist bei mir gespeichert. Alle Nummern sind noch hier oben gespeichert, ich habe keine vergessen.“
Beim letzten Satz tippt sie sich mit dem Finger an die Schläfe. Dann ist sie weg. Luz und ich sind wieder allein. Sie grinst mich an.
„Eine tolle Frau. Wir werden viel Spaß haben. Sie wird Schwung in den Laden bringen.“
Vor meinem geistigen Ohr lasse ich das Gespräch der beiden noch einmal im Schnelldurchlauf ablaufen. Dann schaue ich sie fragend an.
„Ich kann dir gerade nicht folgen. Habe ich was verpasst?“
„Warte ab. Du wirst schon sehen.“
Sie erstickt weitere Worte von mir mit einem langen Kuss. Ich füge mich in dieses grauenvolle Schicksal.

Pete sitzt bei uns zuhause auf der Treppe vor der Tür. Und das bei dem Wetter . Es ist ziemlich kalt. Er sieht vollkommen müde und durchgefroren aus. So als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er die ganze Nacht nicht geschlafen hat. Und ich bin sicher, ich werde auch gleich erfahren warum.
Dabei wollte ich doch eigentlich ihm etwas erzählen. Etwas, das bei ihm zu schlaflosen Nächten führen könnte. Ich werde es ihm auf jeden Fall erzählen, weil ich es muss. Er muss das wissen. Damit er vorbereitet ist. Auf etwas, auf das man nicht vorbereitet sein kann. Weil es kommt, wie es kommt. Und dann ist es da. Dann muss man damit irgendwie klar kommen.
Er wirkt erleichtert als er uns auftauchen sieht, wer weiß wie lange er da schon sitzt.
„Warum bist du nicht ans Telefon gegangen? Warum hast du nicht angerufen?“
„Akku leer.“
Wir gehen hoch und ich mache uns Kaffee. Luz will uns alleine lassen, aber Pete winkt sie zurück und gestikuliert vage in meine Richtung.
„Alles was ich diesem Typen da erzähle, kann ich dir auch erzählen. Bleib ruhig hier.“
Sie setzt sich zu ihm an den Tisch. Ich mache noch am Kaffeeautomaten rum und suche dann nach einer passenden CD. Aber passend wozu? Ich weiß ja nicht, was ihn hierher getrieben hat. Aber ich weiß, was ich ihm erzählen muss. Auch wenn ich noch nicht weiß, wie ich es ihm erzählen soll. Dann entscheide ich mich für die „Paint Your Wagon“ von Red Lorry Yellow Lorry. Eine gute Mischung aus Power und Schwermut.
Dann stelle ich die drei heißen Kaffee auf den Tisch und setze mich zu den beiden. Pete legt sofort seine kalten Hände um die Tasse. Er schaut uns an, wir schauen zurück. Er ist noch nicht so weit. Also geben wir ihm die Zeit, die er braucht. Er nimmt sie sich, ehe er dann anfängt.
„Waller, ich habe gestern Eve gesehen. Auf dem Heimweg bin ich bei Snake vorbei gekommen und sie stand an der Straßenecke. Und das war sie, kein Zweifel, auch wenn du es nicht glaubst.“
Und wie ich ihm glaube. Schon alleine aus dem Grund, weil er ja Recht hat. Ich habe sie gestern auch gesehen. Bei Snake. Und vorher schon in der Stadt und gerade im Cafe.
„Müsste dann ja so gegen halb sechs gewesen sein.“
Pete starrt mich an. Er hat bestimmt mit allen möglichen Reaktionen gerechnet, aber nicht mit der. Da er total sprachlos ist, rede ich weiter.
„Deshalb versuche ich dich ja auch schon die ganze Zeit zu erreichen. Ich war gestern bei Snake und gegen halb sechs ist sie da aufgetaucht. Einfach so. Ohne Ankündigung. Es klingelt und sie war dann da. Wie ein Djinn aus der Pulle. Nur ohne Rauch.“
Pete starrt mich weiter an. Er fängt an den Kopf zu schütteln und hört auch erst mal gar nicht mehr damit auf. Ich mache mir ein bisschen Sorgen, dass sich da was lose rappelt. Und wer weiß, was dann womöglich passiert. Er stellt das Kopfschütteln aber doch rechtzeitig ein, ehe es zu folgenschweren Schäden führen kann. Ich bin erleichtert.
Dann erzähle ich ihm von gestern. Ganz ausführlich. Bis ins Detail. Alles, was sie gesagt hat. Und von den Tränen. Von allem halt. Es dauert, bis ich damit fertig bin. Dann sitzen wir schweigend da. Pete beginnt wieder mit dem Kopfschütteln und ich mache mir wieder die Sorgen. Dann setzt er sich ganz aufrecht hin.
„Sie hat nichts über mich gesagt?“
Nein, hat sie nicht. Kein Wort. Kein gutes, kein schlechtes. Keins. Null. Nada. Nothing. Niente.
Aber ich habe gestern erst ihr und dann auch Snake zugehört. Und ich habe es begriffen. Wie sie ist. Wie wir alle sind, waren und nach Möglichkeit immer sein werden.
„Wir reden nicht über Menschen, wir reden mit Menschen. So sind wir. So ist Eve. So ist Luz, so bist du, so bin ich. Deshalb hat sie gestern mit uns geredet. Und deshalb hat sie nicht mit uns über dich geredet.“
Pete starrt mich jetzt wieder an. Er lässt sich das, was ich gesagt habe, ganz genau durch den Kopf gehen. Wort für Wort. Buchstabe für Buchstabe. Leerzeichen für Leerzeichen. Und am Ende stellt er eine Frage. Nicht laut, dass muss er gar nicht, denn Luz und ich wissen auch so, dass er sich jetzt fragt, ob sie denn auch mit ihm reden wird.
Er sieht mich fragend an, aber ehe er ein Wort raus bringt, schüttele ich bereits den Kopf.
Pete brütet vor sich hin. Luz und ich verhalten uns ganz ruhig, wir wollen ihn dabei nicht stören. Er wird was sagen, wenn er wieder was zu sagen hat. Dann guckt er mich an.
„Hast du ihre neue Nummer?“
Habe ich, also nicke ich. Bevor er weitersprechen kann, krame ich schon nach meinem Handy.
„Bist du sicher?“
Er zuckt nur mit den Schultern und verzieht das Gesicht. Natürlich ist er sich nicht sicher. Deshalb antwortet er auch nicht auf meine eigentlich vollkommen überflüssige Frage. Er ist sich aber sicher, dass ich mir sicher bin, dass er sich nicht sicher ist. Aber unter alten Freunden ist das total egal. Ich schicke ihm die Daten. Luz schaut ihn an und sagt ihre ersten Worte seit wir zusammen am Tisch sitzen.
„Ruf sie nicht an. Sie wird zu dir kommen. So wie sie zu Snake gekommen ist. Vielleicht nicht heute, vielleicht auch noch nicht morgen. Aber sehr bald. Vielleicht aber auch schon heute. Vielleicht auch aber auch schon morgen.“
Sie sieht ihn an. Mit diesem Lächeln, mit dem sie Granit schmelzen kann. Nur irgendwie ohne dabei zu lächeln.
„Ruf sie nicht an, versprich mir das!“
Ich gebe Pete nonverbal, aber eindeutig zu verstehen, dass ich keine Ahnung habe, woher Luz das zu wissen glaubt. Aber genauso wortlos gebe ich ihm zu verstehen, dass er Luz’ Intention vertrauen soll. Das tue ich in ähnlichen Fällen auch und ich bin immer gut damit gefahren.
Luz schaut ihn weiter mit diesem Lächeln, das kein Lächeln ist, an. Und der Granit schmilzt.
„Okay, ich rufe sie nicht an.“

Luz und ich sind wieder unterwegs. Es ist bitterkalt, selbst für die Jahreszeit. Nach dem turbulenten Tag hat uns dieses Mal der Hunger auf Currywurst Pommes Mayo auf die Straße getrieben. Wir wollen zu unserem Frittentempel Nummer Eins. Die frische Luft tut uns richtig gut und wir machen deshalb einen kleinen Umweg.
An einem Haus bleibe ich stehen und lese noch einmal die Aufschrift des Schilds neben der Tür. Martina Eisenfuß. Anwältin. Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor, aber ich weiß noch nicht woher. Luz schaut erst mich und dann das Messingschild an.
„Was ist? Warum bleibst du stehen? Ich kenne die, ist eine Kundin. Eigentlich auch ganz nett.“
„Ich glaube, Nick hat den Namen mal erwähnt. Das war wohl in der Sache mit Holger und seinen Erben.“
Wir wollen gerade weiter, als sich die Haustür öffnet. Eine recht aufgemotzte Frau knapp über fünfzig kommt raus. Anwälte arbeiten scheinbar auch am Samstag lange. Sie registriert uns und macht tatsächlich ein erfreutes Gesicht.
„Lucia. Gut, dass ich dich treffe. Dich schickt der Himmel. Wir müssen unbedingt einen Termin machen.“
Lucia. Ich bin irritiert. Es passiert fast nie, dass jemand Luz Lucia nennt, auch wenn das ihr wirklicher Name ist. Die Frau schüttelt ihr die Hand und wendet sich in meine Richtung. Ihre Hand auch. Ich greife zu. Wer weiß, wofür es gut ist.
„Du musst Waller sein. Ich bin Martina. Wollt ihr auf einen Kaffee mit rauf kommen? Dann können wir auch nach einem Termin gucken.“
Luz nickt und wir latschen hinter ihr her. Der Hausflur macht schon ganz schön was her, aber die Büroräume toppen das noch deutlich. Luxuskategorie. Der Kaffeeautomat sieht aus, als gehöre er eher in eine große Bar in Rom.
„Latte Macchiato?“
Wir nicken. Das Teil mach einen Höllenradau, aber kurz danach stehen die Gläser vor uns auf dem Tisch. Wenn das schmeckt, wie es aussieht und riecht, wird es lecker.
Luz und Martina suchen und finden einen Termin in der nächsten Woche und diskutieren jetzt, was denn so gemacht werden soll. Der Kaffee schmeckt toll. Ich bin etwas gelangweilt und blicke mich um. Alls sehr schick, Ich hänge ziellos meinen Gedanken nach. Einfach so. Bis mich Luz Stimme in die Welt zurück holt.
„Du hast doch damals was mit dem Testament von Holger Schäfer zu tun gehabt. Ist schon was her. Kannst du dich daran erinnern?“
Luz hat die Frage geschickt gestellt. Martina schaut erst überrascht wegen des plötzlichen Themenwechselns, fängt dann aber an zu lachen.
„Und ob ich mich daran erinnern kann. Das war schon irgendwie witzig, was sich der Typ da ausgedacht hat. Da waren schräge Klauseln drin, um seinen Erben ein wenig den Spaß zu vermasseln.“
Sie nimmt einen Schluck Kaffee. Wir warten ab. Luz hat ihr ganz spezielles Lächeln eingeschaltet. Wirkt bestimmt auch bei Advokatengranit. Wirkt bei fast jedem Granit.
„Seine beiden Blagen haben sich ja schon immer gehasst und tun das bestimmt heute noch. Das einzige von Wert, was es zu erben gab, war ja das Doppelhaus. Und davon haben beide je eine Hälfte bekommen. Und dann kamen die Klauseln. Wenn einer nicht mehr da wohnt, geht das ganze Haus an den anderen. Wenn einer vermietet, geht das Haus an den anderen. Wenn einer verkauft, geht der Erlös an den anderen. Die beiden sollten da wenig Freude dran haben.“
Wir lachen jetzt alle drei. Holger Schäfer hatte wohl eine bestimmte Art von Humor. Das alles erklärt zumindest die Eigenartigkeiten rund um die Hütte der beiden Halbgeschwister.
„Da war aber noch etwas. Das hatte irgendwas mit dem Vertrag mit dem Gewerkschaftshaus zu tun.“
Sie hat unsere volle Aufmerksamkeit. Und irgendwie sogar noch mehr. Wir hängen an ihren Lippen und warten angespannt auf die nächsten Worte.
„Es gab da noch eine weitere Klausel. Ich komme aber nicht drauf, ich muss nachgucken gehen.“
Weg ist sie. Wir sind allein im Raum und schauen uns fragend an. Schweigen. Es gibt gerade für uns absolut nichts zu sagen. Abwarten und Kaffee trinken.
Martina kommt zurück und blättert in einer Akte.
„Ah, hier. Wenn die den Pachtvertrag für das Gewerkschaftshaus beenden, solange da noch die Kneipe von Helmut Pozigalla drin ist, geht das Doppelhaus an den.
Luz schüttelt den Kopf und beginnt zu kichern. Ich bin nicht sicher, ob ich das richtig gescheckt habe. Deshalb frage ich nach. Ich will es noch einmal hören. Um ganz sicher zu sein.
„Wenn die den Pachtvertrag mit der Stadt beenden, dann geht, die Hütte an Nick?“
Martina schaut mich fragend an.
„An Helmut Pozigalla?“
Jetzt nickt sie.
Jetzt brechen bei mir alle Dämme. Hysterische Heiterkeit.
Als bei uns langsam wieder Ruhe einkehrt, erzählt Luz ihr, dass wir Nick kennen und dass es da ganz leise Gerüchte geben würde, dass die den Vertrag kündigen wollen. Martina schaut uns an.
„Wenn die den Vertrag beenden, kann euer Nick sich quasi als Entschädigung das Doppelhaus nehmen. Er muss nur den Antrag stellen. Was er aber vor heute wohl nicht gemacht hätte, auch wenn die den Vertrag beendet hätten. Aus dem einfachen Grund, dass er davon nichts gewusst hat, denn dieser Nick war nicht bei der Testamentsverlesung, obwohl er eingeladen war. Verschickt werden sollte das Testament nach der Verlesung an niemanden. Auch eine Klausel. Wer sich nicht die Mühe macht, dahin zu gehen, braucht auch nichts erfahren.“
Wenn wir schon in den Genuss einer kostenlosen Rechtsberatung kommen, können wir das auch nutzen. Zumindest ich habe noch Klärungsbedarf.
„Du kennst doch diese Pachtverträge. Wie können die denn überhaupt beendet werden? Könnte die Stadt den auch kündigen?“
Maritina blättert ein wenig in den Papieren, ehe sie antwortet.
„So einfach ist das nicht. Diese Art Vertrag wird ja gemacht, damit beide Seiten für eine lange Zeit Sicherheit haben. Die können im Prinzip nur im gegenseitigen Einvernehmen beendet werden. Einseitig geht das nur, wenn die andere Seite sich zum Beispiel vertragsverletzend verhält.“
Sie wirft noch kurz einen Blick auf eine Seite in der Akte.
„Aber die Klausel im Testament ist sehr sauber. Egal wie und warum der Pachtvertrag beendet wird, wenn es die Kneipe von Nick noch da gibt, bekommt er das Haus. Keine Alternative.“
Wir bedanken uns für alles. Raus in die Kälte. Luz reicht mir ihr Handy, während ich noch meine Taschen vergeblich abklopfe.
„Nimm meins.“
Es klingelt. Abwarten. Lauschen.
„Nein, nicht Luz. Ich bin’s Waller. Wo bist du? Zuhause oder schon im „Mercy Seat“?“
„Im Großmarkt an der Kasse. So in zwanzig Minuten bin ich im in der Kneipe.
„Wir auch. Bis gleich.“
Ich lasse ihn erst gar keine Fragen stellen und beende das Gespräch. Zwanzig Minuten. Das war es dann wohl mit Frittentempel. Essen wird sowieso maßlos überschätzt. Wir marschieren zügig los. Das hilft auch gegen die Kälte. Macht aber auch noch mehr Hunger.

Fast zeitgleich mit Nick treffen wir am „Mercy Seat“ ein und helfen ihm schnell beim Ausladen. Kati ist auch da. Das trifft sich gut. Als alles verstaut ist, bleibt noch eine halbe Stunde, bis der Laden geöffnet wird. Wir setzten uns an die Theke und Nick stellt uns Getränke hin. Die Gläser bimmeln.
„Warum seid ihr beide so aufgeregt, was ist eigentlich los?“
Luz grinst ihn an.
„Warum warst du damals eigentlich nicht bei der Testamentsverlesung vom Holger?“
Nick stutzt. Diese Frage hat er nun wirklich nicht auf dem Schirm gehabt. Er zögert. Rückfrage oder Antwort. Luz nimmt ihn ins Visier. Ich kenne diesen Blick. Der bricht Widerstände. Auch bei ihm. Rückfrage scheidet gerade aus dem Spiel aus.
In ihren Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut.
„Das war eine Scheißzeit. Das „Mercy Seat“ stand auf der Kippe. Ich war fast pleite und dann plötzlich alleinerziehender Vater und was weiß ich noch. Ich hatte so viel um die Ohren und ich glaubte nicht, dass für mich da ernsthaft was zu erben gäbe. Außer der Hütte hatte der doch nichts. Und da war doch klar, dass das Teil die beiden Kinder kriegen würden. Und letztendlich war ich dann auch noch krank. Habe ich da was verpasst?“
Wir antworten nicht sofort. Die Spannung soll ja noch ein klein wenig bestehen bleiben. Nick sieht uns fragend an. Kati steht neben ihm. Beide schauen abwechselnd zwischen Luz und mir hin und her. Sieht ein wenig so aus, als würden sie beim Tennis zuschauen. Ich wende mich an Nick.
„Mich hüngert. Könnte ich ein Tütchen Erdnüsse bekommen?“
Ich zucke zusammen. Luz hat mich getreten.
„Waller, lass den Scheiß.“
Also lasse ich den Scheiß und lausche mit Nick und Kati den Worten von Luz. Sie erzählt von unserem Besuch bei Martina. Kurz, aber umfassend. Als sie fertig ist, herrscht Schweigen. Kati gießt vier Averna ein. Den hat sie gerade in Reichweite.
Die Gläser bimmeln. Leer. Nachfüllen. Bimmeln. Leer.
Nick sieht uns an.
„Das ändert einiges, oder?“
„Eher alles.“
Kati hat die Gläser neu gefüllt. Bimmeln. Leer.
Nick überzeugt zwei seiner Kellnerinnen, dass sie heute unbedingt noch eine Schicht schieben wollen. Draußen wird an der Tür gerüttelt. Wir haben die Zeit vergessen, es ist inzwischen schon nach sieben. Geschäftszeit.
Nick geht zur Tür und kommt mit dem Preacherman zurück.
Wir trommeln alle zusammen. Nick bestellt ein paar Bleche Pizza. Dann schmieden wir einen Plan für morgen. Wir werden die beiden entzückenden Halbgeschwister wieder besuchen.
Aber die Voraussetzungen haben sich geändert. Die sind jetzt besser. Aber nur für uns.

Das Imperium wird zurückschlagen. Mit Schmackes.

***
Am Freitag geht es weiter.

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Donnerstag, 23. Februar 2017
26 The Danse Society “2000 Light Years From Home”
Freitag

Mit einer Tüte in der Hand stehe ich in der Fußgängerzone. Die belgischen Fritten sind total lecker. Siouxsie und DreiElf kommen die Straße entlang, denn die beiden wollten sich unbedingt mit mir treffen. Wir sind nach Feierabend auf dem Weihnachtsmarkt verabredet, weil ich auf keinen Fall im Moment unnötig ins Rathaus will.
Seit meinem Abenteuer letzten Freitag habe ich unsere Zentrale der Macht und manchmal auch der Machtlosigkeit gemieden. Wenn mich am Montag nicht „Blue Monday“ rettet, wird an dem Tag mein erster Auftritt danach dort laufen. Und dann gleich zur „Großen Runde“ am ersten Montag im Monat. Die Vorfreude darauf liegt auf einer Skala von 1 bis 10 eher so im zweistelligen Minusbereich.
Aber das ist jetzt noch Schnee von nächster Woche. Heute ist heute und wir drei begrüßen uns erst mal in aller Ruhe. Die beiden kommen mir ein wenig aufgeregt vor, als hätten sie irgendwas ausgeheckt oder ausgefressen.
DreiElf versucht total cool und lässig zu wirken. Das Grinsen kann er aber kaum unterdrücken.
„Ich habe die Daten vom Gewerkschaftshaus heute wieder im System untergebracht. Das sieht so aus, als wären die nie weg gewesen.“
Mir ist sofort klar, dass das noch nicht das Ende der Botschaft ist. Ich sehe ihn neugierig an. Er versucht weiterhin total cool und lässig zu wirken. Das Grinsen kann er aber immer noch unterdrücken.
„Siouxsie und ich haben die Daten gestern gesichtet und vorbereitet.“
Da werde ich hellhörig und bin inzwischen sehr neugierig. Mir ist noch nicht klar, was das bedeuten soll. Er versucht immer noch total cool und lässig zu wirken. Das Grinsen kann er aber gar nicht mehr unterdrücken.
„Nick kann jetzt seinen Biergarten beantragen. Der Vorgang kann dann auch bearbeitet werden.“
Das irritiert mich jetzt schon. Ich verstehe nicht, worauf er hinaus will.
„Aber das war doch nur ein Vorwand, um da was ins Rollen zu bringen. Auf den Biergarten hat er doch absolut keine Chance. Den hat er bis jetzt nicht bekommen und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Das Teil bleibt ein Traum.“
Jetzt ist mit cool und lässig voll vorbei und er grinst beinahe debil.
„Ich denke, die Lage hat sich geändert. Er wird den schon bekommen.“
Mein Blick wandert von DreiElf zu Siouxsie und dann wieder zurück. Die beiden strahlen wie zwei Honigkuchenpferde über beide Backen.
„Oh Mann, was habt ihr gemacht?“
Aber Siouxsie antwortet nicht auf meine Frage. Und DreiElf schweigt ebenfalls. Beide bleiben absolut stumm. Stattdessen strahlen sie weiter vor sich hin. Ich hoffe nicht, dass Greenpeace hier einen Einsatz startet, weil die von einem Atomunfall ausgehen.
„Dann hoffe ich wenigstens, dass euch keiner auf die Schliche kommt.“
Die beiden schütteln jetzt den Kopf. Aber das hat Tobias Klein auch gedacht und dann hing er doch am Haken. Irgendwie bin ich mir aber doch sicher, dass DreiElf eine größere Nummer ist und sich da sauber abgesichert hat.
Offenkundig wollen die beiden mich im Dunkeln tappen lassen und es soll eine Überraschung geben, wenn Nick seinen Biergarten beantragt. Dann soll es so sein. Das Thema scheint durch, meine Neugier wird nicht befriedigt. Aber mich interessiert, was im Rathaus sonst so im Moment läuft. Also frage ich Siouxsie danach, die beim Flurfunk stets einen guten Empfang hat.
Siouxsie guckt mich an und lächelt.
„Also, mein lieber Waller, du bist hier immer noch der Held. Wenn wir Schergen in der Verwaltung unseren Chef selbst wählen dürften, hättest du den Job sicher. Dein Auftritt, den du da hingelegt hast, ist immer noch Gesprächsthema Nummer eins bei uns.“
Das kann ja was werden, wenn ich da am Montag auflaufe. Hätte nicht gedacht, dass das so lange anhält. Das dritte Jahrtausend habe ich jetzt doch für schnelllebiger gehalten.
„Und dass der Schmitz dich bei den Sheriffs angeschwärzt hat und dass das dann auch noch vollkommen gelogen gewesen ist, hat der ganzen Sache noch mehr Schwung gegeben. Du brauchst auch gar nicht so zu gucken. Nur weil ihr da fast im Wald am Rande der Peripherie rumhängt, spricht sich das trotzdem alles blitzschnell rum.“
Wenn ich gar nicht erst so zu gucken brauche, kann ich mir die Mühe auch sparen und gucke gar nicht erst so.
„Und du hast ja auch in der Vergangenheit bei uns Schergen einen guten Ruf gehabt. Du hast nie irgendwas auf Kosten anderer gemacht und niemanden angeschwärzt oder in die Pfanne gehauen. Wenn, dann bist du der Chefetage auf die Nerven gegangen. Wie gesagt, jetzt bist du der große Held.“
Das muss ich erst mal schlucken und dann auch noch verdauen. Und das ist ein großer Brocken, den muss ich entsprechend vorsichtig schlucken. Sonst werde ich mich daran verschlucken. Über die Verdauung kann ich mir dann später noch Gedanken machen.
Und deine Entourage steigt natürlich auch im Ansehen. Insbesondere Pete und uns beiden hier wird jetzt eine Menge mehr Respekt entgegen gebracht.“
DreiElf guckt sie ganz irritiert an.
„Davon habe ich ja noch gar nichts mitbekommen.“
„Du solltest auch von Zeit mal die Tastatur Tastatur sein lassen, dein Büro verlassen und dich unters gemeine Volk mischen. Dann kriegst du auch mal was mit, von dem, was in den Fluren und Büros läuft.“
Sie grinst ihn noch mal an und wendet sich dann wieder in meine Richtung.
„Pete hat ja immer schon bei den Frauen ab Mitte 30 gut in die Nahrungskette gepasst, ist jetzt aber noch im Wert gestiegen. Mich hat da schon mehr als eine angesprochen, ob ich da nicht für sie vermitteln kann.“
„Ich glaube nicht, dass der noch wirklich auf dem Markt ist.“
Da die beiden von Petes Vergangenheit wenig wissen, kann ich da durchaus was andeuten. Siouxsie wird das auf die Frauen in der Verwaltung beziehen. Sie guckt mich ganz neugierig an.
Jetzt ist es an mir , mich in Schweigen zu hüllen. Und das tue ich auch. Jetzt muss ihre Neugier unbefriedigt bleiben. Eins zu eins. Ein gerechtes Unentschieden.

Wir sitzen im Cafe in der Fußgängerzone. Luz und Betty wollen noch irgendwo Schnäppchen jagen gehen. Weihnachten nähert sich unaufhaltsam mit großen Schritten und wird bald vor der Tür stehen. Wahrscheinlich wird es auch dieses Jahr wieder reingelassen werden. Snake und ich wollen gleich bei ihm ein Regal in der Abstellkammer zusammenbasteln. Betty war vor ein paar Tagen beim Schweden und hat den obligatorischen Bausatz angeschleppt, der wie immer mit nur einem einzigen Imbusschlüssel nach eindeutiger Bauanleitung zusammengedengelt werden muss. Und der wieder einen seltsamen Namen tragen wird. Ansgar, Willibald oder Hildegard. Oder auch Pnenp. TomTom hatte mal einen Liegestuhl namens Erika von denen. Zunächst waren wir dann irritiert, wenn er am Telefon gesagt hat, er liege gerade im Garten auf Erika.
Es ist der gleiche Tisch im gleichen Cafe, an dem ich vor ein paar Tagen gesessen habe, als Eve am Fenster vorbeigegangen ist. Als ich Luz davon erzählt habe, konnte ich als Antwort auf ihre Frage, was denn jetzt passieren sollte, könnte oder womöglich gar müsste, nur resigniert die Arme heben. Keine Ahnung. Und an dem Zustand hat sich bisher nichts geändert.
Plötzlich tritt eine Frau an unseren Tisch, die aus Richtung der Toiletten gekommen ist.
„Ach Lucia! Sie sehen heute aber wieder unglaublich gut aus. Ja, die Gnade der Jugend. Und der entzückende junge Mann neben ihnen ist doch bestimmt ihr Freund.“
Die grelle Stimme hat meine Ohren schwer eingeschüchtert. Wer oder was ist das denn? Eine Frau Mitte fünfzig, die aber extrem vergeblich versucht, zwanzig Jahre jünger zu wirken. Die Klamotten sind lächerlich, die Frisur ist eher gar keine. Und das fällt selbst mir auf, der von so was gar keine Ahnung hat. Nachdem in den Gehörgängen wieder Ruhe eingekehrt ist und der Schmerz nachgelassen hat, erkenne ich sie auch. Frau Seelmann. In voller Schönheit, was aber nur sie selbst so sieht. Diese Ansicht hat sie absolut exklusiv für sich. Für mich hat sie was von einem Verkehrsunfall. Schrecklich, aber man muss hinsehen.
„Schauen Sie, Lucia. Sehen Sie sich meine Nägel an. Wir müssen unbedingt einen Termin machen.“
Luz kann sie dann abwimmeln. Sie möge sie anrufen. Sie habe ihren Terminkalender nicht dabei. Sie könne da jetzt gar nichts zusagen, was sie auch mit Sicherheit einhalten könne.
Ich gucke ihr hinterher. Das ist zwar nicht gut für die Augen, aber was sein muss, muss sein. Wo sie ist, ist vielleicht der alte Seelmann himself auch nicht weit. Den möchte ich gar nicht wirklich hier treffen. Unser Date in seinem Büro hat mir gereicht. Aber Glück gehabt. Sie ist mit so Tanten da, die ihr aus der Distanz betrachtet auch schon ziemlich ähnlich zu sein scheinen.
Snake guckt Luz an.
„Was war das denn für eine Olle? Die geht ja gar nicht.“
Luz bricht in schallendes Gelächter aus. Ich auch. Betty nicht. Snake auch nicht. Er schaut uns zu, wie wir nach Luft japsen, bis Luz wieder sprechen kann.
„Jetzt weißt du, warum ich zu der Ollen vom Seelmann immer nur Olle sage.“

Snake und ich sitzen bei ihm im Wohnzimmer. Wir haben zunächst gehofft, das Regal würde versuchen, sich im Alleingang selbst zu errichten und bräuchte dabei nur kleine Hilfestellungen, aber wir sind enttäuscht worden. Dabei haben wir sogar einen zweiten Imbusschlüssel dazu gelegt. Jetzt suchen wir Motivation und Inspiration. Bei der Suche nach diesen wichtigen Aspekten des Lebens setzten wir auf die Unterstützung von The Essence. Wir lauschen deren fantastischen Debütalbum „Purity”.
Es klingelt. Snake stutzt. Offensichtlich erwartet er gerade niemanden, aber er latscht trotzdem zur Tür. Als er zurückkehrt, ist er total blass. Als hätte der Tod gerade an die Tür geklopft. Hinter ihm betritt Eve den Raum. Vielleicht wäre der Tod die bessere Alternative gewesen. Der grinst zumindest immer recht freundlich. Eve guckt doch eher ernst. Ich werde augenblicklich zum Fluchttier. Ich will weg. Familiendramen sind nichts für mich.
„Ich muss los.“
„Nein, du musst bleiben.“
Die beiden sprechen im Geschwisterchor. Schön synchron. Als hätten sie vorher geübt. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Mein Hintern fällt zurück in den Sessel.
„Ich hole mal drei Bier.“
Snake verschwindet wieder und lässt Eve und mich zurück. Es herrscht völliges Schweigen. Nicht dieses angenehme Schweigen unter Freunden, eher dieses unangenehme Schweigen, wenn keiner weiß, was er sagen soll. Ich will auch gar nichts daran ändern, ich habe eher nichts dazu beigetragen, dass das jetzt so ist, wie es ist. Langsam beginne ich mich zu fragen, wo Snake das Bier holt. Wohl nicht im Keller, so lange, wie er schon weg ist. An der Bude? Direkt bei der Brauerei im Sauerland? Oder ist erst noch nach Bayern Hopfen ernten?
„Hast du mich gesehen, als ich am Café vorbei gekommen bin?“
Eve macht dann doch einen Anfang. Ich sehe sie an. Sie wirkt unsicher, nervös und auch ein bisschen ängstlich. Gar nicht so, wie wir sie kennen, aber die Situation ist auch anders. Nicht nur ein bisschen anders, sondern total. Anders als alles, was es bisher gegeben hat. Ich nicke nur. Alles was ich sage, kann gegen mich verwendet werden. Kopfbewegungen nicht. Die haben vor Gericht keinen Bestand.
„Ich wusste nicht, dass du hier bist, aber ich freue mich echt, dich zu sehen.“
Meine Antwort sind ein paar vage Gesten, die alles und nichts bedeuten. Eher aber nichts. Mehr so ein unmotiviertes Gefuchtel mit beiden Händen. Ich komme mir dabei auch sofort albern vor und stelle das wieder ein.
Snake hat tatsächlich doch noch den Rückweg gefunden. Er öffnet und verteilt die Flaschen. Wir sitzen da und keiner trinkt. Bei uns wird immer erst gebimmelt, das war schon immer so, ist heute so und wird wohl ewig so sein. Aber sind wir hier immer noch wir oder sind nur Snake und ich wir und sie ist sie?
Es liegt Spannung in der Luft. Als ich dann meine Flasche in Bewegung setzte, beobachten die beiden ganz genau jeden Zentimeter des Weges, den sie nimmt. Ich setzte die Flasche nicht an den Hals, sondern strecke sie Richtung Tischmitte. Snake ist sofort dabei. In Eves Augen glitzern Tränen, als auch sie ihre Flasche hebt.
Die Flaschen bimmeln.
Meine ist sofort fast halb leer und dabei noch die, in der am wenigsten Flüssigkeit fehlt. Snake schiebt die „Feeding The Flame“ von Sad Lovers And Giants in den Player. Leicht melancholisch, aber nicht deprimierend. Eine tolle Platte. Und sie passt wunder zur Situation. Er schaut seine Schwester an.
„Du müsstest schon irgendwie reden, denke ich.“
Sie sieht ihn an, nickt und sagt dann aber weiterhin nichts.
„Warst du schon bei unseren Eltern oder bei Silke?“
Jetzt setzt sie sich gerade hin und schluckt.
„Nein, das ist nicht wichtig, da kann ich mich irgendwann später mit beschäftigen. Vor denen sind einige andere dran, Leute die mir wichtig sind. Wie du.“
Dann dreht sie mich zu mir.
„Und wie du. Und noch ein paar,“
Tränen laufen über ihr Gesicht. Weinende Frauen sind nichts für mich. Da tue ich mich schwer. Snake aber auch. Und eigentlich sind wir dieser weinenden Frau auch noch ziemlich böse. Eigentlich.
„Silke und unsere Eltern gehören nicht mehr unbedingt dazu. Die haben mir so viele Vorwürfe gemacht. Und die haben mich belogen. Sonst wäre ich bestimmt längst wieder hier gewesen.“
Snake und ich wechseln unfällig ein paar Blicke. Er weiß auch nicht, was sie damit meint. Offenkundig sind da ein paar Dinge an ihm vorbei gelaufen. Die andere Schwester ist anders als wir, deshalb gehört sie auch nicht zu uns. Sie ist so, wie ihre Eltern sie sich gewünscht haben. Sie ist so, wie auch wir sein sollten. Zumindest, wenn es nach unseren Eltern ginge. Und die Eltern der drei sind wie meine. Eltern halt. Die besser wissen, was gut für ihre Kinder ist, als es die Kinder es je selbst wissen könnten.
Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie wischt sie nicht weg. Sie schluckt.
„Ich weiß selbst nicht genau, was damals gewesen ist, als ich abgehauen bin. Irgendwas ist da in mir passiert. Der Typ hat damit noch nicht mal was zu tun gehabt. Ich war nie mit dem im Bett oder so. Den habe ich dann hinterher auch nur noch ein oder zwei Mal gesehen.“
Snake und ich sehen uns an. Das ist nicht die Geschichte, die wir erwartet haben. Was auch immer wir erwartet haben, das nun wirklich nicht.
Noch mehr Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie wischt sie immer noch nicht weg. Sie schluckt.
„Und dann saß ich da, weit weg von zuhause. Und ich war einsam. Ich wollte zurück. Und unsere Eltern haben mir erzählt, dass ihr mich alle nicht wiedersehen wollt. Silke hat mir erzählt, dass ihr mich alle nicht wieder sehen wollt. Erst habe ich denen auch geglaubt. Aber etwas später, aber vielleicht zu spät, habe ich darüber mal richtig nachgedacht. Und dann habe ich mich daran erinnert, wie wir sind. Wir sprechen nicht über Menschen, wir sprechen mit Menschen. Ihr hättet mir das direkt gesagt. Irgendwie. Wie auch immer.“
Noch mehr Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie wischt sie weiterhin nicht weg. Sie schluckt.
„Von euch hat mich keiner angerufen. Das war aber klar, ich war ohne Worte verschwunden. Ich hätte euch anrufen müssen. Ich habe mich nicht getraut. Nach einem Jahr oder so, habe ich mein altes Handy weggeworfen und mir eine neue Festnetznummer besorgt. Dann konnten die mich nicht mehr erreichen. Niemand konnte mich mehr erreichen.“
Snake und ich sitzen mit unseren inzwischen leeren Flaschen da und starren sie an. Irgendwas scheint ihr eine lange Zeit vollkommen schief gelaufen zu sein.
Noch mehr Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie wischt sie weiterhin nicht weg. Sie schluckt.
„Also hockte ich da in der großen fremden Stadt. Hatte meinen Job, aber sonst nicht viel. Nur ein paar Bekannte, aber keine Freunde. Ich hatte die besten Menschen, die man haben kann, einfach zurückgelassen. Wofür auch immer. Für nichts. Dann habe ich Facebook und sonst was im Netz nach euch durchsucht, aber ihr tauchtet da alle nie auf. Weil ihr so geblieben seid, wie wir immer waren. Das ist nicht unser Spielplatz. Da gehören wir nicht hin.“
Die Tränen fließen jetzt in Strömen. Ich beginne mir Sorgen um ihren Flüssigkeitshaushalt zu machen. Snake wohl auch, denn er haut ab. Er will bestimmt neues Bier holen. Der Zeitpunkt ist gut gewählt, denn reden kann sie im Moment nun wirklich nicht. Schluchzen klappt aber gut. Diesmal ist Snake in Windeseile zurück. Und er hat mehr als drei Flaschen mitgebracht.
Die Flaschen bimmeln.
Der Tränenstrom wird wieder kleiner. Sie schluckt.
„Bis dann Anfang des Monats plötzlich die Sache mit dem Gewerkschaftshaus und diesen VOD-Zeichen los ging. Ich habe jeden Tag geguckt, ob es irgendwas im Netz gibt. Ich konnte endlich wieder an eurem Leben teilnehmen. Besser gesagt, ich konnte an unserem Leben teilnehmen. Dem Leben, was ich fünf Jahre vermisst habe. Zumindest konnte ich aus er Ferne teilnehmen.“
Der Tränenstrom kommt zum Stilstand.
„Ich habe damals nur ein paar Tage gebraucht, um von hier zu verschwinden. Dann habe ich länger als vier Jahre benötigt, um den Mut zu finden wieder zurückzukommen. Am Ende ging es dann ganz schnell. Eine Wohnung hier in der Stadt zu finden ist nicht schwer. Ich habe da hinten alles gekündigt und dann bin ich zurück, dahin wo ich hin gehöre und von wo ich nie hätte verschwinden sollen.“
Sie kramt einen Stift aus ihrer Tasche und schreibt etwas auf die Fernsehzeitung. Dann sieht sie erst Snake und dann mich an, ehe sie in Richtung der Zeitung deutet.
„So könnt ihr mich erreichen. Wenn ihr wollt.“
Jetzt trinkt sie aus, steht auf und zieht ihre Jacke an. Snake und ich bleiben sitzen. Wir haben gerade nicht die Kraft aufzustehen. Von der Tür winkt sie uns zu. Wir winken zurück. Keiner von uns hat eine Ahnung, wie es weitergehen wird. Winken wir hier ein Bis Bald oder ein Lebewohl?
Snake und ich sitzen noch eine ganze Zeit schweigend rum. Es ist absolut still. Die CD ist schon lange zu Ende. Irgendwann stoße ich ihn an.
„Weißt du, was ich nicht verstehe?“
„Belgisch?“
„Ehrlich gesagt, weiß ich das gar nicht. Bin auch noch nie auf jemanden getroffen, der das spricht. Und ich war schon ein paar Mal in Belgien. Die Fritten sind immer erstklassig. Aber mir geht es um was anderes. Sie hat kein Wort über Pete gesagt. Was bedeutet das?“
Snake denkt kurz nach. Dann nickt er.
„Sie hat es ja selbst gesagt. ‚Weil wir so sind, wie wir sind. Wir sprechen nicht über Menschen, wir sprechen mit Menschen. Also wird sie mit Pete sprechen und nicht über ihn.“
Und wir denken einträchtig über ihre Worte nach. Sie hat da wohl recht. So waren wir früher, so sind wir heute und so werden wir hoffentlich auch immer sein.
Auf dem Tisch liegt die Fernsehzeitung mit einer Adresse und einer Telefonnummer. Wir gucken erst drauf, dann uns an und zücken die Handys. Kontaktdaten kann man auch wieder löschen.
Betty kommt zurück. Wahrscheinlich hat sie das ungeöffnete Paket im Flur stehen gesehen. Als sie uns ansieht, stellt sie aber keine Fragen. Sie merkt, dass irgendwas passiert ist. Etwas, mit dem wir nicht gerechnet haben.
„Ich habe Luz zuhause abgesetzt. Soll ich dich gleich auch eben fahren?“
Ich winke dankend ab, frische Luft wird mir gut tun. Ich nehme noch ein Bier für unterwegs. Nach einem kritischen Blick auf die Flasche, stecke ich eine zweite ein. Es sind fast zwanzig Minuten bis zu mir.
Luz schläft schon. Sie sieht im Mondlicht unglaublich gut aus. Sie sieht immer unglaublich gut aus. Ich küsse sie. Weil ich es darf. Weil nur ich es darf.

Es dauert lange, bis ich wegnicke.

***
Am Montag geht es weiter.

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Montag, 20. Februar 2017
25 Red Lorry Yellow Lorry “Talk About The Weather”
Donnerstag

Es klopft und ich sehe hoch. Zwei Sheriffs betreten mein Büro und schließen die Tür hinter sich. Einer der beiden ist wieder mein alter Schulkollege Thorsten. Eigentlich hatte ich gehofft, den so schnell nicht wiederzusehen und erst Recht nicht in seiner Amtstracht. Heute ist er in Begleitung eins anderen Deputy.
In Erinnerung an seinen letzten Auftritt beginne ich schon nach meinem Ausweis zu kramen, aber er stoppt das mit einer Handbewegung.
„Lass gut sein. Wir kennen uns doch. Du kannst dir bestimmt denken, warum wir hier sind.“
Nein, kann ich nicht. Absolut keine Ahnung, warum die hier aufgetaucht sind. Im Prinzip gibt es keinen Grund, und wenn doch, dann gleich mehrere. So oder so, es bleibt dabei, ich kann mir nicht denken, warum die hier sind. Und das sage ich denen auch.
„Es liegt eine Anzeige gegen dich und einen Unbekannten wegen Nötigung und Androhung von Gewalt vor.“
Das hilft mir immer noch nicht entscheidend weiter. Wir hatten in den letzten Tagen anregende Gespräche mit verschiedenen Leuten.
„Die Anzeige wurde gestellt von Carsten Schmitz.“
Ausgerechnet der. Der ist auf der Kandidatenliste aber unter ganz ferner liefen eingestuft gewesen. Der ist ja nicht von uns besucht worden, wir haben uns unterhalten, weil er hier aufgelaufen ist und Gesprächsbedarf angemeldet hat. Andererseits hat er mich ja wohl schon vorher mal in die Pfanne gehauen und angeschissen. Das wird hoffentlich kein Hobby von ihm werden.
„Also geht es um den Montagnachmittag hier am Gebäude.“
„Ja, genau. Was möchtest du dazu sagen?“
Dazu möchte ich einiges sagen und das mache ich dann auch. Also erzähle ich ihnen, was da passiert ist. Zumindest das, was sie davon wissen müssen. Dass der Schmitz hier hin gekommen ist und mich in den Seitengang gedrängt hat. Und dass dann der Preacherman aufgetaucht ist und mich aus seinen Klauen gerettet hat. Mit zu vielen Details möchte ich sie auch gar nicht behelligen. Womöglich überfordert sie das dann.
„Und dein Freund ist also zufällig hier gewesen und hat dir geholfen?“
„Nein, er ist absichtlich hier gewesen. Wir waren ja verabredet. Er hat mir dann zufällig geholfen. “
So kann man das wohl ganz treffend beschreiben. Wir hatten ja nicht geplant, dass der Schmitz hier den Larry machen wird.
„Kannst du mir seinen Namen nennen, damit wir ihn als Zeugen vernehmen können?“
„Kann ich nicht, ich weiß nicht, wie er heißt. Ich kann dir nur sagen, wie wir ihn nennen. Aber wenn ihr Zeugen sucht, fragt doch mal bei denen, die ihre Büros in der Richtung da haben.“
Dabei gestikuliere ich vage zur andern Seite des Gebäudes.
„Du brauchst mir nicht zu sagen, wie wir unseren Job machen sollen, das wissen wir schon selbst. Wer ist hier der Boss, mit wem müssen wir vorher reden, wenn wir hier die Zeugen vernehmen wollen?“
Ich muss selbst kurz nachdenken, bis mir einfällt, dass ich seit Monaten hier der Interimsboss bin.
„Mit mir. Also legt einfach los.“
Die beiden marschieren ab. Ich bereite mir einen neuen Kaffee und warte einfach ab. Lange dauert es nicht, dann sind sie zurück.
„So wie es aussieht, hat der Herr Schmitz da eine haltlose Anschuldigung vorgebracht. Wir haben mit drei Leuten gesprochen und ihre Aussagen aufgenommen. Alle bestätigen, was du gesagt hast. Der Schmitz ist auf dich los und hat dich in den Gang gedrängt. Aber dann kam dieser große Mann dir zur Hilfe und danach war alles geregelt. Wenn du jetzt im Gegenzug rechtliche Schritte gegen den Herrn Schmitz einleiten willst, können wir da gerne sofort was machen.“
Will ich aber nicht und das sage ich den beiden auch. Kurz danach bin ich auch wieder allein, bis sich dann Pete zu mir gesellt.

Der Rest des Tages war grauenvoll. Erst haben Pete und ich im Büro ausgiebig gegrübelt, aber uns ist nichts eingefallen, was uns irgendwie weiter bringt. Nicht nur einfach nichts, eher so vollkommen überhaupt gar nichts. Nothing. Nada. Niente.
Unsere Judith hat uns da so in unserem Elend gesehen und sofort erahnt, dass wir ihren Beistand brauchen. Und den haben wir bekommen. Wer zu früh das Handtuch wirft, wird es später nicht wiederfinden. Das war ein Rat von ihr, der zu anderen wichtigen Erkenntnissen und Erfahrungen, die wir in unserem inzwischen nicht mehr ganz so kurzem irdischen Dasein gesammelt haben, passt. Wir haben früh gelernt, dass man immer wissen muss, wo sein Handtuch ist. Insbesondere dann, wenn man ein Frood sein will. Insbesondere dann, wenn man ein Hoopy Frood sein will. Und wenn man also zu früh sein Handtuch wirft und es anschließend womöglich nicht wiederfindet, ist es das mit Frood in- oder exklusive Hoopy gewesen. Aber wir hatten auch nicht vor, das Handtuch zu werfen, auch wenn das vielleicht auf den ersten Blick nicht so ausgesehen haben könnte.
Und die ganze Grübelei habe ich dann zuhause mit Luz noch Mal wiederholt. Mit dem gleichen Resultat. Nichts. Nothing. Nada. Niente.
Und aus den Mails und SMS, die durch den Äther und das weltweite Netz geschickt worden sind, ist auch ganz schnell klar geworden, dass der Rest in etwa die gleichen sensationellen Ergebnisse vorweisen konnte. Nichts. Nothing. Nada. Niente.
Luz hat gesagt ich soll gehen. Also nicht für immer, dafür aber jetzt sofort. Ins „Mercy Seat“. Oder sonst wohin. Auf jeden Fall weg. Und ich soll auch mindestens zwei, drei Stunden wo auch immer bleiben. Damit ich ihr nicht auf die Nerven gehe. Und sie mir auch nicht auf meine. Und sie hat Recht, wir sind beide voll unentspannt. Also rein in die Docs, den linken zuerst. Anders geht es ja nicht, wer weiß was sonst passiert. Und das rauszufinden habe ich gerade heute gar keine Lust mehr. Vielleicht ein anders Mal. An einem guten Tag.
Draußen drehe ich mir eine und stapfe los. Es ist noch früh, ich denke von uns wird keiner da sein. Keine Ahnung, ob heute überhaupt wer kommt. Abgesprochen ist nichts und ich habe auch niemanden angerufen. Aber ich habe das Handy dabei und das ist nicht immer so. Das ist eher selten so. Aber alleine bleiben will ich auf keinen Fall.
Der Preacherman steht an der Theke und lächelt mich zur Begrüßung an. Das geht zwar jetzt schon fast einen Monat so und es fällt auch auf, dass er inzwischen Übung in dieser von ihm vorher wohl lange nicht genutzten Form der nonverbalen Kommunikation hat, aber so richtig gewöhnt habe ich mich noch nicht daran. Mir geht durch den Kopf, dass wir immer noch fast nichts über ihn wissen. Ob sich da heute was ergibt? So ein intimes Gespräch unter neuen Kumpels. Das wird doch wohl eher nicht zu erwarten sein. Zumindest wenn man bei den Erwartungen realistisch auf dem im „Mercy Seat“ nicht vorhanden Teppich bleibt. Da werden wir dann wohl im Zweifel eher übers Wetter reden.
Nick steht hinter der Theke und wirkt ziemlich beschäftigt. Es ist schon recht voll für die frühe Zeit und von Kati ist nichts zu sehen. Er schiebt mir ein Bier rüber.
„Hinten im Kickerraum sind so ein paar komische Vögel. Irgendwelche Jungspunde. Habe ich hier noch nie gesehen. Sind rein gekommen und haben gleich groß getönt. Hier soll es richtige Cracks geben und die sollen sich jetzt mal zeigen. Und dann bekommen die ihre Lehrstunde.“
Das ist nicht das erste Mal. Immer wieder tauchen hier solche Gestalten auf. Immer wieder ziehen sie als geprügelte Hunde ab. Die wissen gar nicht, worauf sie sich mit uns einlassen. Erst recht nicht, wenn wir an unseren Tischen spielen.
Pete und ich haben in unserer langen, aber nicht unbedingt zielführenden akademischen Karriere trotzdem viel gelernt. Eher nicht im studentischen Sinne, eher so im allgemeinen Sinne. Für das Leben halt.
So haben wir gelernt , wie man mit einer Mark einen schönen Abend verbringen kann. Zuerst sind wir mit der Mark in die Spielhalle gegangen. Nicht in irgendeine Spielhalle, sondern in die am Bahnhof. Die war jetzt nicht schöner als andere, aber da gab es Kaffe gratis, wenn man denn irgendwas gespielt hat. Und es gab einen Automaten, den wir richtig gut konnten. Das Ding heiß „Soccerking“. An dem wollte sonst kaum einer ran, denn das Teil war total veraltet und es gab viele bessere Automaten. War ein eher einfach gehaltenes Fußballspiel, aber wenn man es richtig raus hatte, konnte man kaum verlieren. Und man konnte schön zu zweit spielen.
Das Gerät war also ganz gut zu besiegen, glaubte das aber wohl selbst nicht von sich. Die künstliche Intelligenz war nicht richtig clever. Der „Soccerking“ hat sich aber für einen König gehalten. Einen im Prinzip unschlagbaren König. Aber so sind Könige wohl immer, ob als Menschen oder als Automaten. Bei Automaten ist das nicht ganz so schlimm, aber bei den Menschen hat das schon unnötig viele Leben gekostet. Denn im Zweifelsfall wollen die Menschenkönige ja ihre Unschlagbarkeit nicht an sich selber testen. Dafür gibt es ja diese Untertanen. Die sind auch leichter im Schadensfall zu ersetzten als so ein König. Das ist zumindest dessen Meinung. Die Untertanen könnten womöglich eine andere vertreten, deshalb werden sie meist auch gar nicht erst zu so was gefragt.
Beim „Sockerking“ war es dann so, dass er nach 75 Niederlagen ein Stoppschild auf dem Bildschirm zeigte und es nur weiterging, wenn der Stecker gezogen wird. Damit war das Spiel dann aber zu Ende, ohne dass man verloren hatte. Deshalb gab es die nicht verzockte Mark zurück. Den inhalierten Kaffe durfte man aber behalten.
Mit der zurück erhaltenen Mark zogen wir dann weiter in eine Kneipe, in der um Bier gekickert wurde. Wir wussten immer wo hin, wir kannten uns aus. Dort haben wir uns dann ins Geschehen eingemischt und unsere Biere gewonnen. Und wir mussten die Biere gewinnen, weil wir ja nur diese eine Mark hatten. Wir hätten nicht bezahlen können, wir hätten unsere Ehre verloren. Und das war nun wirklich keine Option.
Und dann tauchen da solche Vögel auf, die große Klappe haben. Und nicht wissen, worauf sie sich einlassen. Wir waren damals sehr gut und sind heute noch besser. Aber mit wem soll ich spielen, außer Nick ist keiner von uns da. Ansonsten nur noch der Preacherman, aber der spielt ja wohl nicht. Ich sehe Nick fragend an, aber er schüttelt den Kopf, legt aber gleichzeitig ein paar Markstücke auf den Tisch. Die Tische sind alt, die können keine Euros.
„Ich kann nicht. Kati hat kurzfristig frei haben wollen und von den anderen Mädels konnte auf die Schnelle keine einspringen. Und ich habe doch ein weiches Herz und muss dafür jetzt richtig schuften.“
Während wir noch grinsen, greift sich der Preacherman die Markstücke und stiefelt nach hinten. Nick und ich sind gelinde gesagt leicht irritiert. Ich mache mich aber sofort auf die Verfolgung. Als ich gerade den Raum betrete, knallt der Preacherman eine von den Münzen auf die Kopfseite des Tisches.
„Ihr habt nach uns gefragt.“
Die Vögel gucken ihn so an, als hätten sie auf keinem Fall nach gerade ihm gefragt, lassen sich aber sonst nichts anmerkten. Der Preacherman lehnt sich an die Wand und verschränkt die Arme. Sieht cool aus, also stelle ich mich genauso daneben. Die Vögel habe ich noch nie gesehen, die passen hier auch gar nicht in den Laden. Mir kommt die Idee, dass Ralf Schneider die in der Hoffnung geschickt hat, ihn zu rächen. Dann durften die aber nicht reines Schlachtvieh sein und ich habe keine Ahnung, was mein Partner so kann. Ich habe keine Ahnung, ob er überhaupt was kann. Wir wissen fast nichts über den Preacherman, noch nicht mal, ob er kickern kann oder nicht. Aber zumindest das werde ich gleich aus erster Hand erfahren.
Meistens spiele ich ja im Sturm, aber ich habe das Gefühl, dass ich hier und heute besser hinten stehen sollte. Sicher ist sicher.
„Ich kann auch hinten spielen.“
„Okay, dann gehe ich nach vorne.“
Damit ist die Taktik besprochen und wir sind dran. Bevor ich zum ersten Mal den Ball berühre, hat der Preacherman die ersten drei Bälle locker versenkt. Kurz darauf haben wir 6 zu 1 gewonnen. Immer das Gleiche, einen lasse ich fast immer durch. Dann tauschen wir und gewinnen zu Null. Der Preacherman lässt nämlich keinen durch. Dann haben die auch schon genug.
„Wir hauen ab. Die verlorenen Biere zahlen wir schon mal. Könnt ihr dann in Ruhe trinken.“
Und ich gucke mir die Vögel noch mal an.
„Ihr solltet euch die Kohle vom Schneider wiederholen. Der hat euch reingelegt.“
„Das werden wir auch machen. Da kannst du dich drauf verlassen.“
Da hat Inspektor Waller Columbo doch den richtigen Riecher gehabt. Ich wende mich zum Preacherman.
„Warum spielst du nie mit uns?“
„Ich bin ein wenig eingerostet.“
Gegen Ende des Spiels haben TomTom und Snake den hinteren Raum betreten und uns zugeguckt. Snake legt eine Münze ans Kopfende.
„Und damit du wieder geschmeidig wirst, kannst du auch gleich mal da stehen bleiben.“
Und dann geht die Post ab. Der Preacherman und ich schlagen uns tapfer, aber TomTom und Snake sind zusammen eine echte Macht. Wir verlieren, aber nur knapp. Das liegt aber auch zum großen Teil an mir, ich komme heute an TomTom kaum vorbei. Der spielt großartig und macht auch mit dem Torwart das letzte Tor. Da hat er mich kalt erwischt.
Inzwischen ist es richtig voll. Fast wieder so voll wie gestern. Zumindest die Kasse klingelt im Moment ganz schön laut. Wir quatschen noch ein bisschen über dies und das, wenn auch nicht über das Wetter, und nehmen noch ein Bier.
Letzte Runde für heute. Nick bringt uns die Getränke. Die Gläser bimmeln.
Irgendwie kommt der Optimismus zurück. Wird schon werden. Wie auch immer.

Alles wird gut. Morgen. Demnächst. Irgendwann.

***
Am Freitag geht es weiter.

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Donnerstag, 16. Februar 2017
24 The Human League “The Sign”
Mittwoch

Pete sitzt in meinem Büro und schaut mich kritisch an. Ich bin vollkommen fertig, die letzten beiden Tage hatten es aber mal wirklich in sich. Trotzdem war ich, wie verabredet, sehr zeitig da und habe unterwegs auch eine Zeitung organisiert. Die hat mich so freundlich aus einem Stapel vor einem Kiosk angeguckt und ich habe schnell in den Lokalteil geschaut. Ein Blick auf die erste Seite hat gereicht, die WAZ hat geschrieben. Die freundlich guckende Zeitung hat mich dann gebeten, sie auch gleich mitzunehmen. Wer kann da widerstehen.
Bevor wir uns die Zeitung gönnen, werfen wir einen Blick in den Blog. Aber da ist noch nichts. Kein Eintrag. Nichts. Vielleicht hat es ja dieses Mal nicht auf Anhieb geklappt. Bis jetzt ist es eigentlich fast zu reibungslos gelaufen. Wäre nicht wirklich verwunderlich, wenn es auch mal ein Problem gegeben haben sollte.
Andererseits wissen wir ja auch gar nicht sicher, ob es die Richtigen treffen würde. Es sind aber wohl auf keinen Fall die Falschen. Wir wollen das aber trotzdem gerne genau wissen. Es gibt nur noch einen, der uns da helfen kann. Der Superman der Stadtverwaltung. Der oberste Meister. Der OB.
Der hat mir seine Geheimnummer gegeben. Quasi die Nummer des Roten Telefons des Stadtoberhaupts. Die Nummer, die nur die wirklich Wichtigen und Mächtigen aus Politik und Wirtschaft haben. Die Nummer, die nur die haben, die es auch verdient haben. Und ich. Und die werde ich jetzt wählen.
Das Telefon klingelt. Das Display zeigt, dass es ein interner Anruf ist, aber die Nummer ist unterdrückt. So was habe ich noch nie gesehen, aber ich habe die mehr als vage Ahnung, dass da der dran ist, den ich eigentlich anrufen wollte. Und ich habe Recht. Er ist es. Leibhaftig. Das ist gut, denn ich merke, dass er sich an seine Worte hält. Er wollte sich kümmern und er wollte sich dann melden. Ob er sich gekümmert hat, weiß ich noch nicht, aber zumindest meldet er sich. Ich bin gespannt, was meine Lauschlappen zu hören bekommen.
Und jetzt erzählt er uns von seinem Termin mit dem Leiter des Amtes, dass für die Gebäude und Grundstücke der Stadt zuständig ist. In diesem Gespräch hat er auch erfahren, dass die ganze Sache von Herbert Stupski angeleiert worden ist. Der hat den Stein ins Rollen gebracht und der hat auch darauf hingewiesen, dass bei der Entscheidung, das Gewerkschaftshaus unter Denkmalschutz zu stellen, seinerzeit ein Fehler unterlaufen sei. Und der auch darauf aufmerksam gemacht hat, dass das alles nicht in Stein gemeißelt sondern korrigierbar sei.
„Das ist das, was ich dazu sagen kann. Ich denke, in dieser Sache ist nicht alles richtig gelaufen. Die vorgesehenen Verfahrenswege sind hier zweifelsfrei nicht eingehalten worden. Daher habe ich für nächste Woche einen Termin gemacht, in dem ich einfordern werde, die Angelegenheit genauestens zu prüfen und danach entsprechend den gültigen Vorgaben zu verfahren.“
Das hier ist Politik und nicht das wahre Leben. Das mit dem wahren Leben bekommen wir so einigermaßen hin, aber praktizierte Politik, und sei es nur auf lokaler Ebene, ist so gar nicht unser Ding. Ein für uns unbekannter Planet, auf dem wir uns nicht auskennen und nicht wissen, was man da so macht und was besser nicht. Wir lauschen den Worten ganz genau. Wir versuchen auch Botschaften zwischen den Worten zu verstehen.
„Ich denke nicht, dass das die Sache beenden wird. Zumindest nicht sofort. Es wird die Sache aber erst mal stoppen und dann auch verzögern. Wenn es später doch zum Verkauf kommen sollte, wird es eine Ausschreibung geben. Nach dem Bericht in der Zeitung von heute wird da auch intern niemand Einspruch erheben wollen. Das wäre politischer Selbstmord.“
Den Bericht haben wir noch nicht gelesen. Scheint aber interessant zu werden. Wir versuchen auch weiterhin insbesondere die Botschaften zwischen den Worten zu verstehen.
„Und bei einer Ausschreibung kann dann jeder sein Gebot abgegeben. Sie verstehen? Jeder.“
Wir glauben zu versehen. Jeder. Also auch Nick. Oder wir. Wir wissen aber nicht, wie das gehen soll.
„Es könnte auch Interessenten mit anderen Konzepten für das Haus geben. Investoren, die einen Erhalt des Gebäudes anstreben. Mit einer sinnvollen Nutzung.“
Jetzt schweigt er. Er hat seine Botschaften gesendet. Wir haben empfangen und hoffentlich auch richtig decodiert. Leider steht uns dazu keine Enigma zur Verfügung, wir müssen mit purem Gehirnschmalz auskommen.
„Bieten Sie uns ihre Hilfe an?“
„Nein, das kann ich in meiner Position so nicht machen, aber falls Sie anfragen, könnte es sein, das ich vermitteln und Kontakte herstellen kann.“
Pete und ich bleiben nachdenklich zurück. Das war jetzt ein Ausflug in die Lokalpolitik. Wirklich gar nicht unser Ding. Absolut nicht.
Und so sitzen wir da und lesen schön in Ruhe den Bericht in der Zeitung. Es lohnt sich wirklich. Die WAZ hat gute Arbeit geleistet. Wir haben ihr eine schöne Vorlage gegeben, sie hat diese sauber verwandelt. Wir haben keine wirkliche Ahnung davon, aber es liest sich wie gute journalistische Arbeit. Deshalb hat das auch etwas länger gedauert. Die wollten wohl keinen Schnellschuss, da wollte jemand eine einwandfreie Recherche abliefern. Und das ist gelungen. Zweifelsfrei.
TomTom hat die Dokumente aus dem Ordner sorgsam ausgewählt. Und die haben die intensiv studiert und sich danach auch noch Gedanken gemacht. Bis sie ein Ergebnis hatten. Ein gutes Ergebnis. Und auch eine Story, die interessiert. Dann haben sie den Seelmann damit konfrontiert. Der wollte sich wohl zuerst gar nicht dazu äußern, hat es dann aber doch getan. Aber einfach nur dementierten und keinen weiteren Kommentar abgeben, ist nicht immer hilfreich. Damit kommt er nicht weit. Die Stadtverwaltung ist aber auch nicht besser, auch von dort kommt keine brauchbare Darstellung. Die WAZ bezieht in ihrem Bericht und den Kommentaren dazu eindeutig Stellung. Und sie ist nicht auf Seiten von Seelmann und der Verwaltung.
Pete und ich schauen uns zufrieden an. Der Bericht in der WAZ und die Worte des OB, gehen in die gleiche Richtung. Die Sache kann nicht mehr heimlich, still und leise abgewickelt werden.
Danach besuchen wir erneut den Blog. Zwei neue Einträge. Wie erwartet. Wir sind nur zu ungeduldig gewesen. Die sind so verlässlich und professionell, das ist kaum zu glauben. Die kleinen Zweifel vorhin sind verfrüht gewesen, die haben die beiden Zeichen in der Nacht gesprayt. Der erste Eintrag wird angeklickt und die Seite öffnet sich. Dauert etwas, sind wohl recht viele Bilder und die Leitung der Stadt ist eher dünn.
Das erste Bild zeigt uns einen Bungalow. Wir sehen, wie ein schönes, großes VOD auf einem Garagentor entsteht. In Schwarz. In Schablonenschrift. Und wir sehen dann noch eine Haustür. Mit einem Namensschild. Gerd Wolsch. Darunter ein kleines VOD. In Schwarz. In Schablonenschrift. Alles wie es sein soll. Perfekt wie immer.
Es gibt aber noch mehr Bilder darunter. Seltsam, eigentlich ist doch hier schon alles dazu gezeigt. Was kommt jetzt noch? Wir sind überrascht. Ein anders Haus ist jetzt zu sehen. Dort entseht der VOD-Schrifzug direkt auf der Hauswand. In Schwarz. In Schablonenschrift. Und auf der Haustür ist ebenfalls ein Namenschild. Anne und Herbert Stupski. Darunter ein kleiner VOD-Schriftzug. In Schwarz. In Schablonenschrift. Alles wie es sein soll. Perfekt wie immer.
Pete kann ich die Überraschung ansehen. Er mir bestimmt umgekehrt auch. Also schauen wir uns gegenseitig irritiert an. So haben wir das jetzt gerade nicht erwartet. Was ist denn dann im zweiten Eintrag?
Wir klicken den anderen Eintrag an und sehen im Prinzip nichts. Wir sehen zwar ein Foto, können aber nichts erkennen. Schwarzer Adler auf schwarzem Grund. Mit viel Wohlwollen könnte man sagen, dass es sich um ein Gebäude handelt. Kann, muss aber nicht. Pete zuckt die Achseln. Mehr kann ich auch nicht beitragen. Auch sonst gibt es da nichts. Kein Wort, kein Link. Nur das eine Bild. Wir schließen den Browser.
Da fällt mir was ein, was ich Pete schon seit ein paar Tagen fragen will.
„Wer ist eigentlich deine Quelle, die sagen kann, ob der OB im Haus ist oder nicht?“
„Andrea Fuchs.“
Ich werde hellhörig. Ich werde immer hellhörig, wenn Pete Frauen erwähnt. Ich habe eine ungefähre Ahnung, was jetzt kommt. Nicht von den eigentlichen Worten, sondern von der Message. Und er enttäuscht mich nicht, als er weiter spricht.
„Mit der war ich in der Ausbildung. Die ist jetzt im Vorzimmer von einem der Bonzen im 4.OG und ist da nicht wirklich glücklich. Aber die hat Zugriff auf alle Kalender im Netz.“
So ist es immer. Pete und die Frauen. Keine interessiert ihn. Für ihn gibt es immer noch nur Eve. Die war mehr als fünf Jahre weg und gestern läuft sie bei uns durch die Stadt. Soll ich ihm sagen, dass ich sie gesehen habe oder besser nicht? Die Frage stelle ich mir schon den ganzen Morgen über. Und ich weiß immer noch keine Antwort. Als wenn im Moment nicht eh alles kompliziert genug wäre. Ich verschiebe die Entscheidung auf später. Manchmal muss man ganz einfach auch zukunftsorientiert denken und handeln.
Petes Handy klingelt. Er hält es so, dass ich auch sehen kann, dass Stefanie anruft. Sie klingt total aufgeregt und redet nahezu komplett ohne Satzzeichen. Nicht nur ohne Punkt und Komma. Dazu irgendwie auch ohne Leerzeichen. In einem Höllentempo. Unsere Ohren können kaum Anschluss halten.
„Der Seelmann tobt wie ein wilder Stier, sieht dabei aber bei weitem nicht so gut aus wie Robert De Niro. Ich dachte vorhin, der platzt und wir haben eine Riesensauerei. Der hat den Bericht in der WAZ gelesen und sieht seine Felle davon schwimmen. Der ist richtig steil gegangen.“
Und so geht es auch weiter. Ohne Satzzeichen. Ohne Leerzeichen. Unseren Ohren droht ein Wortoverflow.
„Und als dann noch die Sache mit der anderen Hütte dazu kam, ist es noch weiter eskaliert. Und ich hätte gedacht, der wäre vorher schon am Anschlag gewesen. War er aber noch nicht. Da ging dann noch mehr. Dann ist er wutschnaubend abgerauscht. Keine Ahnung wohin, aber Hauptsache weg.“
Wir warten kurz, aber es ist keine Pause, sondern sie hat gesagt, was sie sagen wollte. Pete und ich schauen uns ratlos an.
„Welche andere Hütte?“
„Habt ihr noch nicht in den Blog geguckt? Den zweiten Eintrag von heute?“
Und wie wir haben, hat aber vorhin nichts gebracht. Es gab ja nichts zu sehen. Ich rufe den Eintrag erneut auf. Er hat sich verändert. Es gibt jetzt ein paar mehr Bilder, die zwar immer noch recht dunkel sind, aber man kann ein paar Gestalten sehen, die auf einem Gerüst unterwegs sind und Spraydosen dabei haben.
Ganz untern ein Link zu Youtube. Pete und ich schauen uns das Video sofort an. Wir sehen ein Haus, das mit einer Plane abgedeckt ist. Daneben steht ein kleiner Transporter. Als dieser losfährt, wird die Plane quasi abgerissen. Das Auto bleibt sofort stehen. Wer auch immer steigt aus und stellt fest, dass da ein Seil befestigt war. Das Ganze war so präpariert, dass die Plane nur sehr leicht befestigt war. Und jetzt liegt sie unten im Dreck.
Die spektakuläre Enthüllung bringt ein spektakuläres Ergebnis ans Tageslicht. Wir sehen ein recht großes Haus, das aber noch nicht komplett fertig ist. Auf der Fassade ist zwar das Styropor für die Dämmung bereits drauf, aber mehr auch nicht. Zumindest bis gestern. Seit heute Nacht ist das anders. Da steht jetzt WE WILL NEVER SURRENDER und darunter VOD. Schön groß. Wirklich groß. Nicht nur nicht klein. Alles in Schwarz. Alles in Schablonenschrift. So wie es sich gehört. Perfekt wie immer.
„Das war gerade noch nicht da. Sehr beeindruckend. Und was hat das jetzt mit Seelmann zu tun?“
„Ach ja, das wisst ihr bestimmt nicht. Das ist eines seiner beiden zuletzt fehlgeschlagenen Projekte. Da gab es Stress und sein Partner hat sich ausgeklinkt. Und von der Sparkasse hat er kein Geld bekommen, um das alleine zu Ende zu bringen. Das ist ein ziemlicher Flop, an dem er schwer zu knabbern hat.“
Nach dem Gespräch runzeln wir beide die Stirn und gucken uns an. Weitere Aktionen sollten folgen, so war es in der WAZ angekündigt. Da kann man dann auch nicht kneifen. Das ist wohl die erste davon und die ist alles andere als schlecht. Wir denken beide das Gleiche. Da wird die Tante ihrem Neffen aber hilfreich unter die Arme gegriffen haben, damit das alles richtig gut läuft.
Sie ist eine Frau von Ehre.

Es ist Mittwoch. Mittwochs sind wir immer da. Schon immer. Aber heute sind auch viele andere dort. So voll ist es in der Woche selten. Der Bericht in der WAZ ist wie eine kostenlose Werbekampagne für das „Mercy Seat“. Das hat sich nach dem ersten Artikel schon angedeutet, aber der von heute hat es noch gesteigert.
Luz und ich müssen uns quasi zu den unseren beiden Stehtischen durchkämpfen. So ein Gedränge herrscht selbst am Wochenende selten. Nick und Kati haben sich noch eine Kellnerin als Verstärkung organisieren können, um überhaupt einigermaßen klar zu kommen.
Siouxsie, Betty, Zeus, Snake, TomTom und Pete sind schon da. Ich schaue mich um. Es sind auch einige da, die wir von früher kennen, die aber nur noch ganz selten oder eigentlich gar nicht mehr kommen. Einige sind mir vollkommen fremd. Andere sind hier vollkommen falsch und fühlen sich selbst auch so. Die werden auch nicht lange bleiben und auch nicht wiederkommen. Der Captain und der Preacherman kommen auch gerade rein.
Kati bringt uns Getränke. Die Gläser bimmeln.
Als ich Eumel und seine Bandkolleginnen und Kollegen sehe, winke ich denen zu und orientiere mich in deren Richtung, aber gleichzeitig schaue ich auch Snake an. Der versteht auch sofort, was ich von ihm will, und steht gleich neben mir.
„Ich weiß nicht mehr als gestern. Meine Eltern und die Silke habe ich unter irgendwelchen Vorwänden angerufen, aber die haben nicht den Eindruck gemacht, als hätten sie irgendwie etwas mitbekommen. Danach habe ich noch mit zwei, drei anderen telefoniert. Alles negativ. Nichts. Keine Ahnung.“
Nachdenklich setze ich meinen kurzen Weg zu den „Dead Drivers“ fort. Mir gefällt die Sache mit Eve nicht. Nicht nur ein bisschen nicht sondern ganz und gar nicht. Ich mache mir Sorgen. Insbesondere um Pete.
Dann habe ich die Ecke, in der die Musikanten lungern, erreicht und geselle mich zu ihnen. Wir reden ein weinig über Musik im Allgemeinen und Besonderen, über deren letzten Auftritt und über deren nächsten Gig. Wir reden nicht über Coverversionen von Crass und wir reden auch nicht über Botschaften in Schablonenschrift.
Zumindest so lange nicht, bis ich mit Eumel ein klein wenig abseits stehe. Und auch dann nicht unbedingt direkt. Eher indirekt. Eher vollkommen drum herum.
„Du musst ja ganz schön müde sein nach gestern.“
Er sieht mich unbewegt an. Als hätte er keine Ahnung, worauf ich hinaus will.
„Sehe ich so aus oder wie kommst du drauf?“
Dann zwinkert er mir zu und grinst mich breit an. Natürlich weiß er genau, was ich meine, aber er will nicht darüber reden. Er zieht die Aktion dem Wort vor. Das ist sein gutes Recht, also akzeptiere ich das auch. Und zwinkere zurück. Dann quatschen wir noch ein bisschen über dies und das und anderes, bevor ich zurück zu meinen Leuten gehe.
Nach und nach leert es sich dann doch und es kehrt etwas mehr Ruhe ein. Wird auch Zeit, denn wir wollen noch ungestört ein wenig miteinander plaudern. Aber dazu ist es noch immer zu voll. Wir ziehen uns deshalb in den hinteren Raum zurück und spielen eine Runde. Doch die Konzentration ist nicht richtig da und wir sind ganz froh, als wir den Raum dann für uns haben.
Nick bringt neue Getränke und bleibt auch gleich da. Die beiden Mädels haben vorne inzwischen alles im Griff. Die Gläser bimmeln.
Alle haben den Bericht der WAZ gelesen, alle haben in den Blog geguckt. Pete und ich erzählen von dem Gesprächen mit dem OB und Stefanie. Kurz danach ist auch alles andere von allen anderen erzählt und alle schauen TomTom an. TomTom ist clever, er kann schnell denken
Aber auch schnelles Denken kann manchmal etwas länger dauern, wenn es viel zu denken gibt. Und viel zu denken gibt es nun wirklich und deshalb dauert auch das schnelle Denken seine Zeit. TomTom bläst erst die Wangen auf und lässt dann die Luft raus. Das macht er selten. Eher fast nie. Das ist kein gutes Zeichen. Das macht er, wenn er nicht richtig weiter weiß.
„Ich weiß auch nicht so richtig.“
Sein Denkergebnis scheint somit zunächst recht übersichtlich. Wir haben uns insgeheim doch mehr erhofft, aber eigentlich genau das befürchtet. Es dauert noch einen Augenblick bis er fortfährt.
„So wie es aussieht, ist jetzt so aktuell ja Ruhe. Aber wohl nur jetzt, nicht endgültig. Über kurz oder lang wird das wieder losgehen. Der Seelmann ist scharf auf den Deal und die Stadt hätte gerne die Kohle. Die Stadt würde die aber auch von jedem anderen nehmen. Aber jetzt mal im Ernst, ich kann mir nun gar nicht vorstellen, wie wir da mit irgendeinem sogenannten Investor in einem Boot sitzen und in die gleiche Richtung rudern.“
Bei den letzten Worten schiebt er den Ärmel seines Shirts hoch, so dass wir alle sein Che Guevara Tattoo auf dem Oberarm sehen können. Wir nicken. Auch wir können uns das nicht wirklich vorstellen. Mal so gar nicht. Kein Stück.
TomTom ist jetzt warmgelaufen. Nach einer kurzen Pause ergreift er wieder das Wort.
„Eigentlich hat sich also nichts geändert. Der Schlüssel sind immer noch die beiden Erben. Die müssen in dem bestehenden Vertrag bleiben und dann ist das Thema vom Tisch. Aber ich habe keine Ahnung, was passieren muss, damit die ihre Meinung ändern. Möchtest du vielleicht noch einmal mit denen reden und an deren guten Kern appellieren?“
Dabei schaut er zu Luz und grinst sie an. Sie verzieht das Gesicht und schüttelt den Kopf. Das möchte sie wohl derzeit eher nicht.
„Mit denen reden würde ich schon noch einmal gerne. Aber unter andern Vorzeichen. Unter Vorzeichen, die für uns besser sind.“
Dabei lächelt sie. Aber sehr kalt. So kalt, dass mir ein wenig fröstelt, obwohl es eigentlich hier recht warm ist.
„War ja nur eine Idee. Die war schon echt schlecht, aber die einzige, die ich habe. Keine Ahnung, was mir machen sollen oder können. Ich glaube, wir haben überall angesetzt, wo wir ansetzten konnten. Aber es hat wohl noch nicht gereicht.“
Er zuckt mir den Schultern und guckt in die Runde. Die Runde zuckt mit den Schultern und guckt zurück. Wie immer hat TomTom das alles wunderbar auf den Punkt gebracht. Leider ist das Ergebnis alles andere als wunderbar. Ganz im Gegenteil.
Luz geht raus und kommt kurz danach mit einem Bogen Papier, der sonst zur Ankündigung von Veranstaltungen genutzt wird, und einem Edding zurück. Auf die Rückseite schreibt sie WE WILL NEVER SURRENDER!. In Schwarz. In Schablonenschrift.
In ihren Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut.
Dann hängt sie das Plakat zu den andern an die Wand neben dem Eingang.

So soll es sein. Avanti Popolo!

***
Am Montag geht es weiter.

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Sonntag, 12. Februar 2017
23 New Model Army “Green And Grey”
Dienstag

Draußen scheint die Sonne, ich hätte den gelben Stern fast nicht wiedererkannt, so lange hat er sich zuvor hinter grauen Wolken versteckt. Kalt ist es trotzdem. Nicht kühl, wirklich kalt. Beinahe bitterkalt. Ich sitze im Cafe und schlabbere einen Kakao. Richtig schön süß und mit dick Sahne obendrauf. Man kann zwar eigentlich immer Kaffee trinken, muss man aber nicht.
DreiElf hat mich vorhin angerufen, er will mich unbedingt treffen, also mache ich offiziell eine Sporthallenkontrolle. Falls jemand fragen sollte. Obwohl im Moment keiner bei mir fragen würde. Ich bin im derzeit irgendwie besonders. Nicht mehr richtig im System. DreiElf hat sich heute einen Tag frei genommen. Ganz normal eigentlich, aber doch verwunderlich. Manchmal glaube ich, die Datenmörder sind immer im Dienst und haben gar keinen Urlaub. Weil sie nicht wissen, was sie dann den ganzen Tag tun sollen. Auf jeden Fall hat er am Telefon aufgeregt geklungen. Und so sieht er auch aus, als er reinkommt und sich zu mir gesellt.
„Kannst du dich noch an Karl-Heinz Kulski erinnern?“
Nein, kann ich nicht. Bevor ich das aber auch ausspreche, denke ich doch genauer nach. Der Name sagt mir irgendwas, aber nur mit sehr leiser Stimme, so dass ich nicht verstehen kann, was er mir da mitteilen will. Also, bleibt das „Nein“ dann ich doch so stehen.
„Nein, kann ich nicht.“
„Der war so was wie der EDV-Saurier in unserer Verwaltung. Der war schon vor Urzeiten zugange und hat noch mit irgendwelchen Lochkarten wilde Dinge angesellt. Der hatte alle Berechtigungen, die es überhaupt je gegeben hat, und durfte im System wohl wirklich alles. Oder sogar noch mehr.“
Ich habe zwar keine Ahnung, worum es genau geht. Aber es klingt richtig spannend.
„Und der hat auch Sachen gemacht, die vielleicht nicht so ganz erlaubt waren. Aber an ihn hätte sich keiner ran gewagt. Alle hatten Sorge, dass, wenn er nicht mehr im Dienst sein würde, alles zusammenbrechen könnte.“
Ich habe zwar immer noch keine Ahnung, worum es genau geht. Aber es klingt sehr spannend.
„Und vor sieben Jahren ist der in Rente gegangen. Dann haben die ihm aber noch so eine Beratertätigkeit andrehen können, weil die Angst hatten, dass seine Nachfahren das alles nicht im Griff haben könnten. Datenapokalypse in der Stadtverwaltung. Und er wusste auch nicht so unbedingt, was sonst den ganzen Tag machen soll, und ist darauf eingestiegen.“
Ich habe zwar weiterhin keine Ahnung, worum es genau geht. Aber es klingt außerordentlich spannend.
„Vor zwei Jahren war dann alles so weit in neue Systeme übergegangen, dass die ihn nicht mehr brauchten. Und dann haben die ihn auch einfach endgültig abserviert. Der Datenmohr hat seine Schuldigkeit getan, er kann gehen. Aber bis sie ihn abgeschaltet haben, hatte er von zuhause immer vollen Zugriff auf das System. Und da hat er natürlich auch Sicherungen gemacht. Vom ganzen System.“
DreiElf sieht mich erwartungsvoll an. Ich spüre, dass er was ganz Tolles gesagt hat, kann es aber nicht ganz genau erkennen. Er muss mir auf die Sprünge helfen. In EDV bin ich eher eine Niete.
„Das bedeutet, er hat auch die Daten vom Gewerkschaftshaus kopiert. Ist zwar der Stand von vor zwei Jahren, aber da sollte sich wohl nichts dran geändert haben. Da ist ja nichts passiert. Zumindest nichts, was hätte passieren sollen. Wir wissen ja nicht, was der Klein und seine Kumpel da denn so vor hatten.
Und jetzt wirkt er noch aufgeregter als vorhin.
„Und ich habe mit ihm telefoniert und besuche ihn gleich. Und ich werde die Dateien dann mitnehmen. Dann gucken wir mal, wie ich die unauffällig wieder ins System bringe und was wir dann so damit anstellen. Muss doch irgendwas für den Nick machbar sein.“
Er wirkt sehr zufrieden, als er aufbricht. Und das zu recht. Ich sehe ihm noch hinterher, bis er aus meinem Sichtfeld verschwindet.
Ein neuer Kakao kommt. Mein Platz ist direkt am Fenster und ich gucke mir interessiert die Menschen an, die an mir vorüberziehen. Hinter der Scheibe nimmt mich von denen eigentlich niemand wahr und das ist auch gut so. Vorhin sind meine Eltern vorbei gezogen und kurz danach auch noch Carsten Schmitz. Der hat überhaupt nicht gut ausgesehen. Unsere gestrige Begegnung ist wohl nicht spurlos an ihm vorübergegangen.
Jetzt kommt eine Frau vorbei. Um genauer zu sein, eine wirklich gutaussehende Frau in meinem Alter, vielleicht zwei drei Jahre jünger als ich. Ich habe den Eindruck, sie lächelt mir im vorbeigehen zu. Muss mit meiner frischen Berühmtheit zu tun haben. Irgendwie ist sie mir dabei aber auch bekannt vorgekommen.
Bevor ich von etwas anderem abgelenkt werde, fangen in meinem Hinterkopf Alarmglocken an zu klingeln. Erst leise, dann immer lauter. Bis es quasi ohrenbetäubend wird. Irgendwas ist mit dieser Frau. So grauenvoll laut wie es inzwischen bimmelt, muss es echt wichtig sein. Ich rufe ihr Bild aus dem Kurzgedächtnis auf und betrachte es eingehend.
Es dauert einen Moment, aber dann beginnt es langsam zu dämmern. Das Gesicht kenne ich. Von früher. In jünger. Eine Erinnerung macht sich breit. Ich versuche sie beiseite zu schieben, denn das kann nicht sein. Das soll auch nicht sein. Aber die grünen Augen lassen dann doch keinen Widerspruch zu. Das war Eve, die da gerade vorbei gegangen ist und mich angelächelt hat. Und das war kein Lächeln, das man einem Fremden im vorbei gehen zu wirft. Das war ein Lächeln, für Leute, die man kennt und mag. Aber Eve gibt es hier nicht mehr. Die ist weg. Schon ewig. Eigentlich auch für immer. Aber das scheint dann aber jetzt doch nicht mehr so zu sein.
Eve. Die Schwester von Snake. Die große Liebe von Pete. Über die er immer noch weg ist. Die beiden waren etwa ein Jahrzehnt zusammen, bis sie es vor etwas mehr als fünf Jahren in den Kopf gekriegt hat. Sie hat da einen Typen kennen gelernt und plötzlich war Pete abgemeldet. Und wir alle auch gleich mit. Von Heute auf Morgen. Von Jetzt auf Gleich. Keine Ahnung, was in ihr vorging, aber ihr wurde das alles hier zu klein. Das Ruhrgebiet. Nur eine Provinz irgendwo im Nirgendwo. Sie wollte die große Welt und schmiss alles hin. Freunde, Familie, Job. Ab und weg. In die Hauptstadt der Republik. Seitdem ist sie wohl nie wieder hier gewesen und niemand hat seit Jahren auch nur einen Ton von ihr gehört. Und jetzt latscht sie plötzlich durch unsere Fußgängerzone.
Trotzdem mag ich sie immer noch und manchmal vermisse ich sie auch. Sie hat super zu uns gepasst, mit ihrer Quirligkeit hat sie uns immer wieder mitgerissen. Auch in schlechten Zeiten. Ganz besonders in schlechten Zeiten. Luz kennt sie nicht, die beiden haben sich damals quasi um wenige Wochen verpasst, Sie wäre wahrscheinlich aber super mit ihr klar gekommen. Die beiden zusammen, die hätten Ziegenpisse in Benzin verwandeln können.
Aber was will sie jetzt hier? Ich rufe Snake an.
„Hi, ich habe gerade deine Schwester in der Stadt gesehen!“
„Interessant, und deswegen rufst du mich an? Die arbeitet doch da in der Buchhandlung.“
Er klingt ein wenig ironisch, es dauert einen Augenblick, bis ich schalte.
„Nein, nicht die Silke. Die andere. Eve.“
Jetzt herrscht Ruhe am anderen Ende der Leitung.
„Bist du sicher?“
„Yes! Kein Zweifel. Was macht die hier? Du musst sie anrufen.“
„Und wie soll ich das bitte machen?“
„Na ja, so schwer ist das doch nicht. Du wählst und so.“
Ironisch kann ich auch. Wir sind beide etwas aus dem Tritt. Ich kann quasi sehen, wie er tief durchatmet. Hören kann ich es aber zweifelsfrei.
„Ich kann sie nicht anrufen, weil ich keine Nummer habe. Niemand von uns hat eine. Meine Eltern nicht. Meine Schwester nicht. Ich nicht. Niemand. Absolut keiner. Seit bestimmt vier Jahren hat es keinen Kontakt mehr mit ihr gegeben. Und mit keinen meine ich genau das, überhaupt keinen. Ich habe auch keinen blassen Schimmer, wen die hier besucht.“
Das Bild der vorbei gehenden Eve erscheint erneut vor meinem geistigen Auge.
„Ich bin mir gar nicht mal sicher, ob die hier nur jemanden besucht. Die hatte zwei große Taschen mit Nahrung dabei.“
Wir lassen das erstemal sacken. Was bleibt uns.
„Waller, was machen wir, wenn Pete auf sie trifft?“
Eine mehr als gute Frage.

Nick und ich stehen vor einem Haus etwa 60 Meter vom „Mercy Seat“ entfernt. Ich frage ihn zum letzten Mal, ob wir nicht doch lieber die Sheriffs einschalten sollen. Er schüttelt wieder den Kopf. Er hält nicht viel von staatlichen Institutionen. Und zu ebendiesen gehören die Sheriffs zweifelsfrei.
Wir beide sind nicht alleine da. Der Preacherman begleitet uns. Er steht mit dem Rücken an der Hauswand direkt neben der Tür. Er hat unserem Getuschel bestenfalls mit einem halben Ohr zugehört. Das Ergebnis davon kannte er vorher. Genau wie ich. Nick ist Nick und bleibt Nick. Aber ich wollte das abschließend geklärt haben. Nicht, dass es hinterher heißt, hättest du doch was gesagt. Der Preacherman macht einen sehr konzentrierten Eindruck.
Nick drückt den Klingelknopf. Nicht kurz, sondern richtig schön ausgiebig. Es sind Schritte und ein missmutiges Gemurmel von drinnen zu hören. Beides wird langsam lauter, bis die Tür geöffnet wird. Ein Mann sieht uns sehr erstaunt an. Scheinbar hat er mit uns nicht gerechnet. Und er scheint sich auch nicht unbedingt über uns zu freuen.
Bei dem Mann handelt es sich um Heinz Schulz. Der Nachbar, der Nick immer die meisten Probleme bereitet. Der Mann, der in der nie initiativ gewordenen Bürgerinitiative auf dicke Hose machen wollte. Das unangenehme Großmaul.
„Was wollen Sie denn hier? Ich denke nicht, dass wir was zu besprechen haben.“
Während er spricht scannt der die Gegend ab. Wahrscheinlich sucht er nach dem Preacherman und dem Watchman. Die beiden haben ihm am Samstag den Tag versaut. Er stellt fest, dass die Luft rein ist.
„Hauen Sie ab! Verlassen Sie sofort mein Grundstück!“
Gleichzeitig will der die Tür wieder zu werfen und muss dabei feststellen, dass er sich geirrt hat. Nicht nur etwas, sondern total. Die Luft ist nicht rein. Der Preacherman ist da. Er hat bis zu diesem Augenblick vollkommen unbeweglich direkt neben der Tür gestanden. Jetzt geht die Post ab. Und zwar richtig.
Der Preacherman hat die ganze Zeit seinen kleinen Schlagstock in der rechten Hand gehalten und steckt den blitzschnell in den Türrahmen, so dass die Tür nicht ins Schloss fällt, sondern aufgehalten wird. Gleichzeitig drückt er mit seiner linken Hand mit viel Schwung die Tür auf und marschiert sofort ins Haus. Der Schulz wird bei der ganzen Aktion drei, vier Schritte nach hinten befördert und starrt den Preacherman mit weit offenem Mund an. Nick und ich sind auch sofort im Haus und schließen die Tür von innen.
Heinz Schulz spricht nicht, er glotzt uns nur an. Noch weiß er nicht, warum wir wirklich da sind. Vielleicht hat er ja eine Ahnung. Vielleicht auch nicht. Aber wir sind ja keine Unmenschen und werden ihm gleich sagen, worum es denn so geht. Ich glaube aber nicht, dass ihn das erfreuen oder gar beruhigen wird.
Bevor wir aber dazu kommen, das Gespräch zu beginnen, guckt sich Nick eine große Vase aus Porzellan kurz an. Dann schubst er das Teil mit einem gezieltem Hüftstoß von seinem Schemel. Der Flur ist recht klein, dadurch ist der Radau um so größer. Die Vase schlägt auf dem gefliesten Boden auf und das war es dann für sie auch. Sie ist jetzt quasi eine Ex-Vase und fängt ein neues Leben als Scherbenhaufen an.
„Ups! Wie konnte mir das denn passieren.“
Nick tut ganz erstaunt. Der Preacherman und ich bleiben absolut unbeeindruckt und behalten den Schulz fest im Blick. Nicht dass der auf dumme Ideen kommt. Der ist aber ganz bei seiner Vase, beziehungsweise bei dem, was davon noch übrig ist. Ein paar Scherben. Ein paar rumliegende Blumen. Und ein paar Liter Wasser, die sich, wie es so die Art von Wasser ist, ihren Weg suchen.
„Wissen Sie überhaupt, was so was kostet?“
Nick stupst mich.
„War da ein Preisschild dran? Meinst du, der handelt mit dem Zeug? Meinst du, das ist legal?“
Dem Preacherman wird das alles wohl zu kindisch. Er packt den Schulz am Hemd, dreht ihn etwa um 90 Grand und gibt ihm einen kleinen Schubser. Jetzt sitzt er auf der Treppe nach oben. Der Preacherman stellt einen seiner schweren Stiefel neben dessen Hintern auf die Treppe und beugt sich zu ihm herunter. Der Schulz wirkt nur sehr bedingt glücklich.
„Wir sind deswegen hier.“
Jetzt zieht er die beiden Bilder von den Schlägertypen aus der Tasche und hält sie ihm vors Gesicht. Wir können ihm ansehen, dass ihm die Typen nicht unbekannt sind. Jetzt wirkt er noch nicht einmal mehr bedingt glücklich. Beinahe könnte man das schon als vollkommen unglücklich bezeichnen.
„Wir haben gestern mit beiden gesprochen.“
Während ich meinen coolen Blick beibehalte, bin ich doch überrascht. Ich war nur bei einem Gespräch dabei, aber so wie der Preacherman das Wort beide betont hat, habe ich keinen Zweifel, dass er mit beiden auch beide meint. Offenbar haben der Preacherman und der Watchman da noch was geklärt. Offenbar wollten sie nicht, dass einer von uns dabei ist. Wahrscheinlich ist es besser, wenn ich mich damit nicht weiter beschäftige. Wir wissen nicht viel über den Preacherman und wir wissen noch weniger über den Watchman. Und ich denke nicht, dass ich über dieses Gespräch vom Vortag irgendwas wissen will. Ich beginne schon zu vergessen, was ich bis gerade gar nicht gewusst habe. Sicher ist sicher.
„Du hast jedem von denen 500 gegeben, damit sie den Nick verprügeln. Die Kohle haben sie sich ja redlich verdient, das konntest du dir ja Samstag in seiner Kneipe noch angucken. Die Macken sind ja noch nicht weg.“
Der Schulz hat jetzt nicht mehr nur ein wenig Angst, der hat inzwischen eine richtige Scheißangst. Er zittert, aber so richtig. Der ganze Körper fängt an zu beben. Der Preacherman sieht sich das Elend vor ihm an.
„Wir werden jetzt gehen. Wenn du noch einmal irgendwelchen Ärger machst oder wir auch nur glauben, du könntest irgendwelchen Ärger gemacht haben, besuchen wir dich wieder. Wenn du dann richtig Glück hast, kommen wir mit den Sheriffs und regeln das dann über die, wenn du weniger Glück hast, kommen wir alleine und regeln das selbst.“
Noch mehr Wasser sucht sich seinen Weg. Der Schulz hat wohl die Kontrolle über seine Blase verloren. So dolle schwitzen kann kein Mensch. Von dem unangenehmen Großmaul ist nicht mehr sehr viel übrig. Wir verlassen das Haus. Wir haben alles gesagt. Der Preacherman hat alles gesagt. Besser als Nick oder ich es hätten sagen können.
Draußen sieht Nick den Preacherman an und will etwas fragen. Ich höre die Frage bereits, bevor auch nur ein Wort aus seinem Mund gekommen ist. Ich packe seinen Arm.
„Frag nicht, ich glaube nicht, dass wir die Antwort hören wollen.“
Der Preacherman guckt uns an. Sein Blick ist eindeutig. Er sagt uns, dass wir die Antwort nicht hören wollen. Nicht jetzt, nicht später, sondern nie.

Der Preacherman und ich warten auf Zeus. Wir haben noch ein Date mit Ralf Schneider. Noch ein unangenehmes Großmaul. Vielleicht aber schon ein bisschen ruhiger, nachdem die Sprayer den VOD-Schriftzug bei seinen Hütten gemacht haben. Mir geht durch den Kopf, dass wir in den letzten Tagen einige Menschen ganz schön eingeschüchtert haben. Ohne Gewalt. Zumindest ohne körperliche Gewalt. Mein Blick geht rüber zum Preacherman. Zumindest ohne körperliche Gewalt, von der wir wissen. Zumindest keine, von der ich weiß.
Wir sitzen schweigend auf einer Mauer. Mit dem Preacherman kann man gut zusammen schweigen. Er strahlt dabei eine unglaubliche Ruhe, Gelassenheit und Souveränität aus. Ich sehe zu ihm rüber. Der Mann ist ein Rätsel. Wir wissen fast nichts über ihn und er steckt voller Überraschungen. Wo hat er diese Sachen gelernt? Dieses Auftreten. Diese Schnelligkeit. Diese Effizienz. Er ist eine Art Ein-Mann-Rollkommando. War er bei der Armee, den Sheriffs oder hat er das auf der Straße gelernt? Ich weiß gar nicht, was ich da bevorzugen würde. Und sein Bruder ist genauso.
„Was macht der Watchman denn jetzt so?“
Der Preacherman guckt zu mir rüber.
„Seinen Kram.“
Ich sehe in fragend an.
„Er ist zurück nach hause. Er hat hier erledigt, was er erledigen wollte.“
„Wo lebt er?“
Der Preacherman zögert, ehe er grinst.
„Wollen wir lieber über das Wetter reden?“
Ich nicke schicksalsergeben.
„Ja, gerne.“
Wir nehmen unser Schweigen wieder auf, bis Zeus auftaucht. Zusammen entern wir dann die „Bergmannsklause“. Wir haben den Eindruck, dass man uns wiedererkennt, was auch nicht verwunderlich wäre. Nicht nur, dass es erst vorgestern war, als wir unsere Premiere in dem Schuppen gefeiert haben, zusätzlich sind wir da auch ziemlich aufgefallen. Wir waren dort in einer fremden Welt. Und wenn alles gut läuft, machen wir heute unseren zweiten und gleichzeitig letzten Stop auf diesem eigenartigen Planeten.
Wahrscheinlich haben die am Sonntag schon vermutet, dass wir irgendwie alle zusammengehören müssen, nun haben sie Gewissheit. Mir ist vollkommen egal, ob sie das jetzt glücklich macht oder nicht. Aus den Augenwinkeln siehe ich, dass die Jungs am Kicker ihr Spiel abbrechen und sich wieder an ihren Tisch setzen. Sie wollen wohl nicht, dass ihnen ähnliches widerfährt, wie dem entthronten Lokalmatadoren Ralf Schneider, der am eigenen Tisch eine furchtbare Demütigung erleben musste.
Zunächst sieht es nicht so aus, als würden wir Getränke bekommen, aber der Preacherman regelt das mit einem freundlichem aber auch eindeutigem Blick. Kurz darauf steht die Frau Wirtin höchstpersönlich bei uns am Tisch und nimmt die Bestellung entgegen.
Die Gläser bimmeln.
Auftritt Ralf Schneider. Er ist zu früh. Bestimmt mit Absicht um sich einen Vorteil zu verschaffen. Clever gedacht, aber wir waren noch cleverer. Wir sind deshalb schon da und haben einen Tisch gewählt. Ihm bleibt nichts, als zu uns zu kommen. Er blickt uns drei an und kann seine Überraschung und Sorge nicht verheimlichen. Das hat er so nicht erwartet, er hat wohl mit Zeus alleine gerechnet. Ganz allein sein Problem.
Er ist echt nervös und hat auch ein weinig Angst. Er weiß nicht, was hier abgeht. Er kennt das Spiel nicht. Er kennt die Regeln nicht. Wir schon. Ganz allein sein Problem.
„Was hat das mit den Zeichen an meinem Haus und an der Agentur auf sich?“
Er starrt uns abwechselnd an. Wir starren gleichzeitig zurück. Zeus ist zwar Städter durch und durch, gibt jetzt aber ganz überzeugend die Unschuld vom Lande.
„Welche Zeichen? Keine Ahnung, wovon du redest.“
Das glaubt er nicht, aber das ist vollkommen egal. Zumindest uns. Er hat keine Ahnung. Von nichts. Ganz allein sein Problem.
Zeus mustert ihn intensiv, dann beugt er sich etwas vor. Genug Geplänkel. Wenn wir einfach nur nett ein Bier trinken wollen, gehen wir woanders hin.
„Ich will den Namen.“
„Ich kann euch den Namen nicht sagen.“
Der Preacherman und ich überlassen Zeus die Bühne. Die beiden sind alte Kumpels. Wir geben die Dekoration. Der Preacherman glänzt in der Rolle des Abschreckers, indem er mit aufmerksamem, finsterem Blick dasitzt, Ich hingegen habe keine passende Rolle gefunden. Also bin ich einfach da. Das aber sehr überzeugend. Ich erinnere mich, dass hier das Rauchen verboten ist und zünde mir daher eine an. Die Asche geht in die Blumen. Die Frau Wirtin schäumt und kocht vor Wut, hält aber den Mund. Die Abschreckung durch den Abschrecker wirkt hervorragend.
„Doch kannst du. Vielleicht willst du nicht. Aber das ist was vollkommen anderes. Du solltest vielleicht deine Aussage noch einmal überdenken.“
Bei diesen Worten zückt er sein Handy und lässt den Schneider einen Blick auf das Display werfen. Der Schneider sieht sich selbst. Er sieht sich vor dem Puff. Er denkt noch einmal nach. Das erkennen wir wieder daran, dass sich seine Stirn bewegt. Und die Bewegungen produzieren ein Ergebnis.
„Gerd Wolsch.“
Nie gehört. In Gedanken gehe ich die Stadtverwaltung durch, aber auch da klingelt nichts. Aber natürlich kenn ich nicht alle da. Aber zumindest die Wichtigen und die, die sich selbst zu den Wichtigen zählen, sind mir schon ein Begriff. Ich sehe Zeus und dem Preacherman an, dass es ihnen genau so geht. Nie gehört. Wer soll das den jetzt sein? DreiElf bekommt sofort eine SMS mit dem Namen von mir. Der kann bestimmt auch von zuhause abchecken, ob es den bei der Stadt gibt.
„Wenn der Name falsch ist, kommen wir nicht wieder. Dann geht das Bild direkt an deine Frau.“
Guter Schachzug von Zeus. Wir warten, aber der Schneider sagt nichts mehr dazu. DreiElf schickt seine Antwort. Einen Gerd Wolsch gibt es bei der Stadtverwaltung nicht und hat es auch in der Vergangenheit nicht gegeben.“.
Zeus hakt nach. Dabei spielt er mit seinem Handy so rum, dass Schneider das Bild von sich selbst vor dem „Salome“ wieder gut sehen kann.
„Hast du noch einmal in aller Ruhe drüber nachgedacht, wer das für den bezahlt haben könnte?“
„Ich habe absolut keine Ahnung.“
Wir lassen ihm noch ein paar Augenblicke Zeit, aber es kommt nichts mehr. Bleibt die Frage, ob er blufft und mit hohem Einsatz zockt oder nicht. Werden wir bald wissen. Wir schmeißen ein paar Euro auf den Tisch und hauen ab.
Vor der Tür klatscht sich Zeus mit der Hand vor die Stirn. Zuerst denke ich, dass sich da wohl ein kleines Insekt oder etwas in der Art ungebeten niedergelassen hat. Aber die kalte Jahreszeit deutet dann doch eher drauf hin, dass ihm gerade noch etwas eingefallen ist.
„Jetzt habe ich ihm gar nicht das Bild von der Gestalt gezeigt, die zuletzt den Puff verlassen hat.“
Stimmt hat er nicht. Wir gucken uns an. Keiner scheint zu glauben, dass der Typ jetzt noch eine Rolle spielt. Aber letztendlich weiß man ja nie.
„Heute nicht mehr. Den können wir immer noch einmal besuchen, wenn wir die Info doch brauchen. Vielleicht dann auch bei ihm zuhause. Dann können wir auch gleich seine bestimmt entzückende Frau kennen lernen.“
Der‚Vorschlag des Preacherman stößt auf breite Akzeptanz.

Ich schließe die Wohnungstür auf. Endlich zuhause. Luz liegt auf der Couch. Es läuft die „Sleep No More“ von den Comsat Angels. Sehr düster. Sehr schön. Sehr unbekannt. Aber insbesondere „Be Brave“ und „Dark Parade“ sind richtige Kracher.
Ich küsse sie und drücke ihr den mitgebrachten Blumenstrauß in die Hand, Sie guckt sehr überrascht.
„Oh danke. Wo hast du die denn um die Uhrzeit noch herbekommen?“
„Die sind von Fleuraub.“
Jetzt guckt sie mich schon etwas verwirrt an. Sie scheint das nicht zu kennen. Blumen, die man auf dem Friedhof hat mitgehen lassen, kommen dann von Fleuraub. Das habe ich seit vielen Jahren nicht mehr gemacht, aber heute konnte ich nicht anders, als wir auf dem Rückweg am Hauptfriedhof vorbeigekommen sind. Luz fragt nicht weiter nach.
Eigentlich steht mir der Sinn nach Schlafen, aber es gibt noch etwas zu tun. Ich hole uns Ramazotti und Eis. Luz fährt den Rechner hoch.
Zuerst schauen wir bei der Seite der WAZ vorbei, aber da ist nicht das, worauf wir warten. Luz hat heute vorher auch schon mehrmals geguckt, aber da passiert bisher nichts. TomTom war gestern unterwegs und hat aus dem Ordner, den es zwar eigentlich nicht gibt, der aber trotzdem aus Seelmanns Büro verschwinden konnte, ein paar Dokumente gescannt. Dokumente, aus denen eindeutig hervorgeht, dass der Seelmann da mit dem Gewerkschaftshaus was dreht und dass er dabei Unterstützung hat. Dokumente, mit denen sie eine fundamentierte Fortsetzung des Berichts vom letzten Donnerstag schreiben können. Wenn sie denn wollen. Eine Fortsetzung, die von Seelmann und der Verwaltung nicht so leicht ignoriert und dementiert werden kann. Warten wir ab, ob sie wollen. Vielleicht auch, ob sie sich trauen. Oder ob vielleicht Parteisoldaten schon im Vorfeld für Frieden sorgen.
Danach widmen wir uns dem uns total unbekannten Gerd Wolsch. Wir stöbern in den Social Media. Mir fällt auf, wie geschickt Luz dabei inzwischen vorgeht. Sie hat da in den letzten Tage Erfahrung gesammelt und die setzt sie jetzt ein. Wir finden dabei zwar nichts, aber wir haben auch nicht viel Zeit darauf verschwendet, nichts zu finden. Ich küsse sie. Weil ich es darf. Weil nur ich es darf.
Also Google. Und die Bildersuche zeigt uns schnell, das wir zumindest nicht ganz falsch unterwegs sind. Wir finden ein Bild, das einen der Männer zeigt, den wir vor dem Puff fotografiert haben. Und wir finden eine Adresse und eine Telefonnummer. Ansonsten scheint er bei einer Krankenkasse zu arbeiten. Keine Ahnung, ob das wirklich interessant ist, aber es scheint nun mal so zu sein.
Dann stöbern wir hier und gucken da. Wir finden ganz viele tolle Sachen und was auch immer, aber nichts, was uns auch nur einen Schritt weiterbringt. Ein neuer Ramazotti muss her. Mit Eis. So wie wir ihn mögen.
Die Gläser bimmeln.
Wir sind kurz davor aufzugeben, als Luz noch mal die Eingabe im Suchfeld leicht verändert. Die Trefferleiste bleibt ähnlich. Die meisten Seiten haben wir schon besucht, das zeigt uns die Farbe der Links. Wir wandern so durch das Suchergebnis. Plötzlich sehe ich einen Eintrag, der mich sofort ganz dolle interessiert.
„Da, der dritte von oben. Klick da mal drauf. Ich glaube, das ist was für uns.“
„Das ist eine Traueranzeige.“
„Sehe ich auch, jetzt klick schon.“
Sie klickt. Die Anzeige öffnet sich. Ein gewisser Ludwig Wolsch ist gestorben. Ist aber schon ein paar Jahre her. Ich lese. Ich nicke. Das ist es. Ich grinse Luz an.
„Das ist wohl der Vater von diesem Gerd Wolsch. Das ist aber nicht wichtig. Interessant ist die Schwester vom guten Gerd. Die Anne, die diesen Herbert Stupski geheiratet hat. Und er ist ein recht hohes Tier im Personalamt. Und ich denke nicht, dass es Männer, die Herbert Stupski heißen wie Sand am Meer gibt.“
Laut der Online-Ausgabe vom Örtlichen gibt es genau einen.
Während ich den Rest vom Ramazotti auf unsere Gläser verteile, schreibt Luz eine Mail. An die Sprayer. Mit den Adressen von Gerd Wolsch und Herbert Stupski.
Sie führt den Mauszeiger zum Senden-Button. Sie strahlt mich an. Mit dem Lächeln, das Granit schmelzen kann.
In ihren Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut.
Die Gläser bimmeln.

Versendet.

***
Am Freitag geht es weiter.

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Freitag, 10. Februar 2017
22 The Invincible Spirit “Devil Dance”
Montag

Der Wecker gibt mir eindeutig zu verstehen, dass die Schlafenszeit vorbei ist. Durch einem gekonnten Hieb mit der Todeskralle schalte ich ihn aus. Montag. Anpfiff. Das Spiel geht los. Manchmal verliert man, manchmal gewinnen die anderen. Mein Optimismus scheint mit dem Hund raus zu sein. So muss er zumindest nicht dabei sein. „Rock Lobster“ von The B-52’a, zweifelsfrei besser als „Tainted Love“ in der vorherigen Woche. Aber halt nicht „Blue Monday“.
Mir geht zuerst durch den Kopf, dass es heute schon wieder so weit ist. Die Meister aller Ämter versammeln sich zur großen Runde. Aber zum Glück bin ich meiner Zeit gedanklich eine Woche voraus. Ich atme durch und bringe den Hummer zum Schweigen.
Ein neuer Tag fängt an.

Als wir gestern aus der „Bergmannsklause“ raus waren, haben wir uns ein Stück weiter noch kurz getroffen. Der Schneider ist ein Arschloch, da waren wir uns alle einig. Und um ihm noch ein wenig Hilfestellung dabei zu geben, mit den Infos über den Typ aus dem Puff rüberzukommen, haben wir ihm die Sprayer geschickt. Auch wenn unklar ist, ob er wirklich irgendwie mit drin hängt oder nicht, schaden wird es nicht. Wenn nicht, ist es halt für die nicht gezahlten Löhne von Zeus. Und die Sprayer hatten zuletzt auch keine richtige Aufgabe. Die sollen nicht aus der Übung kommen. Sie haben aber die Zeit genutzt, die kleinen Zeichen im Stadtgebiet zu verteilen. Überall. Bis in die hintersten Ecken. Immer schön in Schwarz oder Rot. Immer schön in Schablonenschrift. Hunderte.
Pete ruft den Blog auf, während ich ihm dabei über die Schulter schaue. Ein neuer Eintrag. Wir sehen uns die Bilder an. Wir haben ihnen beide Adressen gegeben. Die vom Wohnhaus und die von der Versicherungsagentur. Die haben das aber als „und“ und nicht als „oder“ interpretiert. Wir sehen erst, wie ein Schriftzug am Wohnhaus entsteht, und dann gibt es Bilder, wie die Agentur mit einem weiteren versehen wird. VOD. In Schwarz. In Schablonenschrift. Wie es sich gehört.
Pete schickt Zeus eine Mail, damit er sich das auch ansieht. Er antwortet sofort. Schneider hat das schon vor uns gesehen. Er war in Panik, als sich Zeus bei ihm gemeldet hat, aber der hat natürlich so getan, als wüsste er von nichts. Die beiden haben ein Treffen für den morgigen Abend verabredet. Wir werden da sein.

Ich bringe den Kämmerer zur Tür und sehe ihm hinterher. Das mache ich nicht aus Respekt, sondern weil ich sicher gehen will, dass er wirklich weg ist. Möglichst schnell, möglichst weit. Nicht, dass er hier noch mit irgendwem spricht. Das muss nun wirklich nicht sein.
Vorhin ist der unvermittelt hier aufgetaucht. Ohne sich vorher bei mir mal zu melden. Einfach Hallo und hier bin ich. Er scheint von sich selbst zu glauben, er sei wohl einer. Einer, auf den die Welt schon immer gewartet hat. Oder wenn schon nicht die Welt, dann zumindest die Stadtverwaltung. Wahrscheinlich hat er irgendwen hier im Amt vorher kontaktiert, damit er keinesfalls vergebens kommt. Parteisoldaten marschieren bei uns in der Stadt in jedem Amt in rauen Mengen. Schön im Gleichschritt.
So schnell hatte ich aber auch noch nicht mit ihm gerechnet. Freitag haben wir uns beim OB getroffen und heute schneit er schon hier rein. Da scheint er aber fette Beute gewittert zu haben. Aber da hat es für ihn hier gar nichts zu holen gegeben. War der plump. Fragt ganz direkt, was denn auf dem Handy zu sehen war, und verspricht mir gleichzeitig tolle Dinge. Einen besseren Job und alles. Wenn ich was zu bieten hätte, was ihm helfen könnte. Er habe große Ziele und diese wolle er auch schnell erreichen .Er sei hier der kommende Mann und es sei gut, sich jetzt schon bei ihm in Position zu bringen. Als er dann mit seinem Referat fertig war, hat er mich erwartungsvoll angeschaut. Und dabei auf was auch immer gewartet, während ich einfach nur ausdruckslos und schweigend zurückgestarrt habe. Als der dann wieder reden wollte, war das der Moment auf den ich gelauert habe. Er öffnet den Mund, doch ich spreche. Aber als ich ihm mitteile, dass ich gar nicht wirklich wisse, was er denn wohl wolle, ist er dann wutentbrannt aufgesprungen und hat gebrüllt, er würde hier seine Zeit verschwenden. Dabei wollte er ja irgendwas von mir und hat letztendlich wohl eher meine verschwendet. Und dann sind wir zur Tür.
Der Typ geht gar nicht, da ist ja unser derzeitiger OB noch ein echtes Highlight gegen. Und der will unsere Verwaltung regieren. Und das wohl auch möglichst bald. Am liebsten schon ab morgen.
Kopfschüttelnd und in Gedanken versunken drehe ich mich um. Direkt vor mir steht unsere Judith und sieht mich mit ganz ernstem Gesicht an.
„Wenn du sie nicht überzeugen kannst, verwirr sie!“
Sie unterstreicht die Worte mit einigen seltsamen Gesten, die wohl irgendwie noch zusätzliche Wirkung erzeugen sollen. Oder was auch immer. Dann geht sie an mir vorbei und zurück in ihr Büro. Ich muss zugeben, verwirrt bin ich schon ein wenig, aber hat sie mich vorher von irgendwas überzeugen wollen? Falls ja, ist das komplett an mir vorübergegangen. Innerlich winke ich resigniert ab. Vermutlich hat sie gestern wieder bei irgendeinem Astrosender im Sat-TV angerufen. Es ist für mich jetzt langsam Zeit zu gehen, ich habe noch zu tun.

Draußen ist schon reichlich dunkel. Ich bin gerade an der Ecke von unserem Bau, als plötzlich ein Mann quasi aus dem Nirwana erscheint und mich in den Seitenweg drängt. Carsten Schmitz . Zumindest bin ich nicht unter die Räuber gefallen. Aber er hat mich total auf dem falschen Fuß erwischt.
„So, Krawallek, jetzt will ich endlich wissen, warum du das machst. Was ist eigentlich los?“
„Alles, was nicht angebunden ist.“
Ich finde mich selbst weder originell, noch witzig, mir geht es nur darum, ein weinig Zeit zu gewinnen. Er tritt jetzt ganz dicht an mich heran. Ich kann seinen Atem riechen. Das ist nicht schön. Er hätte sich wirklich vorher die Zähne putzen können, wenn er mir schon so nahe kommen will.
„Jetzt spuck aus, was willst du, verdammt?“
„Ich sage nichts ohne meinen Anwalt. Du hast doch nichts dagegen, dass die große Vogelscheuche dabei ist, oder?“
In dem Moment, in dem ich das sage, legt sich die große Pranke des Preacherman auf seine Schulter. Schmitz zuckt zusammen und dreht seinen Kopf. Jetzt dämmert ihm, dass ich nicht geblufft habe. Er starrt den Preacherman an, als wäre dieser der Leibhaftige oder zumindest einer seiner leitenden Angestellten. Vielleicht ist dem ja auch so. Wir wissen nicht, womit er sein Geld verdient. Wir wissen fast nichts über den Preacherman.
Der Preacherman und ich sind verabredet und ich bin ihm eigentlich gerade entgegen gegangen, als der Schmitz aufgetaucht ist. Der war aber wohl so auf mich konzentriert, dass er den Rest der Welt nicht so beachtet hat. Erstaunlich ist aber, wie leise der Preacherman sich sehr schnell bewegen kann. Absolut lautlos hat er sich genähert und der Schmitz hat nichts mitbekommen. Bis es zu spät war.
Die Situation hat sich somit um 180 Grad gedreht. Der Schmitz, der gerade noch geglaubt hat, echt gute Karten zu haben, steht da jetzt plötzlich mit einem ganz miesen Blatt da. Der Preacherman hat im Skat gelegen. Jetzt ist sein Grand kaputt.
Aber er gibt sich nicht sofort geschlagen, sondern versucht ganz überraschend abzuhauen. Der Preacherman ist schnell. Unglaublich schnell. Schneller als ich gedacht habe. Und viel schneller als der Schmitz gedacht hat. Der Preacherman hat zwei, drei schnelle, große Schritte gemacht, den Schmitz mit einer Hand gepackt und dann mit dem Rücken zu Wand wieder abgestellt.
„Schlechte Idee, mein Junge.“
Dem Schmitz ist alle Farbe aus dem Gesicht gefallen. Auf einen Schlag. Der ist jetzt mal total bleich. Vorsichtig schaue ich zu Boden. Zumindest hat er sich nicht eingenässt. Das wäre aber auch zu peinlich gewesen. Obwohl bestimmt nicht viel dazu gefehlt hat.
„Hat der Typ mich wirklich große Vogelscheuche genannt?“
Der Schmitz schafft es tatsächlich noch bleicher zu werden. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Der Preacherman guckt zu mir rüber und hat nur ganz locker seine Hand auf der Brust vom Schmitz liegen.
„Ja, so hat er dich bezeichnet.“
Es ist unglaublich, aber der Schmitz wird noch eine Spur blasser. Langsam beginne ich mir doch Sorgen um ihn zu machen, aber er hat dieses Gespräch ja gewollt. Vielleicht nicht genau so, wie es gerade verläuft, aber zumindest ging die Initiative ganz allein von ihm aus.
Der Preacherman wendet sich wieder dem Schmitz zu. Es sieht irgendwie für mich so aus, als würde er jetzt ausholen um ihn zu schlagen. Für den Schmitz sieht es wohl auch so aus, denn er macht seltsame Bewegungen, mit denen er aber auch gar nichts verhindert hätte. Während der Schmitz auf den Einschlag wartet, fasst der Preacherman einfach nur sein Kinn und hebt dabei seinen Kopf so, dass er zu ihm aufsehen kann.
Der Preacherman steckt heute wieder voller Überraschungen.
„Sei es drum. Was willst du von Waller?“
Schmitz ist perplex. Die Situation überfordert ihn total. Er sucht nach Worten, aber das Unterfangen bleibt vollkommen erfolglos. Der Preacherman hat immer noch sein Kinn in der Hand. Er wackelt ein wenig mit dem Kopf vom Schmitz.
„Du müsstest jetzt wirklich was sagen. Das Gespräch findet doch auf deinen Wunsch hin statt.“
Der Schmitz guckt hektisch zwischen dem Preacherman und mir hin und her. Zu mir zu gucken ist für ihn nicht leicht. So wie der Preacherman immer noch seinen Kopf hält, muss er seine Augen unglaublich verdrehen, um mich zu sehen. Das sieht schon grauselig aus, ein kleines bisschen Horrorschau. Und ich frage mich, ob bei so was auch was schief gehen kann. Wenn die Augen so stehen bleiben, muss er demnächst beim geradeaus gehen den Kopf ganz schön weit nach links drehen, damit er dahin gucken kann, wo er hin gehen will. Bestimmt bis zum Anschlag.
„Ich weiß nicht, was der Waller von mir will. Warum er das macht.“
Immerhin. Es spricht, auch wenn die Antwort nur bedingt zur Frage passt. Der Preacherman nimmt ihn ins Visier.
„Macht er denn was? Oder glaubst du nur, dass er was macht? Vielleicht macht das, was du meinst, auch irgendwer sonst. Woran kannst du genau festmachen, dass der Waller was auch immer macht?“
Der Schmitz sucht jetzt hektisch nach Worten, aber die Worte, die er sucht, sind nicht da. Weil es die nicht gibt. Er senkt den Blick. In dem kleinem Rahmen, dem ihm der Preacherman lässt.
„Ich glaube einfach, dass es so ist. Ich wüsste nicht, wer das sonst sein könnte.“
„Weil es einen Grund gibt, nicht wahr?“
Obwohl äußerlich alles bleibt, wie es ist. Kann ich sehen, wie er zusammenbricht.
„Keine Ahnung, wie er das erfahren hat, dass ich ihn damals beim OB angeschissen habe.“
Meine Miene verändert sich nicht. Ich lasse mir nichts anmerken, aber ich habe nicht die Spur einer Ahnung, wovon er redet. Wenn er mich beim OB für irgendwas angeschissen hat, müsste das Folgen gehabt haben. Unangenehme Folgen. Und daran würde ich mich bestimmt erinnern.
„Dabei habe ich ja nur gesagt, das er das war. Ich habe behauptet, ich hätte das alles gesehen, aber das stimmt gar nicht. Ich habe ihn einfach nur beschuldigt und angeschissen“.
Ich kann ihm gar nicht mehr folgen, das ist etwas wirr. Also belauere ich ihn weiter mit unbewegtem Gesicht. Er soll jetzt mal alles erzählen.
„Bei der Amtseinführung hatte doch irgendwer diese Sirene im Festsaal versteckt und per Fernbedienung eingeschaltet, als er seine Begrüßungsrede gehalten hat. In dem Höllenlärm ging dann ja alles unter und die ganze Party war versaut. Der war dann ja stocksauer, aber keiner wusste, wer das gewesen ist. Da habe ich dann einfach behauptet, dass du das warst.“
Meine Gedanken fahren Karussell. Und das sehr schnell. Die nächste Fahrt geht rückwärts. Das mit der Sirene damals war ich. Da war total geil, als ich das Ding in Gang gesetzt habe und erst keiner wusste, wo das Teil war. Und dann keiner eine Ahnung hatte, wie das Ding wieder ausgeht. Da musste erst einer von der Feuerwehr kommen, aber bis dahin war das Fest geschrottet. Aber ich musste mich dafür nie irgendwo verantworten. Es ist ja schon paradox, dass der Schmitz mich für etwas angeschissen hat, was ich auch wirklich gemacht habe, und dabei selbst glaubt, dass ich das gar nicht war. Aber warum hat der OB dann nichts unternommen, als er den Schuldigen präsentiert bekommen hat?
Der Schmitz merkt, das die Reaktionen nicht so sind, wie er erwartet hat. Eigentlich gibt es auch gar keine wirklichen Reaktionen. Von mir nicht. Vom Preacherman sowieso nicht. Der Schmitz versucht noch mal zwischen uns hin und her zu schauen. Er weiß nicht, warum die Sache jetzt nicht zu Ende ist. Er hat es doch zugegeben. Plötzlich zuckt er mit dem Kopf.
„Verdammte Scheiße. Wenn es dass nicht ist, dann seid ihr die Typen gewesen, die bei Seelmann ...“
Der Preacherman hat das Kinn los gelassen und einen Finger über die Lippen vom Schmitz gelegt.
„Das solltest du gar nicht weiter denken und erst recht nicht aussprechen. Aber wo du unbedingt über den Seelmann reden willst, was hast du denn so mit dem zu schaffen?““
Carsten Schmitz ist endgültig durch. Keinerlei Widerstand mehr.
„Ich bin ein Bote. En Mittelsmann.“
„Für wen?“
„Das weiß ich nicht. Alles läuft anonym über das Internet. Keine Ahnung, wer dahintersteckt. Die Kohle hat gestimmt und es erschien mir sicher.“
So wie er aussieht, glauben wir ihm. Der ist nur noch ein nasser Sack.
„Du bist bestimmt nicht der einzige. Wer hängt noch mit drin?“
Der Preacherman hat ihn längst losgelassen, der macht nichts mehr. Der will nach Hause. Und zwar schnell. Sonst nichts.
„Tobias Klein. Mehr weiß ich nicht.“
Wir schauen uns an. Das war es. Wir lassen ihn gehen. Der Preacherman sieht mich an und grinst.
„Da hat die Pfeife dich also voll abgelinkt. Und was ist dann passiert?“
„Nichts. Und dabei hätte es tatsächlich den Richtigen getroffen.“
Das schallende Gelächter des Preacherman bricht sich seinen Weg durch die inzwischen vollkommene Dunkelheit.

Der Preacherman ist mit dem Auto gekommen. Ich wusste gar nicht, dass er eins hat. Aber wir wissen auch sonst fast nichts über den Preacherman. Es ist ein sehr großer, schwarzer Kombi mit langer Ladefläche hinten. Sieht irgendwie ein bisschen aus wie ein Leichenwagen. Würde so vom Klischee her voll zum Preacherman passen. Ich muss grinsen.
„War mal ein Leichenwagen. Habe ich voll billig bekommen. Riecht aber noch ein klein wenig.“
Ich steige ein. Es stinkt höllisch nach Tod. Wir holen den Watchman ab. Er steht irgendwo an einer Ecke im Nirgendwo. Er steigt ein und sagt dem Preacherman, wo er hin fahren soll.
Etwas später sitzen wir aufgereiht wie Hühner auf der Stange in einem verlassenen Gebäude auf einer Bohle und schauen auf das Nachbarhaus. Und das schon eine Weile, obwohl es dort rein gar nichts zu sehen gibt. Alles dunkel. Keiner da. Wir warten. Lange.
Bis endlich in der Wohnung, die uns interessiert, Licht angeht. Jemand kommt nach Hause. Jetzt schauen wir aufmerksamer hin. Dann ist auch Licht in dem Zimmer direkt vor uns. Ein Mann steht in dem Zimmer. Der Watchman stößt mich an.
„Das ist er.“
Ich nicke. Das ist er. Bisher habe ich ihn nur auf einem Foto gesehen, aber zweifelsfrei. Das ist er.
Wir verlassen die halb verfallene Hütte durch die hintere Tür und gehen zum Nachbarhaus rüber. Der Watchman führt uns über den Hof.
„Die Tür ist wohl offen.“
Der Watchman drückt mit der Schulter gegen die Tür. Wir betreten das Haus durch die jetzt wirklich offene Hoftür. Ich bin mir nicht sicher, ob die Tür schon offen war, bevor der Watchman angefangen hat zu drücken. Solche Geräusche geben offene Türen in der Regel nicht von sich. Wir steigen in die erste Etage und bleiben vor einer Wohnungstür stehen. Vorne die beiden Brüder. Dahinter ich. Wir klingeln.
Der Typ den wir durchs Fenster gesehen haben öffnet die Tür.
„Verdammte Scheiße. Ihr?“
Ich bin mir sicher, dass er mit „ihr“ in erster Linie den Watchman und den Preacherman gemeint hat, denn wir zwei kennen uns nun gar nicht. Und gesehen haben kann er mich hinter den beiden auf keinen Fall. Wir betreten die Wohnung. Ich bilde die nicht beachtete und eigentlich auch nicht erforderliche Nachhut. Der Typ wirkt alles andere als glücklich über den Besuch. Er weiß zwar noch nicht, warum wir da sind, aber er scheint medial veranlagt zu sein, denn ihm schwant wohl nichts Gutes.
Vorhin dem Preacherman bei seiner Gesprächsführung zuzusehen, war schon beeindruckend, aber die beiden Brüder als Team sind eine Sensation. Und dieser Bursche ist mal ein ganz anderes Kaliber als so ein Carsten Schmitz. Das ist ein Schlägertyp, aber er versucht hier jetzt niemanden zu schlagen. Es dauert nicht lange, bis die beiden alles erfahren haben, was wir wissen wollen. Ganz ohne Gewalt. Nur durch überzeugende Wortwahl, Mimik und Gestik. Wahre Meister der verbalen und nonverbalen Kommunikation.
Der Preacherman setzt mich am „Mercy Seat“ ab. Ich habe dort noch was zu klären.

Schlaf wird maßlos überschätzt.

***
Am Montag geht e weiter.

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Montag, 6. Februar 2017
21 Stiff Little Fingers “I Don’t Like You”
Sonntag

Draußen ist es so neblig, dass man kaum feststellen kann, was für ein Wetter eigentlich ist. Wir sind dann doch ganz froh, als wir unser Ziel erreichen. Es wäre echt cleverer gewesen, den Fiat zu nehmen. In der „Bergmannsklause“ waren wir noch nie. Und falls ich mich gefragt haben sollte, warum, bekomme ich die Antwort mit dem ersten Blick durch das Fenster sofort serviert. Wir waren da noch nie, weil das genau die Art von Laden ist, in die wir nicht gehen. Da stimmt nichts, weder das Ambiente noch die Gäste. Aber die Pflicht ruft und wir hören ihr zu. Und wir gehorchen ihr auch.
Wir mussten uns schlau machen, wann denn so Fußball läuft, damit wir unseren Aufmarschplan erstellen können. Wir wollen in drei Gruppen aufkreuzen, wobei Gruppe 3 zuletzt kommt und eine Ein-Mann-Gruppe bestehend aus ausschließlich Zeus ist. Gruppe 1 hat den Anfang gemacht und wir haben Siouxsie und den Preacherman bereits durch das Fenster gesehen.
Jetzt entern auch Luz und ich die edlen Räumlichkeiten und blicken uns neugierig um. Die anwesenden Gäste und das Personal mustern uns mehr verächtlich als kritisch. Noch mehr solche eigenartigen Gestalten, die hier nicht hingehören. Allerdings geben weder die beiden noch wir zu erkennen, dass wir womöglich zusammengehören könnten. Und so suchen wir uns einen Platz in einer anderen Ecke.
Wir bestellen uns zwei Bier und bekommen die sogar recht schnell. Zuerst haben wir noch überlegt, einen Zwanziger auf den Tisch zu legen, damit klar ist, dass uns der Umgang mit hiesigem Geld durchaus vertraut ist. Am Tisch neben Siouxsie und dem Preacherman sitzt im Moment niemand, aber es gibt halbvolle Gläser und irgendwelchen Kram. Wenn alles so ist, wie wir es gerne hätten, sitzt da Ralf Schneider.
Der steht mit drei anderen Gestalten am Kicker und sieht auch noch genauso aus, wir vor ein paar Tagen vor dem Puff. Und er führt das große Wort. Schon wieder so ein unangenehmes Großmaul. Ich kann den auf den ersten Blick nicht leiden. Der Typ guckt mich auch noch an.
„Ey, du bist doch der, über den sie gestern in der Zeitung geschrieben haben.“
Ein wenig verwundert, dass er lesen kann, bin ich doch. Vielleicht hat es ihm aber auch seine Frau vorgelesen. Weiß ich aber nicht, ich war ja nicht dabei. Ehe ich mich entscheiden kann, ob ich etwas dazu erwidern möchte oder doch eher nicht, haut Luz schon was raus. Offenkundig kann sie den Typ wohl auch nicht so richtig leiden.
„Über dich werden sie erst schreiben, wenn du es in die Todesanzeigen schaffst.“
In ihren Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut.
Im Hintergrund ist das Lachen von Siouxsie gut zu hören. Auch seine drei Spielkameraden können sich nicht vollständig beherrschen, obwohl sie sich ganz dolle Mühe geben. Das passt ihm natürlich gar nicht in den Kram und er blafft sie harsch an, dass hier gespielt und nicht gelabert, geschweige denn gelacht, wird.
Ich lasse mich von der fröhlichen Atmosphäre anstecken und möchte auch etwas beisteuern. Daher schlendere ich ganz locker quer durch die Kneipe und lege eine Münze ans Kopfende vom Tisch.
„Gewinner bleibt, so lange er will.“
Die goldene Regel. Schon immer. Und überall. Niemand, der am Tisch was auf sich hält, kommt aus der Nummer raus. Eine Frage der Ehre.
Die vier gucken mich überrascht an. Das hatten sie nicht auf dem Plan. Hier ist ihr Revier. Hier sind sie wer. Wer auch immer. Sie wissen aber auch, dass sie keine Wahl haben. Eine Frage der Ehre halt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der Schneider mustert mich.
„Du hast doch gar keinen Partner oder willst du etwa mit dem Mädchen spielen?“
Ja, genau das will ich. Und das mach ich denen dann auch klar. In einfachen Worten und kurzen Sätzen, damit sie mich auch verstehen. Offenkundig scheinen die das irgendwie total lustig zu finden.
Kurz danach hat sich der Schneider mit seinem Partner durchgesetzt und wir sind dran. Er guckt Luz an.
„Kein Windmühlenrennen, Mädchen.“
„Du meinst bestimmt ohne drehen, oder?“
Dabei lächelt sie ihn an. So charmant wie ein Raubtier seine lecker aussehende Beute hungrig anlächelt kurz bevor es zuschnappt. Schneider merkt das nicht, wahrscheinlich merkt er meistens nicht viel.
„Du bist aber ganz schön helle.“
„Deshalb nennt man mich auch Luz.“
Das verseht er mal so gar nicht. Er ist vielleicht vieles oder zumindest das ein oder andere oder wenigstens irgendwas. Aber auf keinen Fall sonderlich helle. Viel Licht ist da nicht. Es gibt hellere Kerzen auf der Torte. Und davon nicht wenige.
Luz blinkt mich an. So ein bisschen verschlagen von der Seite. Ich verstehe sofort. Sie will die Arschlochnummer. Eigentlich eine Spezialität von Pete und mir als Duett, aber ich kann die auch als Solonummer. Und ich kann die gut. Nahezu perfekt. Und ich verspüre auch gleich Lust, die jetzt mit diesen Typen durchzuziehen. Luz wird mir assistieren. Und das mit Begeisterung.
„Wo möchtest du denn spielen. Vorne oder hinten?“
Luz zögert erst und wackelt ein bisschen mit dem Kopf. Der Kumpel vom Schneider macht den Eindruck, als befürchte er, dass das eventuell anders laufen könnte, als die sich das vorstellen. Vielleicht erinnert er sich aber auch gerade daran, schon mal irgendwann irgendwo gegen mich gespielt zu haben.
„Ach, ich glaube, ich nehme die wenigen Puppen. Ich freu mich, wir haben schon lange nicht mehr geflippert oder wie das hier heißt.“
So nehmen wir Aufstellung. Auf der einen Seite wir. Luz in der Abwehr, ich im Sturm. Auf der anderen Seite der Feind. Schneider hinten, sein Kumpel vorne.
„Auf zwei Sätze um ein Bier. Zu Null sowieso.“
Luz tut so, als würde sie nicht verstehen, um was es geht. Ich nicke mit sorgenvoller Miene. Schneider grinst. Scheinbar hat er Durst. Er wittert leichte Getränkebeute. Dabei fällt ihm aber nicht auf, aus welcher Richtung der Wind weht.
Ich lasse den ersten Ball einrollen. Das Gefälle ist nicht auf unserer Seite. Macht aber nichts, denn mein Schräggegenüber ist, wie fast alle, nicht gut mit der linken Hand. Seinen Schussversuch blocke ich und schiebe den Ball sofort zum linken Stürmer. Ein kurzes Gewackel und der Ball schlägt in der langen Ecke ein. Beim nächsten Ball zeige ich, dass auch der andere Außenstürmer weiß, wie so was geht.
Den dritten Ball spiele ich zum Mittelstürmer. Wie fast alle anderen auch, hat der gegnerische Stürmer schon jetzt die Mittelreiche hochgedreht, damit er auf keinen Fall seinem Kumpel im Weg steht. Zeit für etwas Arschlochnummer.
Ich habe die Hände nur locker auf den Griffen aufliegen und schaue den Typen an.
„Du musst die Mittelreihe runterdrehen.“
Er sieht mich irritiert an. Auf Gespräche und Tipps während des Spiels ist er nicht vorbereitet.
„Und du musst immer auf den Tisch gucken. Sonst verpasst du womöglich was.“
Er guckt mich immer noch irritiert an. Dann geht die Post ab, Ich packe die Griffe blitzschnell wieder fest an. Mit dem Mittelstürmer lege ich den Ball nach hinten und hämmere ihn mit Mittelreihe zum Drei Null in den Kasten. Ich bin auch mit der linken Hand gut. In den gegnerischen Reihen entsteht erste Unruhe. Die weiteren Gäste werden aufmerksam.
Den vierten Ball spiele ich erneut zum Mittelstürmer. Als er richtig liegt, gucke ich zu der Bedienung rüber.
„Darf ich hier drinnen rauchen oder muss ich raus gehen?“
Gleichzeitig mach ich ohne hinzugucken eine schnelle Bewegung mit der rechten Hand. Tor vier für uns. Ich gucke die beiden auf der andern Seite an.
„Passt ihr nicht auf?“
Das Personal hinterm Tresen erinnert sich an meine Frage und antwortet sogar im mehr oder weiniger ganzen Satz.
„Rauchen ist vor der Tür. Schon mal was von Rauchverbot gehört?“
Den nächsten Ball habe ich vorne links und spiele dann nach hinten zu Luz. Soll sie auch mal was tun. Sie ballert zwar nicht ganz so heftig, aber gut Dampf ist schon drin. Und sie ist unglaublich präzise. Ich postiere meine Figuren so, dass sie ihr nicht im Weg stehen, drehe sie aber nicht hoch. Zack. Schnelles ziehen. Schuss. Tor. Unterwegs nichts berührt. Sauber.
„Ralf, die verscheißern uns.“
Da hat er nicht unrecht. Das weiß auch Ralf. Aber was soll er machen. Es ist ein Frage der Ehre. Nicht mehr und nicht weniger. Und eine Frage von ein paar verlorenen Getränken. Bevor der nächste Ball einrollt, gucke ich Luz an.
„Du kannst ruhig schon rüber gehen.“
Sie nickt und schiebt die Stangen weg und umrundet den Tisch halb. Hinter dem Tor der anderen bleibt sie stehen und geht in die Hocke.
Der Ball rollt und ich blocke die gegnerische Mittelreihe. Der Ball liegt am Mittelstürmer.
„Wohin? Links oder rechts?“
„Von dir aus in die linke Ecke.“
Ihr Wunsch ist mir Befehl. Linke Ecke. Sechs Null.
Das zweite Spiel verläuft wortlos. Wir teilen uns die Tore. Jeder drei. Immer abwechselnd. Zwischendurch lässt Luz einen bei uns reingehen. So dass es nicht ganz offensichtlich ist, aber auch so, dass klar ist, dass das mit Absicht war.
Danach gehen uns auch schon die Gegner aus und wir setzten uns wieder. Die gewonnenen vier Bier werden geliefert. Bevor auch nur im Ansatz Langeweile aufkommen kann, geht die Tür auf und Zeus kommt rein. Und wir sehen allen an, was sie denken. Noch so ein Typ. Zeus beachtet uns natürlich nicht, sondern steuert direkt auf Ralf zu, der ihn auch erkennt.
„Alter, was führt dich hierher?“
„Ich würde gerne mit dir reden, besser aber so unter vier Augen, denke ich.“
„Was willst du denn? Wir haben uns ewig nicht gesehen und jetzt kommst du mir so?“
„Mag sein, dass du mich ewig nicht gesehen hast, aber ich dich neulich schon. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag. So gegen halb zwei.“
Okay, das stimmt zwar nicht ganz. Er hat ihn da ja gar nicht gesehen, sondern Pete und ich haben ihn gesehen. Aber wir wussten ja gar nicht, wen wir gesehen haben. Aber das weiß der Schneider ja nicht. Geht ihn eigentlich auch nichts an.
Aber wir können seinem Gesichtsausdruck entnehmen, dass er weiß, wo er denn gesehen worden ist. Weiterhin steht auf seiner Stirn geschrieben, dass das doch mal nicht an die große Glocke gehängt werden soll. Und auch nicht an irgendeine andere Glocke egal welchen Formats.
Zeus sieht sich um. Er sucht einen günstigen Platz, von dem aus entweder Siouxsie und der Preacherman oder Luz und ich mithören können. Es gibt im Prinzip nur eine Möglichkeit und die ist ein Stück links von uns. Da setzten die zwei sich dann auch hin.
Zunächst plänkeln die beiden ein wenig miteinander, um die Lage zu checken. Der Schneider will erst vorsichtig sicher gehen, dass es wirklich um seinen Besuch im Puff geht. Danach will er rauskriegen, wie er das Schlimmste verhindern kann.
„Und was willst du jetzt von mir? Mich erpressen?“
„Jetzt gerade nicht, vielleicht später. Und wenn es nur die ausstehenden Gehälter von damals bringt.“
Das scheint dem Schneider jetzt tatsächlich peinlich zu sein. Zumindest ein wenig.
„Aber jetzt kannst du mir mal mindestens zwei, drei Fragen beantworten. Was bekomme ich, wenn ich erst 3000 quasi anzahle und dann hinterher noch mal 350 nachlegen muss?“
„Hör mal, das ist nicht meine Preiskategorie.“
„Denk trotzdem mal nach. Du hat doch bestimmt mal auf die Liste mit den Sonderangeboten geguckt. Du weißt schon. Sale. Alles muss raus. Oder in diesem Fall wohl eher rein.“
Jetzt denkt er tatsächlich. Mann kann das sehen. Die Stirn bewegt sich.
„Also, ich glaube, mir fällt da nur diese Doppelnummer ein. Zwei Mädels nach freier Wahl, die alles machen, für die ganze Nacht. Kostet glaube ich 3000. Und die 350 könnten dann für die Drinks sein.“
Zeus nickt. Luz und ich auch. Nur wir bewegen uns dabei nicht. Nur in einem Paralleluniversum. Im hier und jetzt ist davon nichts zu sehen.
„War von Donnerstag auf Freitag einer da, der diese Doppelnummer gemacht hat?“
Jetzt denkt er wieder. Mann kann das sehen. Die Stirn bewegt sich erneut.
„Ja, ich glaube schon.“
„Kennst du den?“
Jetzt denkt er richtig intensiv. Mann kann das sehen. Die Stirn bewegt sich ganz heftig.
„Okay, Ralf. Du kennst ihn. Denk drüber nach, ob du es mir sagst oder nicht. Denk aber auch dran, dass es ein Bild von dir vor dem Puff gibt. Und denk dran, was passieren könnte, wenn deine Frau das sieht. Und denk dran, das ich vielleicht noch mehr Bilder von Besuchern habe, bevor du mir einen Namen gibst, nur um einen Namen zu nennen. Schreib mir gleich deine Nummer auf. Ich rufe dich an. Verlass dich drauf. Andere Frage. Meinst du, dass der das selber gezahlt hat oder hat das jemand für ihn übernommen?“
Jetzt denkt er schon wieder. Mann kann das sehen. Die Stirn bewegt sich wieder.
„Ich denke, das könnte jemand bezahlt haben. Das ist eine Menge Kohle und ich glaube nicht, dass der es so dicke hat. Aber wer oder warum, weiß ich nicht.“
„Du kannst ja noch mal drüber nachdenken. Wir müssen ja eh noch einmal reden.“
Zeus trinkt sein Bier aus. Er hat genug, er will wieder weg. Schneider macht eine Kopfbewegung in unsere Richtung und dann auch zu Siouxsie und dem Preacherman rüber.
„Diese anderen Gestalten, die hier heute plötzlich aufgetaucht sind, gehören die irgendwie zu dir?“
Die Frage bleibt so mitten in der Kneipe stehen und wartet. Zeus kümmert sich nicht um sie. Wir wollen damit auch nichts zu schaffen haben. Als er zur Theke gehen will, meldet sich der Schneider noch mal.
„Lass stecken, geht auf meinen Deckel.“
Zeus legt drei Euro auf die Theke.
„Nein. Danke. Besser nicht.“
Die Kneipentür fällt hinter Zeus ins Schloss. Er hat einen echt guten Abgang hingelegt. Schneider sitzt immer noch an dem Tisch und fragt sich, was hier eigentlich für eine Film läuft. Und wer darin welche Rolle spielt. Und welche Rolle er womöglich spielt. Ins Drehbuch durfte er bisher keinen Blick werfen. Er guckt Siouxsie und den Preacherman an. Die beiden gucken ausdruckslos zurück. Danach guckt er Luz und mich an. Wir beide gucken ausdruckslos zurück. Wir lassen ihn mit seinem Problem, ob die Gestalten jetzt zu Zeus gehören oder wogmöglich neue störenden Stammgäste sind, alleine. Getrennt brechen wir kurz danach auch die Zelte ab.

Zurück in unsere Welt.

***
Am Freitag geht es weiter.

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Freitag, 3. Februar 2017
20 The Pogues “Dirty Old Town”
Samstag

Ich höre Stimmen. Jetzt ist so weit. Waller dreht endgültig ab. Luz betritt das Zimmer.
„Ah, der werte Herr schlägt auch schon die Augen auf. Dann brauche ich dich ja nicht zu wecken. Und jetzt hör zu.“
Ich höre Stimmen. Eine der Stimmen sagt meinen Namen. Langsam kommt Strom in den Kopf. Luz reicht mir einen Kaffee. Schluck für Schluck wird die Stromstärke etwas größer und das Licht geht dann auch langsam an. Was ich höre ist das Lokalradio und sie berichten über mich. Allerdings wissen sie nicht, was sie über mich berichten sollen. Woher auch, wer bin ich schon. Allerdings müssen sie wohl über mich berichten. Ich habe für Aufsehen gesorgt. Ich lausche einem inhaltslosen Bericht und muss über den letzten Satz schmunzeln,
„Herr Krawallek war für uns leider bisher nicht zu erreichen. Wir werden uns aber weiter um ein Interview bemühen.“
Dann viel Spaß dabei. Könnten außerordentlich mühsame Bemühungen werden. Und fruchtlose.
„Wir gehen doch nachher zum Weihnachtsmarkt, oder?“
Ich erinnere mich. Wenn auch nur ganz dunkel. Wir hatten darüber gesprochen und ich fürchte, ich habe ja gesagt. Weihnachten ist ja nicht so mein Ding. Weihnachtsmarkt auch nicht. Warum auch immer, Ist eben so. Luz steht aber voll drauf. Wir haben da einen Kompromiss gefunden. Der W-Markt bei uns ist eher mickrig und es ist nicht viel los. Deshalb gehen wir dann ein paar Male in der Saison dort hin. Dann muss ich zumindest nicht auf die großen.
Heute ist aber anders. Ich will nicht bei uns in die Stadt. Nicht nach gestern. Nicht nach dem Bericht in der WAZ. Nicht nach dem Bericht im Radio.
„Okay, aber nicht bei uns, oder?“
„Wir gehen immer nur bei uns. Das wolltest du so. Dein Wille geschehe. Auch heute.“
Ich sehe dem Schicksal ins Auge. Das Schicksal guckt zurück. Dann grinst es voller Vorfreude.

Als es dämmert wandern wir durch die Fußgängerzone. Die Anzahl der kleinen VOD-Schriftzüge hat zugenommen. Auch auf fast allen Buden vom Weihnachtsmarkt sind welche drauf. Während wir so unterwegs sind, zeigen wir uns immer wieder gegenseitig weitere. Im Gegenzug machen Menschen andere Menschen heimlich auf mich aufmerksam. Nicht ganz direkt, sondern auf eine Art, die zumindest sie für heimlich oder diskret halten.
Unser erstes Ziel ist der Wagen mit den belgischen Pommes Frites. Der war die letzten zwei Jahre nicht da und wir haben ihn vermisst. Jetzt ist der zurück und wir gönnen uns jeder eine große Portion Fritten. Schön mit viel Mayo.
Während wir so nett Gaumen schmausen, verlässt eine Frau den Drogeriemarkt gegenüber. Ich stupse Luz an und nicke in die Richtung. Luz kennt sie nicht, wir alle haben mit ihr ja eher eine Telefonbekanntschaft.
„Guck mal da drüben, das ist die Stefanie vom Seelmann.“
Sie guckt interessiert zu ihr rüber, wird aber abgelenkt. Sie hat auch jemanden gesehen.
„Da ist ja der Eumel.“
Ja, da ist er. Ich will ihm gerade etwas zurufen, als mich Luz am Ärmel packt und ein wenig mehr in den Schatten zieht.
„Irgendwas ist komisch. Mach mal nichts.“
Also mache ich nichts. Das liegt mir. Darin bin ich ziemlich gut.
Und Luz hat recht. Etwas ist komisch. Stefanie und Eumel kennen sich. Die beiden umarmen sich zur Begrüßung und reden dann miteinander.
„Meinst du das ist was sexuelles?“
Luz hebt die Hände Richtung Himmel und verdreht die Augen. War ja nur eine Idee.
Dann trennen sich die zwei wieder. Stefanie geht die Straße hoch, aber Eumel kommt in unsere Richtung. Ohne uns abzusprechen treten wir genau im richtigen Augenblick synchron aus dem Schatten, so dass wir unvermittelt beide direkt vor ihm stehen. Die Überraschung ist gelungen. So steht es ihm ins Gesicht gehämmert. Quasi in Schablonenschrift.
„Hi, kennt ihr euch?“
Dabei geht mein Blick die Straße hoch, wo Stefanie noch nicht weit weg ist. Eumel sieht nun auch in diese Richtung. Als wäre es abgesprochen, dreht sich Stefanie genau in diesem Moment zu uns um. Sie ist total überrascht, wendet sich dann wieder ab und geht weiter.
Eumel steht vor uns. Wir stehen vor ihm. Er sagt nichts und guckt zu Boden. Er zögert. Ich bin plötzlich vollkommen entspannt, denn ich weiß einfach, dass er uns nicht anlügen wird. Auch wenn wir keine Freunde sind, haben wir doch ähnliche Ideale und Vorstellung vom Leben. Dazu gehört, Menschen nicht unmotiviert anzulügen.
„Sie ist meine Tante. Die Schwester meiner Mutter.“
Damit ist klar, wer die Sprayer sind. Wir sehen ihn an, er sieht uns an. Wir wissen Bescheid, er weiß, dass wir Bescheid wissen. Da gibt es jetzt nichts zu zu sagen. Also sagen wir da auch nichts mehr zu. Luz wechselt das Thema.
„Und sonst so? Alles gut? Was führt dich hierher?“
„Ich will mir die Band untern auf der Bühne ansehen.“
Jetzt bin ich irritiert. Auf dem Weihnachtsmarkt spielen die Bands meistens Weichnachtslieder.
„Hätte nicht gedacht, dass du auf Weichnachtslieder stehst.“
„Nur, wenn die von einer wirklich guten Band gespielt werden. Und gleich gibt es eine wirklich gute Band. So mit Folk- und Punkeinschlag.“
Wir gehen gemeinsam in die Richtung und kommen an, als die gerade loslegen. Und er hat Recht, die sind wirklich gut. Eigentlich zu gut für unseren Weihnachtsmarkt. Da hat hinter den Kulissen aber mal jemand seinen Job richtig gut gemacht. Als die dann noch eine gelungene Version von „Fairytale Of New York“ spielen, bin ich wirklich hin und weg.
Mein Handy macht sich bemerkbar. Nick ruft an. Das Gespräch ist kurz. Eigentlich besteht es nur daraus, dass Nick ein paar kurze Sätze raushaut.
„Wenn ihr könnt, kommt sofort in die Kneipe. Hier passieren reichlich eigenartige Dinge. Ich versuche auch, die anderen zu erreichen.“
Dann klickt es und Ende. Over and out. Das war es auch schon. Keine Ahnung, worum es geht, aber wir sind schon unterwegs. Eine Kleinigkeit hätte ich gerne noch vorher gegessen. Aber egal, was soll’s.

Im „Mercy Seat“ winkt uns Kati sofort in den hinteren Raum durch. Sie hebt die Hände und zeigt uns, dass sie auch nicht richtig etwas weiß. Also marschieren wir in den hinteren Raum und gucken uns die Sache mal aus der Nähe an.
An zusammengeschobenen Tischen sitzen etwa fünfzehn Leute, von denn mir nur einer bekannt ist. Das ist der Typ, der neulich hier war und Nick die Bilder von den beiden Männern, die ihn vermöbelt haben, gegeben hat. Von den anderen meine ich, schon mal welche hier in der Gegend gesehen zu haben. Sicher bin ich mir aber auch nicht. Dafür bin ich mir sicher, dass das noch nicht mal Gelegenheitsgäste sind. Also muss die was ganz Bestimmtes hier hin geführt haben.
Etwas abseits sitzen an einem Tisch Siouxsie, Zeus, TomTom, Nick und der Preacherman. Wir steuern den Tsch an. Die dabei entstehende Unruhe weckt die Aufmerksamt der seltsamen Gemeinde. Mir fällt auf, dass denen mein Gesicht bekannter ist, als es umgekehrt der Fall ist. Das liegt aber nur an meiner ganz frischen Position als Lokalberühmtheit.
„Geht das vielleicht etwas leiser?“
Der Preacherman hebt den Kopf. Er wirkt genervt.
„NEIN, geht es nicht!“
Offenbar ist die Stimmung etwas gereizt. Ich schaue mir den Sprecher an, aber er ist mir auch auf den zweiten Blick immer noch unbekannt. In Gedanken gehe ich auch noch mal die Bilder vom Puff durch, aber da ist er auch nicht dabei. Das wäre ja was gewesen. Der Typ scheint irgendwie die Führung in seiner Gang übernehmen zu wollen. Nick versucht uns die Situation zu beschreiben.
„Können Sie das nicht draußen besprechen?“
Schon wieder der Typ. Der Preacherman hebt den Kopf. Er wirkt ernsthaft genervt.
„NEIN, können wir nicht!“
„Also, die Leute hier wollen eine Bürgerinitiative gründen, um das Gewerkschaftshaus zu erhalten. Die meisten sind hier aus der Nachbarschaft. Bis jetzt diskutieren die aber nur über so Nebensächlichkeiten. Also ob es ein eingetragener Verein werden soll. Und ob es Beiträge geben soll. Oder nur Spenden. Und ob es eine gerade oder ungerade Anzahl an Vorstandsmitgliedern geben soll.“
„Könnten Sie jetzt bitte still sein?“
Schon wieder der Typ. Der Preacherman erhebt sich von seinem Stuhl. Er wirkt außerordentlich genervt.
„NEIN, können wir nicht!“
Der Preacherman bleibt stehen. Der Typ wirkt eingeschüchtert, aber das kann man ihm nicht verdenken. Ein außerordentlich genervter Preacherman wirkt recht furchteinflößend. Snake und Betty stoßen zu uns. Nick klärt auch die beiden kurz auf. Am großen Nachbartisch herrscht Ruhe. Der Blick des Preacherman hat eine beruhigende Wirkung. Dann sind wir so weit fertig und die angehende Bürgerinitiative setzt ihre Gründungsveranstaltung unter unserer kritischen Beobachtung fort.
Und die diskutieren weiter fast nur über Formalitäten und Nebensächlichkeiten. Es fällt auf, dass das unangenehme Großmaul die ganze Sache an sich reißen will, obwohl es so aussieht, als wäre der Anstoß zu diesem Treffen nicht von ihm, sondern von einem Ehepaar gekommen, das aber immer mehr von ihm in den Hintergrund gedrückt wird.
Dann hat sich das unangenehme Großmaul durchgesetzt. Die anderen überlassen ihm den Vorsitz. Im weiteren Palaver wird dann deutlich, dass es denen nicht unbedingt um den Erhalt des Gewerkschaftshauses geht. Die wollen keinen Bau von Seelmann in der Nachbarschaft. Die haben Angst, dass ihre schönen Einfamilienhäuser an Wert verlieren, wenn da ein Neubau entsteht. Die wollen lieber, dass da Bauland für weitere Einfamilienhäuser entsteht.
Nick will sich einmischen. Luz beugt sich vor und bringt ihre Lippen in die Nähe von seinem Ohr.
„Zu früh. Warte noch.“
Ich habe das mehr abgelesen als gehört. Das Palaver geht weiter. Plötzlich steht der Typ, der Nick die Bilder gegeben hat, auf.
„So habe ich mir das nicht vorgestellt. Was ist denn das für ein Scheiß.“
Dann drückt er Nick einen Zehner in die Hand und verschwindet. Wir tauschen ein paar Blicke. Richtig einig sind die sich wohl nicht. Und dann geht das Gelaber weiter. Es ist grauenvoll. Gequirlte Kacke. Luz stößt Nick an.
„Ich kann nicht erkennen, was hier für den Erhalt des „Mercy Seat“ getan werden soll.“
Das unangenehme Großmaul schaut Nick an.
„Nichts, das interessiert uns nun wirklich nicht.“
Ein Blick in die Runde seiner Mitstreiter zeigt, dass es da doch unterschiedliche Meinungen zu geben scheint. Den meisten ist seine Aussage doch eher ziemlich peinlich. Sie rutschen unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Wären sie doch besser auf der Couch geblieben. Es sind eindeutig erste Auflösungserscheinungen zu erkennen. Und das schon vor der eigentlichen Gründung.
„RAUS! ALLE! SOFORT!“
Die Stimme des Preacherman. Der Preacherman steht an der Wand mit verschränkten Armen und unbeweglichem Gesicht. Alle sehen in seine Richtung. Aber die Stimme kam nicht aus der Richtung sondern von der Tür.
Und an der Tür steht der Watchman. Mit verschränkten Armen und unbeweglichem Gesicht. Genau wie der Preacherman. Nur noch ein Stück großer. Und noch ein Stück breiter.
Unter den Mitgliedern der sich schon vor der Gründung wieder auflösenden Bürgerinitiative zeigen sich eindeutige Zeichen von Unruhe mit ersten Tendenzen Richtung Panik. Alle bewegen sich Richtung Tür. Aber dort steht der Watchman. Und einen anderen Ausgang gibt es nicht.
„RAUS! ALLE! SOFORT!“
Dieses Mal kommt die Stimme von der Wand.
Die Unruhe weicht jetzt vollständig der Panik. Alle drängen zur Tür. Der Watchman steht dort wie einbetoniert. Mit verschränkten Armen und unbeweglichem Gesicht. Er lässt gerade so viel Platz, dass die bis vor wenigen Augenblicken beinahe initiativen Bürger an ihm vorbei können. Und sie schlängeln sich. Und winden sich. Sie tun alles, um ihn bloß nicht zu berühren. Wer weiß was dann passiert. Das wollen sie aber auf keinen Fall erfahren, das ist sicher. Dann sind sie endlich alle raus.
Der Watchman schaut den Preacherman an.
„Ich habe dich gesucht. Wir müssen los.“
Dann sind auch die beiden weg. Ohne ein weiteres, erklärendes Wort. Einfach Ciao und weg. Wir sehen ihnen erst hinterher und uns dann an.
Nick holt eine neue Runde Getränke. Die Gläser bimmeln. Luz schaut Nick fragend an.
„Wer war denn dieses unangenehme Großmaul?“
„Heinz Schulz. Das ist der von den Nachbarn, der mir schon immer am meisten Ärger bereitet. Aber immer so hintenrum. So dass sein Name nicht unbedingt fällt.“
„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sich seine und unsere Wege bald noch einmal kreuzen werden.“
Ich zucke innerlich zusammen. Ihren Gesichtsausdruck kann ich nicht richtig deuten. Sollte ich mir Sorgen machen?
In ihren Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut.
Wir sollten über etwas anderes reden.
„Was ist den jetzt mit deinem Ex-Chef?“
Zeus trinkt noch einen Schluck, ehe er anfängt.
„Ja, der Ralf. Dass der jetzt verheiratet ist und in Versicherungen macht, habe ich ja schon in der Mail erwähnt. Die Agentur gehört übrigens seiner Frau. Das sollten wir im Hinterkopf behalten. Ich habe noch Kontakt zu einem Typen von früher, der den gut kennt. Wir tauschen manchmal noch Musiktipps. Den habe ich heute angerufen und dann das Gespräch mal so auf den Ralf gelenkt. So wegen den guten alten Zeiten. Seine Stammkneipe ist immer noch die „Bergmannsklause“. Und jeden Sonntag geht er da Fußball gucken und bleibt dann meist bis die schließen. Ich denke, ich sollte mich da morgen mal sehen lassen und ein nettes Gespräch unter alten Kumpels führen. Alleine will ich aber nicht, ich hätte gerne Rückendeckung.“
Alleine soll er auch nicht. Auf keinen Fall. Zeus zeigt auf die Kickertische.
„Und mein Kumpel hat auch gesagt, dass da noch viel gespielt wird. Und sich der Ralf für so eine Art König hält. Vielleicht gewährt er uns ja auch darin eine Audienz.“

Wir gehen ins Trainingslager.

***
Am Montag geht es weiter.

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Sonntag, 29. Januar 2017
19 Rosetta Stone “Adrenaline”
Freitag

Luz weckt mich. Zehn Uhr. Das ist okay, obwohl ich noch vollkommen erschlagen bin. Es riecht gut. Es duftet. Nach katalanischem Omelett. Ich wanke in die Küche. Tatsächlich. Katalanisches Omelett. Lecker. Und dazu Kaffee. Schön schwarz. Schön stark. So wie ich ihn mag.
Sie lächelt mich an und zeigt auf die Leckereien.
„Du musst ja gleich fit sein, wenn du den OB besuchen gehst. Pete hat auch schon geschrieben, dass er seine Quelle angesaugt hat. Der ist heute den ganzen Tag im Haus.“
Wie es scheint war Petes Vorschlag auf Zustimmung gestoßen. Aber welche Quelle hat er da angesaugt? Da weiß ich jetzt gar nicht Bescheid, da bin ich neugierig, da muss ich doch mal den Bohrer ansetzen. Siouxsie und DreiElf scheiden auf jeden Fall aus.
Omelett und Kaffee. Keine Rasur. Rasieren ist immer optional. Duschen ist Pflicht. Abmarsch.

Im Rathaus sofort Richtung viertes OG. Eliteetage. Da sitzen die ganz großen kommunalen Meister. Ich stehe unter Strom. Zu wenig Schlaf, zu viel Kaffee und reichlich Adrenalin. Besser ich treffe unterwegs nicht meinen Vater, sonst könnte meine Mutter womöglich gar Witwe werden. Ich bin eindeutig überdreht und phantasiere auch schon.
Auf dem letzten Treppenabsatz hängt ein großer Spiegel, vor dem ich abrupt bremse. Ich sehe recht mitgenommen aus. Totenblass, dicke Ringe unter den Augen, unrasiert. Wird durch die schwarzen Klamotten noch verstärkt. Egal. Muss ich jetzt mit leben. Wird bestimmt wieder besser. Schlaf könnte da hilfreich sein.
Vor dem Vorzimmer des OB halte ich einen Augenblick inne und sammele meine Gedanken. Damit bin ich schnell fertig. Viele davon sind gerade nicht da, aber alle, die ich gleich brauchen werde. Heftig und mit viel Radau öffne ich ohne zu klopfen die Tür.
Die Tuse vom OB wirkt irgendwie überrascht, verschreckt und verwirrt, als sie erkennt, wer denn da reinkommt. Alles gleichzeitig. Und auch abwechselnd. Das Mienenspiel ist nett anzusehen. Sie scheint etwas hilflos und greift dann zum Terminkalender.
„Nicht nötig, da stehe ich nicht drin. Und sonst, alles fit im Schritt?“
Die Tuse wird knallrot und droht zu platzen. Mit einer solchen Respektlosigkeit kann sie nicht umgehen. Sie kann die Lage an sich auch nicht einschätzen und weiß nicht, wie sie im Moment reagieren soll. Jetzt langt sie nach dem Telefon.
„Auch nicht nötig, ich melde mich selber an.“
Schon habe ich das Zimmer durchquert und reiße die Tür vom obersten Meister auf. Anklopfen habe ich irgendwie vergessen.
„Da habe ich doch schon ein herein gehört, bevor ich klopfen konnte. Einen schönen Tag ihr zwei.“
Außer dem OB ist noch ein zweiter Typ da. Ein bekanntes, aber nicht unbedingt beliebtes Gesicht der Verwaltung. Der Stadtkämmerer. Beide sehen nicht so aus, als würden sie meiner Bewertung des Tages zustimmen. Schön ist auch relativ, was einem gefällt, muss für andere nicht auch was sein.
Beide starren mich an. Der Kämmerer eher irritiert, ein bisschen Richtung wütend. Der OB ist vollkommen entsetzt und vielleicht auch verängstigt. Mit mir hat er nicht gerechnet. Und er freut sich auch nicht. Unser letztes Treffen in diesem Raum hat ihn schon nicht glücklich gemacht. Im Gegensatz zu ihm, weiß ich auch schon, dass es heute in der Hinsicht nicht besser für ihn wird. Die Bilder werden ihm nicht gefallen. Dabei ist er ganz gut getroffen.
„Herr Krawallek, sie kommen leider sehr ungelegen. Ich habe wirklich gerade keine Zeit.
Die ungewohnte Höflichkeit mir gegenüber gehört wohl zu den Nachwehen unserer letzten Begegnung. Er will keinen Ärger mit mir. Hat er aber schon. Können wir auch gerade nicht ändern. Wollen wir auch gerade nicht. Zumindest ich nicht.
„Oh, ich denke doch.“
Auf meinem Handy habe ich schon das beste Bild von gestern ausgewählt. Ungerührt gehe ich zu seinem Schreibtisch und halte ihm das Telefon so hin, dass er das Foto gut sehen kann, der Kämmerer aber nicht. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie der neugierig, aber vergebens den Hals reckt.
Alle Farbe entweicht seinem Gesicht. Er schaut mich an. Mein Gesichtsausdruck ist vollkommen reglos. Das kann ich wirklich gut. Der Kämmerer ist interessiert, weiß aber gar nicht was ab geht. Er kramt nach seinem eigenen Handy.
„Nicht nötig, es ist alles in Ordnung, aber ich muss unseren Termin leider beenden.“
„Bitte?“
Jetzt ist der Kämmerer vollkommen von den karierten Socken. Dass für ihn jetzt hier Feierabend ist, hat er so gar nicht auf dem Schirm gehabt. Er mustert mich ganz genau und ich kann quasi sehen, wie er sich meinen Namen ins Hirn meißelt. Er wird einen Grund suchen, ein Gespräch mit mir zu führen. Und er wird einen finden. Radio Flur berichtet schon länger, dass er auf den Job an der Spitze der Verwaltung scharf ist. Und zwar so schnell wie geht. Zur Not auch ohne Wahlen. Radio Flur verfügt bei so was über gute Quellen.
Jetzt sind wir beide unter uns. Der OB lächelt mich an. Jetzt wird es langsam peinlich.
„Herr Krawallek, wir müssen reden.“
„Aber nicht hier. Draußen.“
Ich gehe entschlossen zur Tür. Er dackelt hinter mir her. Wir betreten das Vorzimmer. Die Tuse wirkt schockiert.
„Frau Schulz, alles ist gut.“
Das glaubt sie ihm nicht, aber das glaubt er sich selbst auch nicht. Im Gang will er Richtung Fahrstuhl, aber ich deute auf die Treppe. Soll er mal weiter mit mir her wandern, mir ist nach Bewegung. So zieht unsere Zwei-Mann-Prozession Richtung Hauptausgang. Ich vorneweg mit unbewegter Miene, er hinterher mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern.
Alle, denen wir begegnen, blicken ungläubig und neugierig in unsere Richtung, aber keiner traut sich was zu sagen. Als wir auf dem Vorplatz kommen, sind hinter einigen Fenstern Gesichter zu sehen. Manche machen auch schnell Fotos. So ist das im dritten Jahrtausend. Nicht nur der große Bruder beobachtet dich, sondern alle anderen ebenso. 1984 ist auch schon über dreißig Jahre her.
Kurz danach sind wir da, wo ich hin will. Ein Hinterhof, in dem ich alles gut im Auge behalten kann. Zuhörer sind nicht erwünscht.
„Na, wie war es denn im Puff. Schön einen weggesteckt?“
Er will was sagen, aber ich bin schneller.
„Ich glaube nicht, dass es ums poppen gegangen ist. Sondern um irgendwas anderes. Aber ob ihre werte Frau Gemahlin das denn auch glaubt, wage ich ganz dolle zu bezweifeln. Auch bei vielen anderen bin ich da nicht unbedingt zu hundert Prozent sicher.“
„Herr Krawallek, wissen sie was ich nicht verstehe?“
„Kantonesisch?“
Er schaut mich ratlos an. Running Gags funktionieren nur bei Eingeweihten. Das ist er aber nun wirklich nicht. Rein gar nicht. Wird er auch nicht werden. Ich schweige, er bekommt noch eine Chance.
„Herr Krawallek, was wollen sie eigentlich?“
„Weltfrieden wäre schön. Und sauberes Trinkwasser für alle Menschen auf der Welt.“
Wir beide funken offenkundig nicht synchron. Zumindest entnehme ich das seinem Gesichtausdruck. Das verstehe ich nicht, denn es gibt wohl mindesten eine Milliarde Menschen auf diesem Planeten, die mir sofort begeistert zustimmen würden.
„Worum ging es gestern da im Puff?“
„Nicht um das Gewerkschaftshaus. Etwas vollkommen anderes.“
Seltsam, aber ich neige dazu im zu glauben.
„Worum genau?“
„Das möchte ich Ihnen wirklich nicht sagen. Sie haben da auch nichts von. Und in der Hand haben Sie mich mit den Bildern sowieso schon. Wahrscheinlich sind die auch schon bei der Presse und für mich hat sich meine Ehe und meine Karriere da drüben erledigt.“
Bei den letzten Worten gestikuliert er vage Richtung Rathaus. Dabei beobachte ich ihn genau. Er weiß ja, dass mir was am Gewerkschaftshaus liegt, da hätte er was angeboten, um zu retten, was vielleicht noch zu retten ist. Hat er aber nicht. Wahrscheinlich weil er nichts anzubieten hat. Also schlage ich eine andere Richtung ein.
„Die Bilder sind nicht bei der Presse. Die sind nur bei mir. Und da können die auch bleiben. Irgendwas läuft mit dem Gewerkschaftshaus, was wissen Sie darüber.“
Das ganze Thema hat ihn scheinbar tatsächlich bisher nicht ernsthaft interessiert. Er klaubt das zusammen, an was er sich so erinnert.
„Es ist wohl der Plan gemacht worden, dass, wenn die Erbengemeinschaft den Pachtvertrag kündigt, versucht werden soll, den Denkmalschutz loszuwerden und dann das Grundstück zu verkaufen. Das würde dem Etat gut tun. Unter dem Aspekt habe ich das nur beurteilt. Deshalb habe ich auch keinen Einwand erhoben.“
„Wer hat sich das ausgedacht? Mit wem haben Sie da gesprochen?“
„Ich weiß es nicht mehr, ich spreche jeden Tag mit so vielen Menschen. Und das ist schon einige Monate her. Vielleicht kann ich dazu noch mehr in meinem Terminkalender finden.“
Er macht eine kurze Pause.
„Allerdings habe ich jetzt auch den Eindruck, dass da was im Busch ist. Es existiert auch keine Ausschreibung, aber es gibt bereits einen Preis. Das läuft also nicht richtig. Da kann ich Einspruch erheben und die Sache aufhalten.“
Mehr gibt es hier jetzt nicht mehr rauszuholen. Ich habe jetzt auch genug von ihm.
„So weit, reicht mir das im Moment. Ich will wissen, wer da damals die Sache angeleiert hat. Sonst ist erst mal alles klar. Wenn Sie mir was dazu mitteilen wollen, meine Nummer steht im allgemeinen Verzeichnis.“
„Herr Krawallek, kann ich denn was für Sie tun? Möchten Sie einen besseren Job? Oder was anderes?“
Er wirkt vollkommen hilflos und greift nach einem Strohhalm. Ich winke ab und schüttele den Kopf. Halb im weggehen drehe ich mich in guter alter Inspektor Colombo Manier wieder ein wenig zu ihm um.
„Und wenn ich doch noch wissen will, worum es gestern im Puff gegangen ist, werde ich Sie fragen.“
Dann bin weg. Ich will Kaffee. Ich gehe ins Cafe.

Das Handy hatte ich ausgestellt. Jetzt sehe ich, mehrere Anrufe von Siouxsie und DreiElf. Ich rufe sie zurück, sie wollen wissen, wo ich bin. Ich sage ihnen das. Das ist kein Geheimnis, ich bin ja nicht zur Fahndung ausgeschrieben. Zumindest bis jetzt nicht. Zumindest nicht so weit ich weiß. Es dauert nicht lange, dann sind beide da. Die Zustände in der Stadtverwaltung werden immer seltsamer, alle kommen und gehen scheinbar wie sie gerade wollen.
Die zwei setzen sich zu mir. Grüße von Pete. Wir bestellen Kaffee, ich zusätzlich einen Grappa. Vielleicht bringt mich der etwas runter, ich laufe immer noch sehr hochtourig. Wir sitzen da so schön in aller Stille, bis Siouxsie das Schweigen nicht mehr durchhalten kann.
„Waller, was hast du da abgezogen? Das Rathaus kocht über. Wärst du zurück gekommen, hätten dir die Massen zugejubelt und zu Füßen gelegen. Du hättest zur Revolution aufrufen können, viele wären dir gefolgt.“
„Du hast den ganz schön gedemütigt.“
DreiElf hat da wohl nicht Unrecht.
„Das war ja jetzt alles so nicht mit Absicht. Das hat sich eher so ergeben. Als ich in seinem Büro war, wusste ich, dass ich da nicht reden wollte. Keine Ahnung, ob seine Tuse oder wer auch immer da seine Ohren im Raum hat. Deshalb wollte ich nach draußen. Da wo wir Ruhe haben. Dass der dann wie so ein Büßer hinter mir her eiert, das habe ich aber gar nicht erwartet.“
Dann erzähle ich den beiden über unser lauschiges Gespräch im Hinterhof. Siouxsie verzieht skeptisch das Gesicht.
„Und du glaubst ihm?“
„Ja, schon. Der hat versucht zu retten, was vielleicht noch zu retten ist. Und wenn wir wollen, können wir ihn jederzeit besuchen. Er wird uns nicht abweisen.“
Wir nehmen noch Kaffee. Den Schnaps lass ich weg. Hat nicht geholfen. Wir drehen die ganzen Infos noch mal von links nach rechts und dann wieder zurück. Die zwei sind im Aufbruch, als mir noch was einfällt.
„Was ist jetzt eigentlich mit dem Schmitz und dem Klein?“
„Unverändert. Der Klein ist vom Chef beurlaubt. Der darf das Rathaus auch nicht betreten. Der fragt sich bestimmt immer noch, was ihm da eigentlich passiert ist. Er hatte ja keine Spuren hinterlassen, aber plötzlich waren welche da.“
Jetzt grinst er wieder diabolisch. So wie Mittwoch, als er Pete und mir darüber berichtet hat. Der Klein ist wohl nicht sein Typ.
„Aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen heißt es, er möchte dazu nichts sagen. So absolut nichts. Kein Kommentar. Der Chef will da aber am Ball bleiben.“
Dann macht er eine kurze Pause und schmunzelt in sich hinein.
„Der Schmitz geistert immer noch durchs Gebäude. Gegen den hat bisher keiner was vorgebracht. Aber der ist verunsichert. Noch mehr, seit der Klein aus dem Spiel genommen worden ist. Der macht sich dolle Sorgen. Und weiß gar nicht weswegen und wegen wem. Außer natürlich wegen dir. Und das wird durch deine Show bestimmt noch geschürt.“
Siouxsie und DreiElf ziehen ihre Jacken an.
„Tut mir einen Gefallen, wenn ihr wieder zurück seid. Sagt niemandem, dass ich hier bin.“
Siouxsie schüttelt mitleidig den Kopf und nickt in Richtung einiger Nachbartische. Mein Blick folgt ihrem Nicken. Dort sitzen zwei Frauen, die ihre Smartphones in der Hand halten und mehr oder weiniger unauffällig zu mir rüber gucken. Okay, da spielen die Social Medias wohl nicht ganz mit. Die Menschheit beginnt mein Leben zu teilen. Vielleicht auch zu liken. Oder eben auch nicht.
Für einen kurzen Augenblick überlege ich, die Nerven zu verlieren, entscheide mich aber dagegen. Der Zeitpunkt ist ungünstig und so was wirkt auch uncool.
Ich verlange die Rechung und auch die Kellnerin sieht mich mit ganz anderen Augen an, als vor einer halben Stunde. Wir machen uns weg. Draußen piepst mein Handy. Der Akku ist fast leer. Ich kann gerade noch sehen, dass einige SMS eingegangen sind. In etwa so viele, wie sonst in einer Woche. Ich will eine öffnen, aber das Display wird schwarz. Der Akku ist leer.

„Oh, Robin Hood, der Rächer der Enterbten, der Beschützer von Witwen und Waisen ist endlich wieder zurück im heimischen Forest.“
Meine Gefährtin spottet. Ich küsse sie trotzdem. Weil ich es darf. Weil nur ich es darf. Bevor sie noch was sagen kann, hebe ich abwehrend die Hände. Ich brauche ein, zwei Augenblicke um mich zu sammeln. Auch wenn sie vor Neugierde fast platzt, gibt sie mir die zehn Minuten, die ich ganz dringend benötige. Sie nutzt diese Zeit und sucht lange nach einer passenden CD. Und da hat sie dann auch richtig gut gewählt. „What Does Anything Men? Basically” von The Chameleons. Seit dem ersten Hören mag ich dieses Album total. Und dieses erste Hören ist inzwischen fast dreißig Jahre her.
Und dann erzähle ich ihr den ganzen Kram. Vom OB. Vom Kämmerer. Vom Besuch im Cafe. Alles eben. Und während ich es erzähle, wird auch mir langsam klar, was ich da wirklich gemacht habe. Dann sehe ich sie sehr nachdenklich und sehr fragend an.
„Hast du wenigstens die ganzen SMS gelesen?“
„Nein, der Akku war alle.“
Sie braucht nichts zu sagen, ich kann es in ihrem Gesicht lesen. Typisch Waller. Geht los, mischt die Welt auf und das alles mit einem nicht richtig geladenen Akku.
„Du hast einiges verpasst. E-Mail und Internet hättest du mit dem Antikteil aber eh nicht abrufen können. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Willst du erst was über deine Heldentat hören oder über das, was sonst noch so war?“
Sie holt uns noch einen Kaffee und den Aschenbecher. Ich drehe uns zwei Zigaretten und zünde sie auch an. Sie nimmt eine davon. Da ich nichts sage, entscheidet sie.
„Dann mal erst den ganzen Rest. Pete hat ja eure Bilder von letzter Nacht verschickt und Zeus hat einen der Typen erkannt. Ralf Schneider, den damaligen Besitzer von Zeus Records. Er hat auch schon mal gegoogelt. Der hat jetzt mit seiner Frau eine Versicherungsagentur.“
Das klingt ja wirklich nicht uninteressant. Seine Frau wäre bestimmt auch nicht so unbedingt begeistert, wenn sie von seinem Ausflug erführe Vielleicht kann der uns ja ein paar Fragen beantworten. Wenn wir womöglich mal welche haben, auf die er Antworten haben könnte.
„Bleiben wir noch beim Puff. Stefanie hat Snake angerufen. Das „Salome“ hat heute per Mail die Rechnung geschickt. Die 3000 Euronen haben nicht gereicht, das hat noch 350 mehr gekostet. TomTom meint, es wäre ganz nett zu wissen, was man für diese Menge Kohle im Puff so bekommt. Er denkt, dass dieser Ralf Schneider uns da vielleicht gerne Auskunft zu geben würde.“
TomTom ist clever, er kann schnell denken. Und schon haben wir die erste Frage, die wir dem guten Mann stellen können.
„Und wenn die jetzt die Rechnung gestellt haben, könnte es auch gut sein, dass wir in einer der beiden Nächte den Typ fotografiert haben, für den Seelmann da so ausgesprochen großzügig bezahlt hat.“
Messerscharf kombiniert. Ich muss wieder an den Mann denken, der nach dem OB da noch rausgekommen ist. Der muss lange da drin gewesen sein. Für mehr als 3000 Ocken kann man auch einiges erwarten. Oder er gehört halt doch zum Personal.
Luz zieht den Laptop zu uns rüber. Sie zeigt mir das Foto von Ralf Schneider. Erinnern kann ich mich nicht an ihn, aber es war ja auch eigentlich immer Zeus in dem Laden. Danach schauen wir uns noch mal alle Bilder aus den beiden Nächten an. Das Ergebnis bleibt. Wir erkennen sonst niemanden.
„Gibt es ein Bild, wie der Typ reingeht, der nach dem OB rausgekommen ist?“
„Nein, gibt es nicht. Entwerder war der sehr, sehr zeitig da und ist dann halt lange geblieben. Oder es gibt noch einen Eingang. Oder er gehört wirklich zum Personal.“
„Vielleicht macht es Sinn, den Schneider nach dem Typ zu fragen.“
„Klingt gut. Aber jetzt wollen wir uns mal dir widmen.“
Sie grinst mich breit an. Dann öffnet sie im Blog den neuesten Eintrag. Dieser zeigt nicht wie sonst Stellen, an denen der VOD-Schriftzug angebracht worden ist. Es verschlägt mir die Sprache. Ich starre auf den Bildschirm und glaube nicht, was ich da sehe.
Oben steht: Wir verneigen uns vor dir!!. In Schablonenschrift. Auf die Details achten. Wie es sich bei denen gehört. Da sind sie echt pingelig.
Darunter kommt ein eingebettetes Youtubevideo. Das Standbild sagt mir schon genug, aber ich klicke trotzdem auf den dicken Pfeil zum Abspielen. Ich sehe, wie ich mit dem OB im Schlepptau den Vorplatz vom Rathaus überquere. Dass das so krass wirkt, hätte ich nicht gedacht. Demütigend. Nicht für mich. Aber für ihn.
Ansonsten gibt es noch ein Bild. Eine Fotomontage. Eine hervorragend gemacht Fotomontage. In Schwarz weiß. Zwei Personen sind zu einer verschmolzen. Das eigentliche Gesicht kenne ich sehr gut. Das sehe ich immer, wenn ich mich rasiere, im Spiegel. Der Rest drum herum – Jackenkragen, Haare und die unverkennbare Mütze – ist nicht von mir. Von wem das ist, wissen aber leider nur sehr wenige. Der Rest ist von Buenaventura Durruti. Darunter steht „Brüder im Geiste“. In Schablonenschrift. Wie es sich gehört. Wie auch sonst.
Meine Suche nach Worten verläuft erfolglos. Es fühlt sich an als sei der Ort in meinem Hirn, an dem sich das Sprachzentrum bisher befunden hat, implodiert. Zumindest das Denken scheint aber noch zu funktionieren. Besser als nichts. Falls mir was einfällt, kann ich dann ja versuchen, das aufzuschreiben. Sofern das Schreibzentrum nicht auch implodiert ist.
Luz sieht mich an und fängt an zu lachen.
„Waller, alles gut mit dir? Du guckst so hektisch. Krieg dich wieder ein.“
Sie schiebt mir den Tabak rüber. Drehen geht noch, rauchen auch. Sprechen nicht. Sie mustert mich intensiv.
„Ansonsten wissen seit heute alle, die dich bisher nur vom sehen kannten, wie du heißt. Eigentlich wissen jetzt ganz viele, wer du bist. Habe mich bei Facebook umgesehen und viel Spaß gehabt. Sollen wir uns die besten Bilder und Kommentare angucken?“
Kopfschütteln. Sprechen geht immer noch nicht.
„Die WAZ hat sich gemeldet. Die sind auf dem AB und möchten, dass du zurückrufst und ein Interview gibst. Das Lokalradio natürlich auch. Interesse?“
Kopfschütteln. Sprechen geht immer noch nicht.
„Da ist auch schon ein Bericht für die Ausgabe von morgen online. Michael Krawallek. Groß im Lokalteil. Deine Eltern werden sich freuen. Besonders dein Vater, oder?“
Kopfschütteln. Sprechen geht immer noch nicht.
Sie steht auf und holt mir noch einen Kaffee. Dann schweigen wir beide.
Das Telefon klingelt. Das Display zeigt den Namen meiner Eltern. Wir lassen es einfach weiter klingeln. Der AB macht seinen Job und sagt seinen Spruch. Die LED für Aufnahme ist nur kurz an. Luz drückt die Wiedergabetaste. Die Stimme meines Vaters. Ganz kurz. Nur eine Frage.
„Bist du jetzt vollkommen bekloppt geworden?“

Allerdings eine ziemlich sinnvolle Frage.

***
Am Freitag geht es weiter.

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Donnerstag, 26. Januar 2017
18 The Cassandra Complex “The War Against Sleep”
Donnerstag

Der Tag beginnt lange bevor ich auch nur im Ansatz wach oder bereit bin. Er beginnt auch bevor mein Wecker klingelt. Er beginnt, als das Telefon läutet. Laut und schrill und es hört nicht auf, bis ich den Hörer abnehme. Ehe ich irgendwas sagen kann – und sei es nur meinen Namen oder zumindest Hallo – legt Snake schon los.
„Waller, du musst dir unbedingt eine WAZ besorgen. Das glaubst du nicht.“
Das glaube ich gerne, denn im Moment kann ich das alles gerade gar nicht glauben. Snake hält jetzt inne. Er merkt, dass ich etwas Zeit brauche, um zu mir zu finden. Dann können wir diese Glaubens- oder Nichtglaubensfragen noch einmal angehen. Dann auch vielleicht sogar mit irgendwelchen Erfolgsaussichten.
Mit dem Hörer in der Hand schlurfe ich in die Küche und schalte den Kaffeeautomaten an. Während das Ding vor sich hin lärmt, drehe ich mir eine Zigarette und zünde sie an. Als das Höllengerät endlich erst Kaffe und dann Ruhe gibt, steht Luz in der Tür. Dann wieder Radau. Sie will auch Kaffee. Als sie den hat, ist endlich endgültig Ruhe.
„So, Snake. Was ist los?“
„Wir haben auf dem Rückweg vom Puff unterwegs eine irgendwie herrenlos wirkende Zeitung mitgenommen. Und heute steht da ein Bericht drin. Über das Gewerkschaftshaus, die verschwunden Daten und über die Sprayer. Total gut. Ein echter Hammer. Ist auch schon online. Das müsst ihr selber lesen, sonst kommt das nicht so gut.“
Luz hört mit und startet sofort den Laptop. Ehe ich zu Wort komme, geht es schon weiter.
„Vor dem Puff war echt hart. War ich müde. War das kalt. Von den Leuten, die da rein sind, haben wir keinen erkannt. Wir haben aber so gestanden, dass wir unauffällig Fotos machen konnten. Sobald wir zurück sind, schicken wir die rum. Bis später.“
Ganz schön viel los für halb sechs am Morgen. Wir machen uns noch einen Kaffee und rufen den Artikel auf. Die Schlagzeile lautet „Was geht vor in unserer Stadt?“. Im Nachtleben oft nicht viel, geht mir sofort durch den Kopf, aber darum wird es wohl nicht gehen.
Und dann erfahren wir viele Neuigkeiten, die für uns keine sind. Für andere aber wohl schon. Wir lesen, dass es Gerüchte gibt, dass das Gewerkschaftshaus abgerissen werden soll. Der Name Seelmann fällt. Seelmann leugnet. Die Stadtverwaltung wiegelt ab. Über den Besuch bei Nick in der Kneipe wird berichtet. Besonderes Augenmerk wird auch auf die verschwundenen Daten gelegt. Dazu will die Stadtverwaltung keine Auskunft geben. Am Ende wird es dann noch richtig gut. Da geht es dann um die Graffitis.
Die Sprayer haben der WAZ dazu etwas geschickt. Das haben die dann sogar gedruckt. Parallel rufen wir den Blog auf. Da steht der Text auch. Beide sind eins zu eins identisch. Die WAZ überrascht mich.
Bei den von uns an diversen Stellen angesprühten VOD- Schriftzügen handelt es sich in keinster Weise um Vandalismus. Diese Zeichen sind Teil einer Protestaktion gegen den geplanten Abriss des Gewerkschaftshauses und den damit einhergehenden Neubau von Luxuswohnungen. Unser Ziel ist eindeutig der Erhalt des Gewerkschaftshauses. Weitere Aktionen werden folgen, bis wir unser Ziel erreicht haben.
Ich sehe Luz an und ziehe nur die rechte Augenbraue hoch. Das habe ich als Teenie lange geübt, das war damals cool. Snake hat nicht übertrieben, das ist wirklich der Hammer. Luz macht uns noch eine Kaffee, ich suche nach Musik. Ich will was ruhiges, aber trotzdem mit Power. „Antics“ von Interpol. Top. Von vorne bis hinten. Von Titel eins bis zehn.
Uns fehlen gerade die Worte, deshalb sagen wir auch nichts, sondern genießen schweigend die Musik und den Kaffee.

Auf meinem Schreibtisch sitzt Pete. Im Schneidersitz. Macht er manchmal, wirkt seltsam, stört mich aber nicht. Er hat dicke Ringe unter den Augen. Gersten mit zu viel Bier zu spät im Bett gekommen und heute viel zu früh von Snake wieder raus geklingelt worden. Er sieht so mies aus, wie ich mich fühle. Umgekehrt passt es aber mit Sicherheit auch. Ich habe vorhin mutig in den Spiegel geguckt. Aber nur ganz kurz. Zum Rasieren hat es nicht gereicht.
Der Rechner läuft schon und wir rufen die Mails mit den Bildern ab. Die beiden haben jeden, der rein oder raus ist, fotografiert. Insgesamt sechzehn Typen. Pete kennt keinen davon, ich auch nicht.
Es gibt auch Mails von den anderen. Aber keiner von ihnen kennt einen von denen. Fehlanzeige. Null Punkte für uns. Diese Nacht soll auch dort gelauert werden. Snake meint, das hielte keiner eine ganze Nacht durch. Zwei bis Mitternacht, zwei andere danach. TomTom und Nick haben sich für die erste Schicht ins Spiel gebracht. Ich zögere, Pete winkt resigniert ab. Also machen wir die zweite Hälfte.
Petes Gedanken kann ich in seinem Gesicht lesen. Warum denn mitten im Winter? Warum nicht im Sommer? Da sind die Nächte nicht nur deutlich kürzer sondern auch noch meist viel wärmer.
Ich hebe den linken Arm und balle die Faust. Pete grinst mich an und tut es mir gleich. Aus der geballten Arbeiterfaust wird Schnick. Schnack. Schnuck. ‚Wird bei uns immer mit links gespielt, wer weiß, ob sonst nicht Unheil droht. Schere schneidet Papier. Ich habe gewonnen und halte ihm die offene Hand hin. Er kramt seinen Chip raus und gibt ihn mir. Ich werde heute für uns stempeln, dafür ist er morgen früh dran.
„Hast du heute schon mal in den Blog geguckt?“
Kopfschütteln. Ich rufe die Seite auf. Ein neuer Eintrag von heute. Pete nickt anerkennend, bevor er zu lachen anfängt.
„Die sind echt abgefahren. Das ist mal ziemlich schräg.“
Kein Widerspruch von mir. Die Sprayer waren bei unsrem OB zuhause und haben seinen am Tor hängenden Postkasten mit einem schönen VOD-Schriftzug veredelt. Wie es sich für sie gehört. In Schwarz. In Schablonenschrift. Und das Ganze dann so fotografiert, dass auch sein Name gut leserlich mit drauf ist. Der Typ wird schäumen vor Wut. Und er wird aber auch ein wenig Angst haben. Vielleicht auch ein wenig mehr als nur ein wenig.
Wir verrichten unser Tagwerk mit einer gewissen Tatenlosigkeit. Die Nacht wird noch lang genug. Ich nicke zwischendurch immer wieder am Schreibtisch ein.

Auf dem Heimweg brummt mein Handy. Eine SMS. Die kann ich auch lesen, wenn ich da bin. Als ich den Mantel im Flur aufhänge, merke ich sofort, dass das ein Fehler war. Luz wollte mich warnen. Die Stimme von meinem Vater kommt aus der Küche. Durch die offene Tür sehe ich Luz, die mich anblinkt. Eindeutige Zeichen. Hau ab, ich regele das.
„Ah, da ist er ja endlich.“
Zu spät. Er hat mich gehört und steht auch schon im Flur. Mir schwillt der Kamm. Den kann ich jetzt gar nicht brauchen, vollkommen egal was er will. Luz macht nicht den Eindruck als wolle sie einen Friedenstruppeneinsatz starten. Der imaginäre Blauhelm bleibt im imaginären Spind. Offenkundig hat er sie verärgert.
„Hat dich jemand eingeladen? Zumindest ich kann mich nicht daran entsinnen.“
„Ein wenig mehr Respekt. Ich bin dein Vater.“
Der Satz kommt mir bekannt vor. Könnte aus einem Film sein. Aber wo sind die Laserschwerter?
„Davon habe ich gehört. Scheint auch plausibel. Die Mama hat da auch noch nie widersprochen.“
Jetzt schnappt er nach Luft. Luz auch. Er aus Empörung, sie um sich das Lachen zu verkneifen. Eine gewisse Spannung liegt in der Luft. Was auch immer ihn hier ursprünglich hin geführt hat, das Gespräch scheint bisher nicht nach seinen Vorstellungen zu laufen. Ich frage mich zuerst, was er eigentlich will, dann aber sofort auch, ob ich das eigentlich wirklich wissen will, und zuletzt, ob er das eigentlich noch selber weiß.
„So wie du dich benimmst, das geht nicht.“
Solche Phrasen haut er raus, wenn er nicht mehr weiter weiß. Das ging jetzt aber reichlich schnell. Wenn er nicht gut in Form ist, warum startet er dann so eine Aktion?
„Oh, es tut mir leid, dass ich dich hier nicht empfangen konnte, als du uneingeladen und unangemeldet hier aufgetaucht bist. Ich hatte eine Termin. Der nennt sich Arbeit. Das ist recht wichtig. Damit verdiene ich mein Geld.“
„Hä? So meinte ich das nicht.“
„Dann versuche doch bitte, dich verständlich auszudrücken. So schwer ist das doch gar nicht. Vielleicht erst mal einfache Sätze. Subjekt, Prädikat, Objekt. Danach können wir vielleicht noch eine adverbiale Bestimmung der Art und Weise einbauen.“
Wutschnaubend reißt er die Tür auf.
„Das wird dir noch leid tun!“
Vielleicht später. Jetzt aber erst mal nicht. Ich schließe die Tür mit Schwung hinter ihm wieder. Ganz schön still, wenn keiner brüllt.
„Was wollte der denn eigentlich hier. Hat er mir jetzt gar nicht gesagt.“
Luz hebt die Schultern.
„Weiß nicht. Der hat sofort nur rumgezetert. Bevor ich ihn aber loswerden konnte, bist du aufgetaucht. Hat wohl irgendwie mit dem Bericht in der Zeitung zu tun. Er glaubt wohl, du planst die Revolution. Vielleicht noch keinen Staatsstreich oder gar die komplette Weltrevolution, aber zumindest auf lokaler Ebene. Dabei hast du doch weder Bart noch Baskenmütze. Und mit einer Pistole kannst du auch nicht umgehen.“
So wie sie das sagt und so wie sie dabei guckt, bekomme ich das Gefühl, sie könne das schon. Ich versuche das sofort aus meinem Hirn zu löschen. Darüber will ich gar nicht nachdenken. Hat der katalanische Bürgerkriegskämpfer und Revolutionär seiner Enkelin das schießen beigebracht? Ich will wirklich nicht darüber nachdenken.
Mein Handy klingelt. Ich will Nahrung und Schlaf bevor ich mir die Nacht vor dem Puff um die Ohren schlage. Trotzdem geht mein Blick zum Display. Der Preacherman ruft an. Das ist noch nie vorgekommen. Der Preacherman überrascht mich.
Wenn der Preacherman mich also anruft, bleibt mir keine Wahl, also gehe ich dran. Er klingt beinahe ein wenig aufgeregt und will sich unbedingt noch heute mit mir treffen. Um neun im „Mercy Seat“. Kann ich da nein sagen? Nein, kann ich nicht. Deshalb sage ich zwangsläufig ja. Das war es wohl zumindest mit dem Thema Schlaf. Ich hoffe mir bleibt wenigstens die Nahrung.
Luz lächelt mich an. Mit dem Lächeln, dass Granit schmelzen kann.
„Du hast es wirklich nicht leicht. Ich komme mit. Wir gehen erst auf eine Pizza zum Salvatore und dann weiter.“
Ich bin nicht aus Granit. Ich bin weicher. Wenn auch nur ein bisschen. Also steige ich wieder in die Docs. Zuerst in den linken. Wie immer. Sicher ist sicher. Wer weiß, was sonst passiert.

Im „Mercy Seat“ treffen wir auf Siouxsie und Zeus. Da noch Zeit ist, bis der Preacherman da sein will, gehen wir nach hinten eine Runde kickern. Siouxsie und Zeus gegen Luz und mich. Es wird eine bittere Lehrstunde für Siouxsie. Sie hat sich in ihrem Leben bisher kaum an diesem Spiel versucht, wir dafür um so mehr.
„Ich glaube, ich muss noch viel lernen.“
Luz schaut sie an. Das hat sie vor fünf Jahren auch gesagt, als sie zum ersten Mal mit mir am Tisch gestanden hat. Und sie hat schnell und viel gelernt. Wir nicken Siouxsie aufmunternd zu. Wird schon. Dauert aber. Wahrscheinlich lange.
Wir sind wieder vorne. Kati bringt uns Getränke.
Die Gläser bimmeln.
Der Preacherman kommt in die Kneipe. Aber nicht allein. Er ist in Begleitung.
Vom Preacherman.
Ich kann nicht glauben, was mir meine Augen suggerieren wollen. In Gedanken zähle ich alle Biere, die ich getrunken habe. Ergebnis ist eins plus das gerade angetrunkene. Scheint nicht genug Alkohol für Halluzinationen zu sein. Luz sieht aber genauso erstaunt aus wie ich, es steht ihr aber bestimmt deutlich besser. Kati steht hinter der Theke und zapft ein Bier. Aber sie ist von dem sich bietenden Anblick so fasziniert, dass sie nicht merkt, dass das Glas voll ist und sich das überlaufende Bier den Weg über ihre Hand und dann über ihren Arm nimmt. Sie beginnt am Ellenbogen zu tropfen.
Der hinter dem Preacherman gehende zweite Preacherman ist noch ein Stück höher und noch en Stück breiter. „Tower Of Strength”, aber das sind The Mission und nicht die Fields. Ansonsten ist alles da. Der große Hut, der lange Mantel und die schweren Stiefel. Der Eindruck, den die beiden hinterlassen, ist wirklich beachtlich. Das „Mercy Seat“ hält für einen Augenblick den Atem an. Wenn mir die so im Dunkeln begegnen würden, würde ich Muffe kriegen. Und ich bin kein ängstlicher Typ. Ich glaube, schlimme Dinge passieren immer nur anderen. Nicht nur einfach anderen, sondern richtig anderen. Anderen, die ich auch gar nicht kenne. Leider hat dieser Glaube aber auch nicht immer geholfen.
Die beiden stellen sich zu uns an den Tisch.
„Hi, das ist mein Bruder.“
Wir winken den beiden wortlos zu.
„Ihr könnt mich Watchman nennen.“
Ja sicher, was sonst. Preacherman. Watchman. „Revelations“ The Best Of Fields Of The Nephilim. Die beiden haben bestimmt auch noch eine Schwester, zu der wir Moonchild sagen können. Wir stellen uns auch vor.
Der Watchman zeigt auf den Preacherman.
„Er hat mir die Bilder von den beiden Typen geschickt, die euren Nick verprügelt haben. Den Namen weiß ich nicht mehr, aber ich kenne einen von denen von früher. Deshalb bin ich in der Stadt.“
Offenkundig wohnt er nicht hier. Hat er aber wohl mal.
Der Watchman trinkt ein Bier mit uns und verschwindet dann zeitig wieder. Ich sehe den Preacherman an.
„Was macht er jetzt?“
„Er geht ihn suchen.“
„Wo?“
„Zuerst wohl im Internet. Danach dann in der Realität.“
„Na, hoffentlich kriegen wir den dann auch in einem Stück, wenn er ihn findet.“
„Das hängt dann ganz von ihm ab.“
Ich hatte gescherzt, aber er auch? Da bin ich nicht sicher. Wir wissen fast nichts über den Preacherman. Und über den Watchman erst recht nicht.
Der Preacherman ist vor drei oder vier Jahren hier aufgetaucht. Vorher habe ich ihn hier in der Gegend nirgends gesehen. Und er fällt auf. Ihn übersieht man nicht. Er wird nicht eins mit dem Hintergrund oder der Umgebung.
Als die anderen sich unterhalten, nehme ich ihn ein Stück beiseite.
„Du wohnst doch nicht schon dein ganzes Leben lang hier?“
„Nein.“
„Aber du hast früher auch schon einmal hier gelebt?“
„Auch.“
„Auch?“
„Auch hier, aber auch woanders.“
Ich warte, dass er weiterredet. Er wartet, dass ich aufhöre zu warten. Er kann besser warten als ich. Ich stelle das warten ein.
„Sollen wir übers Wetter reden?“
Er grinst mich an.
„Gerne“

Pete und ich sitzen im Auto und begucken den Eingang vom Puff. Er hat Luz und mich eingesammelt und wir haben sie heim gebracht. Kati hat uns zwei Thermoskannen Kaffe und ein paar Brötchen gemacht. Wir sind dick eingepackt, aber fangen trotzdem schon an zu frösteln. Die Mischung aus Langeweile, Müdigkeit und Kälte ist fatal. Wir trauen uns nicht Musik laufen zu lassen. Wir wollen nicht auffallen und wir wollen auch nicht die Batterie leer saugen. Alle fünf Minuten piepst das Handy. Bist jetzt haben wir nur vier Männer gesehen und fotografiert. Wir kennen keinen von denen. So ging es TomTom und Nick in den Stunden vorher auch.
Es ist jetzt drei. Seit fast einer Stunde ist nichts mehr passiert. Das Leben läuft im Moment in einer Endlosschleife. Ein Durchlauf dauert fünf Minuten. Das Handy piept. Wir zucken zusammen. Starren auf den Puff. Die Lider werden schwer. Dann piepst das Handy wieder. Wir haben noch etwa zwei Stunden. Noch 24 Schleifen zu drehen. Rechnen klappt sogar noch. Erstaunlich.
Pete packt mich am Arm und dann die Kamera vor sein Gesicht.
„Guck!“
Und ich gucke. Deshalb bin ich ja hier. Um zu gucken. Und ich sehe. Ich sehe unseren OB den Puff betreten. Er ist jetzt drin. Zunächst mal im Gebäude. Vielleicht gleich auch woanders. Besser jetzt kein Kopfkino. Pete nimmt die Kamera runter.
„Meinst du, der ist wirklich zum Poppen da?.“
Wir denken nach. Wahrscheinlich nicht. Wenn er zum Poppen in den Puff gehen würde, würde er das nicht hier machen, sondern irgendwo weiter weg. Das würde auch bedeuten, dass er nicht der ist, für den Seelmann bezahlt. Also zieht oder zwingt ihn etwas anderes hier hin. Aber was?
„Vielleicht sollten wir ihn wissen lassen, dass es ein Foto gibt.“
Pete nickt zustimmend, zieht sein Handy raus und fängt an zu tippen.
„Was schreibst du?“
„Ich habe allen geschrieben, dass der OB hier aufgetaucht ist. Und dass du vorgeschlagen hast, dass du ihm morgen das Bild davon zeigst.“
„Ich?“
„Ja meinst du etwa ich? Ihr seid doch alte Kumpels.“
Er grinst ziemlich breit. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich nicht ein wenig überrumpelt hat.
„ Ich schicke dir die Bilder vom OB und finde morgen früh raus, ob er im Rathaus ist. Wir wollen ja nicht, dass du vergeblich da reinrauschst.“
Wir durchlaufen ein paar weitere Fünfminutenschleifen. Fotografieren noch drei Typen beim Verlassen des Puffs. Durchlaufen noch ein paar Schleifen. Fotografieren den OB ebenfalls beim Verlassen des Puffs.
„Jetzt dürfte keiner mehr drin sein, oder?
Von mir kommt ein Schulterzucken. Meine ich auch, aber ganz sicher bin ich mir auch nicht. Zehn Minuten später machen wir noch ein Bild von einem Mann der das Gebäude verlässt. Davon sind wir jetzt doch überrascht. Den haben wir nicht reingehen sehen. Vielleicht ist der auf den Bildern von den anderen beiden. Dann war der aber wirklich ganz schön lange da drin.
„Wenn der nicht zum Personal gehört, würde ich gerne wissen, wer der jetzt wohl war.“
Würde ich auch. Wir gucken uns das Bild ganz genau an. Wir kennen den Typ nicht. Das war es hier. Wir satteln die Pferde. Pete setzt mich zuhause ab. Eine emotionale Verabschiedung unter Männer.
„Hau rein!“
„Selber!“
Mühsam schleppe ich mich die Treppe hoch. Luz hat versucht wach zu bleiben, ist daran aber gescheitert und auf der Couch eingeschlafen. Ich trage sie ins Bett, dabei murmelt sie irgendetwas, was ich nicht verstehe. Vielleicht weil das ungarisch, albanisch oder sonstwas in der Art ist. Vielleicht aber auch, weil es einfach nur gemurmelt ist.
Ich küsse sie, auch wenn sie schläft. Weil ich es darf. Weil nur ich es darf.
Das ist es dann aber auch. Bevor ich richtig liege, bin ich bereits eingeratzt.

Game over.

***
Am Montag geht es weiter.

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Montag, 23. Januar 2017
17 Trisomie 21 “The Story So Far”
Mittwoch

Gespannt gucken Pete und ich in die Zeitung. Aber kein Bericht über das Gewerkschaftshaus und den Besuch bei Nick. Auch in der Onlineausgabe gibt es nichts darüber zu lesen. Arbeiten die noch dran oder hat sich das für die erledigt? Vielleicht gibt es auch Druck von der Stadtverwaltung und die sollen nichts veröffentlichen. Man weiß nie, wer wem noch einen Gefallen schuldig ist. Oder wer welches Parteibuch hat.
Dafür finden wir einen neuen Eintrag im Blog. Bestimmt zu Tobias Klein. Und noch einen weiteren. Pete und ich schauen uns an. Wir klicken den ersten an. Ein Wohnhaus. Unspektakulär. Der Schriftzug ist am Behälter für die Mülltonnen aufgesprüht. In Schwarz. In Schablonenschrift. Saubere Arbeit. Gut lesbar.
Dass der erste Eintrag die Hütte, in der Tobias Klein wohnt, gezeigt hat, wird sofort klar, als wir den zweiten Eintrag öffnen. Denn dieser ist eindeutig. Darauf ist das „Salome“ zu sehen. Der Puff am Stadtrand. Kein Zweifel. Die Beschriftung über dem Eingang sagt alles. Und das in rotem Neonlichtern. Das war mit Sicherheit kein leichter Job. Deshalb gibt es auch gerade einmal zwei Fotos. Eins von der ‚Entstehung und eins, als alles fertig ist. Die haben den VOD-Schriftzug auf der anderen Straßenseite an einen rostigen Container besprüht. In Schwarz. In Schablonenschrift. Und das Teil haben sie dann mit dem Gebäude zusammen geknipst.
Das haben wir aber gar nicht auf der Rechung gehabt. Pete runzelt seine Stirn, während ich mich erhebe.
„Ich glaube, das sehe ich mir mal aus der Nähe an.“

Kraft des mir hoffentlich nur vorrübergehend gegebenen Amts habe ich einen Außentermin für mich angesetzt. Besichtigung der Sportanlage Mitte-Süd. Und wie es der Zufall will, grenzt diese Sportanlage an der einen Seite an das Grundstück vom „Salome“. Bisher kenne ich die Gegend da eher nur vom vorbeifahren.
Ich bin mit dem Wagen von Pete unterwegs und stelle den auf dem Parkplatz vom Baumarkt ab. Von hier sind es geschätzt 600 Meter bis zum Puff. Die Ansammlung von Autos der Stadtwerke erinnert mich daran, dass es hier eine sensationell gute Paprikafrikadelle gibt. Ich gönne mir eine. Und eine Zigarette danach.
Die Stöpsel vom MP3-Player in die Ohren. Ich scrolle durch die Liste und suche etwas, was zur Stimmung und zum trüben Wetter passt. Erst weit unten in der Liste werde ich fündig. The Twilight Sad „Fourteen Autumns & Fifteen Winters”. Nicht nur der Titel passt super, auch die Musik dieser phantastischen, aber beinahe vollständig unbeachteten schottischen Band, ist jetzt genau das, was ich will.
Dann latsche ich los. Bis zum Puff gibt es kaum etwas. Keine Wohnhäuser, nur ein paar Firmen. Manche sind längst geschlossen und gammeln so vor sich hin, andere noch in Betrieb. Ab spätestens sechs Uhr ist die Straße tot. Da muss keiner hin. Da gibt es nichts. Außer natürlich das edle und teuere „Salome“.
Das ganze Grundstück vom Puff ist mit einer mehr als zwei Meter hohen Mischung aus Mauer und Metallzaun umgeben. Das soll keiner rein, der nicht durch das Tor kommt. Verständlich, Diskretion gehört zum horizontalen Geschäft. Am Tor stehen zwei recht kitschige Statuen irgendwelcher Göttinnen. Ansonsten halt ein Bungalow. Mit verdunkelten Fenster. Es scheint geöffnet, obwohl wir späten Vormittag haben. Wahrscheinlich für den solventen Herrn mit Tagesfreizeit. Und mit Kleingeld. Zur Not auch in großen Scheinen.
Die Besichtigung der Sportanlage hätte ich mir in jeder Beziehung schenken können. Die grenzt zwar an den Puff, aber da sind Büsche, Mauern und Zäune zwischen. Es lässt sich noch nicht mal ein noch so kleiner Blick werfen. Also zurück. Auf der anderen Straßenseite. Unauffällig gucke ich mir den Container und seine Aufschrift an. Respekt dafür, das war bestimmt nicht leicht.

Pete sitzt bei mir im Büro. Wir schlürfen Kaffee. Die Tür ist nur angelehnt. Auf dem Gang ist eine Stimme zu hören.
„Hallo! Ich suche das Büro von Herrn Krawallek. Er hat ein Problem mit seinem Computer gemeldet, das haben wir aber per Fernwartung nicht beheben können.“
Eindeutig DreiElf. Wir sehen uns an. Ganz hoher Besuch. An einen Computernotruf können wir uns nicht erinnern. Er wird einen sehr guten Grund haben, hier so unvermittelt aufzutauchen. Und er wird den uns bestimmt auch mitteilen. Wir warten gespannt.
Eine weibliche Stimme antwortet ihm.
„Wer auf dem richtigen Weg ist, findet sein Ziel auch ohne fremde Hilfe.“
Da ist er jetzt ausgerechnet auf Judith getroffen. Bei der Stadt nehmen sie aber auch fast jeden. Judith, Pete, sogar mich. Die Antwort wird ihm nicht unbedingt weiterhelfen. Das macht dann aber Pete.
„Zweite Tür links.“
„Danke.“
Dann steht er kopfschüttelnd in der Tür und blickt über seine Schulter hinweg Richtung Judith. Wir kennen das, wir winken ab.
„Wisst ihr, was ich nicht verstehe?“
„Sorbisch?“
Er guckt etwas irritiert. Schaltet aber schnell. Er ist ein echter Held der EDV. Und ebensolche sind unglaublich geschickte Geistesakrobaten. Manche können sogar Gedankensaltos mit doppelter Schraube.
„“Richtig, überhaupt nicht. Obwohl es Amtssprache in unserem Land ist. Aber ich meine eigentlich, dass Judith jetzt bei euch ist. Die war doch mal im Vorzimmer vom Vorgänger von unserem verehrten OB.“
Das habe ich bis gerade nicht gewusst. So wie Pete guckt, er auch nicht. Das Mädel ist vor drei, vier Jahren zu uns gekommen. Unser Amt ist so was wie die Fremdenlegion der Stadtverwaltung. Die Vergangenheit zählt nicht. Man fängt wieder bei Null an. Man darf aber seinen Namen nicht ändern, muss im Gegenzug aber auch kein Französisch lernen. Seit sie bei uns ist, erfreut sie uns mit ihren wilden Weisheiten. Offenkundig hat sie früher auch noch andere Qualitäten gehabt. Welcher Art auch immer.
DreiElf sieht vollkommen verknittert aus, als wenn er in seinen Klamotten geschlafen hätte. Oder als wenn er wogmöglich sogar gar nicht gepennt hätte. Der ist ziemlich durch, da ist nicht mehr viel Spiel nach unten. Wir zapfen ihm erst mal eine ordentliche Tasse starken Kaffee. Er sieht aus, als hätte er die nun wirklich mehr als nötig.
„Danke Jungs, dann lasst uns mal raus gehen und ein ruhiges Eckchen suchen.“
Draußen ist es wirklich frostig, das habe ich bei meinem Trip zum „Salome“ schon ausgiebig feststellen dürfen. Mein Bedarf an frischer Luft ist eigentlich gedeckt. Aber DreiElf sieht überhaupt nicht so aus, als hätte er auch ein klitzekleines Interesse, darüber jetzt mit mir zu philosophieren oder zu diskutieren. Also halte ich schön das Maul und wir trollen uns in den Hof.
Er versucht sich eine Zigarette anzumachen, aber seine Hände zittern gewaltig. Vielleicht war es doch keine gute Idee, ihm noch weiteren Kaffee zu geben. Bevor ich ihm aber zu Hilfe kommen kann, hat er die Fluppe doch noch an gekriegt. Pete guckt ihn sehr skeptisch an, aber ehe er irgendwas fragen kann, setzt DreiElf an.
„Jungs, ich bin vollkommen kaputt.“
Gut, dass er das sagt. Da wären wir sonst nicht sofort drauf gekommen, obwohl er weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick auch nur annähernd wie das frisch blühende Leben aussieht.
„Bei uns war ja gestern schon die Hölle los, nachdem Nick und du beim Ordnungsamt wart. Und dann hat ja Luz das mit dem Klein rausgefunden und dann hatte ich ja für die Nacht ordentlich was zu tun.“
Er nimmt einen tiefen Zug und einen ordentlichen Schluck.
„Also habe ich mich hingesetzt und mir ein bisschen was überlegt. Will euch da jetzt nicht mit Details langweilen. Kurz gesagt, ich habe ein paar Dinge vorbereitet, um die dann später unauffällig ins System der Verwaltung reinpacken zu können. Was man da so machen kann. Halt so Eintragungen in Logfiles und Configdateien und anderes Zeugs in der Art. Damit diese Dateien dann quasi mit dem virtuellen Zeigefinger anklagend auf den Klein zeigen.“
Er nimmt noch einen tiefen Zug und noch einen ordentlichen Schluck. Seine Tasse ist fast leer, ich fülle da schnell aus meiner was nach. Weil ich noch nie so viele Worte in so kurzer Zeit von ihm gehört habe, bekomme ich Angst, dass da bei ihm drinnen irgendwas austrocknet. Nicht dass er womöglich bleibende Schäden, welcher Art auch immer, davonträgt.
Auch wenn Pete und ich nicht unbedingt wirklich verstehen, was er da gemacht hat, hängen wir total gebannt an seinen Lippen. Klingt wie aus einem Agentenfilm.
„Damit bin ich aber heute Morgen auch gerade so eben fertig geworden, so dass ich dann direkt ins Büro bin. Da war ich zwar vor den anderen und für meine Verhältnisse zeitig, aber nicht so früh, dass das irgendwem komisch vorgekommen ist. Wir haben ja gerade auch Ausnahmestatus. Den Kram habe ich dann ganz vorsichtig so in unser System gepackt, dass die beiden anderen das finden müssen. Das haben sie dann auch schön getan.“
Er nimmt noch einen tiefen Zug und noch einen ordentlichen Schluck. Er wirft die Kippe weg. Ich halte ihm sofort das Feuerzeug vor die Nase und er zündet sich eine neue an. Pete schüttet aus seiner Tasse Kaffee bei ihm nach. Wir wollen seine Routinen so lange laufen lassen, wie es irgendwie geht. Nicht dass das System DreiElf plötzlich abstürzt und wir die Erfahrung machen müssen, wie sich ein Bluescreen bei einem leibhaftigen Menschen auswirken mag.
„Kurz hintereinander sind sie dann auch zum Chef rein und haben über ihre Entdeckungen berichtet. Schön ist ja, dass uns Billy The Gates ja Systeme beschert hat, in denen inzwischen keiner mehr weiß, was wo stehen kann, darf oder muss und was wo halt nicht.“
Er nimmt noch einen tiefen Zug und noch einen ordentlichen Schluck. Pete und ich tauschen Blicke, Kaffee ist jetzt alle.
„Dann hat der Chef den Klein in seinem Vorzimmer geparkt. Der war total irritiert und hat sich wohl gefragt, welche Fehler er gemacht hat.“
DreiElf grinst diabolisch. Er scheint in letzter Zeit schlechten Umgang zu haben. Ich beginne mir Sorgen um ihn zu machen. Er ist nicht mehr der Jüngste.
„Dann hat der Chef ein paar Sachen geklärt. Dem Klein sind dann alle Zugänge ins System gesperrt worden und er soll jetzt mal schön zuhause bleiben. Der sah irgendwie paralysiert aus, als er die Treppe runter ist. In unserer Abteilung und auch im Rathaus tobt so ein bisschen der Bär. Und dann habe ich mich mal unauffällig vom Acker gemacht. Ist auch keinem aufgefallen, da sie ja alle meine beiden Kollegen bejubelt haben. Die haben den üblen Gesellen ja absolut heldenhaft zur Strecke gebracht.“
Er grinst schon wieder diabolisch, dann nimmt er noch einen tiefen Zug und will die Tasse ansetzen. Auf halben Weg hält er inne und scheint sich zu wundern, dass er den Boden der Tasse sehen kann. Die Hand sinkt zurück. DreiElf hat fertig. Im Moment auch wirklich mit allem. Das Grinsen wirkt jetzt eher leicht verwirrt oder schon fast irre. Das System DreiElf ist dann doch abgestürzt. Ein einfacher Reset allein wird hier wohl nicht helfen.
Pete und ich sehen ihn anerkennend an, auch wenn er davon rein gar nichts mehr mitbekommt. Er steht einfach nur noch rum. Da hat er eine richtig geile Nummer durchgezogen. Wir müssen nicht groß reden, wir stellen uns beide die gleiche Frage. Ist Tobias Klein jetzt der große Zampano oder nur ein weiteres Zahnrad in der Maschinerie wie Carsten Schmitz? Pete tippt schon auf seinem Handy rum und aktiviert unsere Ohren im Rathaus.

Es ist inzwischen fast dunkel und noch kälter. Und ich bin schon wieder draußen. Im Moment stehe ich an einer Bushaltestelle, warte aber nicht auf den Bus. Dort lungere ich rum und friere, weil die sich etwa dreißig Meter vom Palast der beiden Blagen von Holger Schäfer entfernt befindet.
Luz und Nick wollten gerade los, um ihren Versuch zu starten, mit den Vögeln Kontakt aufzunehmen, als ich zuhause angekommen bin. Da haben sie mich gleich mitgeschleppt. Sie meinten, es wäre doch besser, wenn noch jemand da ist. Sicher ist sicher.
Also bin ich jetzt da. In beiden Haushälften brennt hinter mehren Fenstern Licht. Die beiden scheinen daheim zu sein. Luz hat mir ihr Handy gegeben, da mein alter Knochen nichts kann. Das Ding ist halt ein Telefon und mehr nicht. Jetzt beobachte ich die Gegend unauffällig sowohl über das Gerät hinweg als auch auf dem Display durch die Kamera. Ich versuche so auszusehen, wie jeder andere auch, der an irgendeiner Bushaltestelle irgendwo auf der Welt steht und sich die Wartezeit mit seinem Phone vertreibt.
Luz und Nick kommen die Straße entlang. Sie ignorieren mich vollkommen und ich würdige sie im Gegenzug auch keines Blickes. Sie steuern auf den Eingang von Martin Beier zu. Der wird dem Lächeln von Luz bestimmt nicht wiederstehen können. Luz wird wieder versuchen Granit zu schmelzen. Und das kann sie gut.
Luz drückt den Klingelkopf. Das Läuten ist bis zu mir zu hören. Die beiden warten. Es passiert nichts. Die beiden schauen sich an.
Luz drückt erneut auf den Klingelknopf. Die beiden warten weiter. Es passiert wieder nichts.
Luz drückt erneut auf den Klingelknopf. Genau in dem Moment wird die Tür aufgerissen.
„Seid ihr bekloppt? Was soll das?“
Ein Charmebolzen sondergleichen. Er hat Luz überrumpelt. Es dauert einen Augenblick, bis ihr Lächeln leuchtet. Von meinem Platz sieht es aus, als wäre der Typ davon absolut unbeeindruckt, aber ich bin ein ganzes Stück entfernt. Das täuscht bestimmt.
„Hallo Herr Beier, wir gehören zum „Mercy Seat“ und möchten gerne mit Ihnen reden. Können wir ...“
„NEIN!“
Er schneidet Luz sofort das Wort ab. Offenkundig hat mein Eindruck mich nicht getäuscht. Er muss aus einer ganz besonderen Sorte Granit bestehen. Aus einer unglaublich harten Sorte. Vielleicht ist er gar nicht von dieser Welt.
„Aber Herr Beier ...“
„Welchen Teil von NEIN hast du nicht verstanden?“
Die Tür wird zugeknallt. Luz wirkt konsterniert, Nick hingegen eher versteinert. Die beiden brauchen einen Moment, um sich zu sammeln. Dann rüber zum anderen Eingang. Vielleicht ist Frau Kaiser ja zugänglicher.
Ehe Luz den klingeln kann, wird die Tür geöffnet. War ja gerade auch laut genug.
„Was ist denn hier für ein Krach?“
Begrüßungsformeln scheinen nicht zum Wortschatz der beiden zu gehören, aber zumindest schreit sie nicht. Vielleicht auch nur noch nicht. Freundlich ist aber auch anders. Luz kann freundlich.
„Hallo Frau Kaiser, Herr Pozigalla ist der Wirt vom „Mercy Seat“ im Gewerkschaftshaus. Wir würden gerne mit ihnen reden.“
Nick kann auch freundlich. Sie ist ja keine staatliche Institution.
„Hallo Frau Kaiser.“
Frau Kaiser arbeitet jetzt im Misstrauensmodus. Mit dem Thema hat sie nicht gerechnet. Womit auch immer sie gerechnet haben mag. Sie geht aber sofort in die Defensive.
„Ich weiß nicht, was ich damit zu tun haben soll.“
Luz macht eine vage Handbewegung zur anderen Haushälfte.
„Sie und ihr Bruder haben ja den Pachtvertrag von ihrem Vater quasi geerbt. Und jetzt gibt es ja wohl Überlegungen den zu kündigen. Da sollten wir bitte drüber reden.“
Heike Kaiser schweigt und mustert Luz. Von oben bis unten. Danach schweigt sie weiter und mustert Nick. Von oben bis unten. Man sieht ihrem Gesicht an, wie ihr Hirn arbeitet. Auf diese Situation ist sie nicht vorbereitet gewesen und jetzt weiß sie nicht, wie sie hier geschickt wieder raus kommen soll. Sie schweigt, denkt und guckt von Nick zu Luz und wieder zurück.
„Also, ich weiß nicht, was Sie das angehen sollte, was ich so mache, aber Sie haben den Typ nebenan ja wohl kennen gelernt. Und je weniger ich mit dem zu tun habe, je besser. Und über diesen miesen Pachtvertrag kommt auch noch nicht mal Kohle rein.“
Sie merkt sofort, dass sie sich hat hinreißen lassen und mehr gesagt hat, als gewollt. Diese Infos wollte sie eigentlich den beiden nicht geben. So ist das mit den Emotionen.
„So, ich habe keine Zeit mehr. Auf Wiedersehen.“
Bevor Luz oder Nick noch etwas sagen können, ist die Tür zu. Die beiden schütteln die Köpfe. Die beiden sind harte Brocken. Harte Brocken aus ungewöhnlichem Granit. Aus ungewöhnlichem Granit mit unbekanntem Schmelzpunkt.

Abends sind wir alle im „Mercy Seat“. Wirklich alle. Außer DreiElf. Zum einen ist das „Mercy Seat“ nicht wirklich sein Laden und zum anderen hat Pete ihn heute, nach seinem Besuch bei uns, nach hause gebracht. Seitdem wird er wohl schlafen und vor morgen früh auch nicht wieder wach werden. Aber sonst sind alle da. Als Siouxsie und Zeus zusammen reinkommen, stupst Luz mich an. Das scheint jetzt zur Gewohnheit zu werden. Mir ist es recht. Gut für Zeus, gut für Siouxsie und auch gut für mich.
Wir haben uns in den hinteren Raum mit den beiden Kickern verzogen. Da ist es ruhiger und es kann niemand unbemerkt zuhören.
Es ist viel passiert. Es gibt viel zu erzählen. Die Kehlen werden trocken.
Nick bringt neue Getränke. Die Gläser bimmeln.
Snake wirkt nachdenklich und trommelt geistesabwesend mit den Fingern auf dem Tisch. Zeus wedelt mit den Händen vor seinem Gesicht.
„Alles klar, mein Bruder und Droog?“
„Nein, nicht alles. Wisst ihr, was ich nicht verstehe?“
„Serbokroatisch?“
„Stimmt, das auch nicht. Aber das meine ich gerade nicht. Mir lässt das mit dem Zeichen an dem Puff keine Ruhe. Wie sind die darauf gekommen?“
Jetzt herrscht Stille. Alle sehen ihn an. Das war vorhin auch schon ein Punkt, an dem wir nicht weiter gekommen sind. Sind dann aber darüber hinweggegangen.
„Ich bin mir da nicht sicher und ich sage das auch nicht gerne, aber ich vermute, dass die Stefanie da was mit zu tun haben könnte.“
Ehe es Proteste geben kann, redet er schnell weiter. Pete dreht die Augen zur Decke und danach in meine Richtung. Ich weiß, was er meint. Da hätten wir aber auch heute Morgen schon drauf kommen können. Aber vorhin hat das auch keiner so gesehen. Für uns war Stefanie eine Frau von Ehre.
„Den einzigen Zusammenhang zu dem Puff hat Stefanie am Telefon hergestellt. Wenn auch eher allgemein. Ansonsten gibt es da erst mal keine Verbindung. Und es war vorgestern, als sie uns das erzählt hat. Und letzte Nacht haben die dann schon das Zeichen dran gemacht.“
Alle lassen das erst mal sacken. Wenn Stefanie Kontakt zu den Sprayern hat, würde das einiges erklären.
„Dann rufen wir sie doch einfach mal an.“
Snake holt sein Handy raus und wählt. Er aktiviert den Lautsprecher. Es klingelt.
„Ah, hallo Snake.“
„Hi Stefanie, wir sitzen hier so zusammen und da überlegen wir gerade, wie die Sprayer auf den Puff gekommen sind. Und jetzt haben wir uns gefragt, ob sie das nicht genau wie wir von dir wissen könnten.“
So ist Snake manchmal. Direkt. Ohne Umwege. Jetzt schweigt er. Stefanie schließt sich ihm zunächst dabei an. Eine kleine Weile vergeht.
„Und wenn?“
Wir schauen uns an. Keine Reaktion, mit der wir gerechnet haben.
„Ich bin von mir aus zu euch gekommen, habe euch Infos gegeben und meine Hilfe angeboten. Falls – und ich sage ganz bewusst falls und nicht wenn – ich noch anderen Infos gegeben haben sollte, was spricht denn dagegen? Und in dem Fall, würde ich denen auch nicht sagen, dass ich euch Infos gegeben habe. Genauso wenig wie ich euch sagen würde, dass ich anderen Infos geben habe. Das hat auch was mit Schutz zu tun.“
Von uns kommt kein Widerspruch. Weil es keinen Widerspruch gibt. Wir verstehen sie.
Sie ist eine Frau von Ehre.
„Wo wir gerade vom „Salome“ sprechen. Da ist noch etwas. Heute musste ich da eine Vorauszahlung hinbringen. In einem Umschlag. Die wollten das vorher, weil es echt viel ist. 3000. Irgendwer darf da jetzt bald mal richtig einen drauf machen.“
Interessant.
„Ihr fragt euch bestimmt, warum ich das mache ...“
Ehe einer von uns was sagen kann, legt Siouxsie den Finger auf die Lippen und schüttelt den Kopf. Kein Wort. Abwarten Aber ohne Tee trinken. Tee steht im „Mercy Seat“ nicht auf der Getränkekarte.
„Ich will nicht, dass das Gewerkschaftshaus abgerissen wird. Das gehört zur Geschichte unserer Stadt und ist ein Mahnmal. Und so sollte es auch behandelt werden. Als ich Kind war, ist mein Opa da oft mit mir hingegangen und hat von früher erzählt.“
Die Blicke von Luz und mir treffen sich, als sie ihren Opa erwähnt.
„Mein Opa war noch sehr jung, als das mit dem dritten Reich los ging. Seine Brüder waren aber älter und auf Zeche. Und natürlich in der Gewerkschaft. Und im Gewerkschaftshaus haben sie sich getroffen und versucht, irgendwas zu tun. Bis die Gewerkschaften dann verboten wurden und in das Haus irgendwas von der Partei kam.“
Alle hören ihr aufmerksam zu. Kati bringt eine neue Runde Getränke. Die Gläser bimmeln dezent.
„Einer seiner Brüder starb dann im KZ, weil er Gewerkschafter war. Und ein paar andere auch, die mein Opa kannte. Und als ich alt genug war, hat er immer wieder gesagt, dass so was nie wieder passieren darf. Kein neues drittes Reich und auch kein viertes.“
Da hat sie zweifelsfrei Recht.
Wir verabschieden uns von ihr. TomTom schaut in die Runde.
„Das ist inzwischen ganz schön verworren. Ich versuche das mal zusammenzufassen. Unterbrecht mich, wenn ich falsch liege oder was vergesse.“
Wir fangen augenblicklich an ihm aufmerksam zuzuhören, auch wenn er noch gar nicht angefangen hat. Wenn das jemand gut hinbekommt, dann er.
„Fangen wir mal bei der Stadt an. Da haben wir den Schmitz. Das ist eine Pfeife, der kann nur ein Handlanger sein. Für eine Handvoll Euroscheine wird er den Kontakt mit Seelmann halten. So richtig was wissen wird der nicht. Der zweite Kandidat ist der Klein. Schon ein etwas größeres Kaliber. Meiner Meinung nach, aber auch nicht der Topstar. Der Klein ist ja erst mal aus dem Spiel. Da muss noch wer mit drin sein, der recht hoch in der Hierarchie ist. Der OB ist das so direkt aber wohl nicht, der freut sich wahrscheinlich nur, dass Kohle in den maroden Haushalt fließen soll. Der weiß, dass das nicht nach allen Regeln läuft, aber dass er da richtig die Finger drin hat, glaube ich nicht. Der will ja nächstes Jahr wieder gewählt werden.“
TomTom ist clever. Er kann schnell denken. Wir schweigen. Er nickt.
„Okay. Dann haben wir den Seelmann. Der ist ja wohl klamm und braucht ein Projekt, mit dem er Kohle machen kann. Da hat er wohl das Grundstück hier ins Auge gefasst und irgendwas eingestielt, damit er da dran kommt und dann bauen kann. So viel Geld, wie er schon da reingehauen hat, ist er wohl sicher, dass alles klappt und auch der Denkmalschutz wegkommt. Da könnte der Unbekannte bei der Stadt eine gewisse Rolle spielen. Und dann bezahlt er irgendwem auch reichlich für den Puff.“
TomTom guckt in die Runde. Zustimmendes Nicken. Er macht das gut.
„Beier und Kaiser, die beiden Erben. Scheinen ja total angenehme Zeitgenossen zu sein. Wie es scheint, wollen sie die Gelegenheit nutzen, aus dem Vertrag hier rauszukommen. Ich frage mich da aber, warum die das nicht längst gemacht haben, wenn die das Scheiße finden und auch nichts damit verdienen. Wenn die den Vertag nicht kündigen, wäre alles andere aber Makulatur. Dann bliebe alles, wie es ist.“
Er schaut erst Luz und dann Nick an. Er grinst.
„Ihr habt die beiden ja heute kennen gelernt. Habt ihr eine Idee, wie wir die mal eben umstimmen können?“
Die beiden winken resigniert ab. Mit denen ist nicht zu reden. Die Lektion haben wir schon hinter uns.
„Das ist aber alles nur Halbwissen und Spekulation. Das reicht nicht, um da irgendwas offiziell zu starten.“
Nick nickt zustimmend und lächelt schelmisch.
„Absolut. Das reicht nicht. Da können wir bei der Polizei oder Stadt nichts vorbringen.“
TomTom stößt ihn an und lacht. So ist er unser Nick. So war er schon immer. Er hält nicht viel von staatlichen Institutionen.
„Ich bin noch nicht ganz fertig. Dann ist da noch die Sache mit den verschwundenen Dateien. Das ist jetzt bekannt und dadurch sollte sich das, was auch immer da passieren soll, verzögern. Dadurch dass Nick mit seinem Antrag den Stein ins Rollen gebraucht hat, ist da jetzt Feuer im Busch. Die werden sich jetzt vielleicht erst mal ein bisschen zurückhalten, bis die erste Aufregung im Rathaus sich wieder gelegt hat.“
TomTom zögert noch einmal ganz kurz.
„Ich habe nicht das Gefühl, dass wir mit irgendwem von den Leuten vernünftig reden können. Nicht mit Seelmann, nicht mit Schmitz, nicht mit Klein oder sonst wem. Jemand eine Idee, was wir machen könnten?“
Er hat alles gesagt, was er dazu zu sagen hat. Und das war wirklich viel. Jetzt schaut er uns erwartungsvoll an. Wir enttäuschen ihn ein wenig. Keiner hat eine Idee. Absolut niemand.
Kati bringt neue Getränke. Die Gläser bimmeln nachdenklich.
Der Captain nimmt noch einen Schluck und schiebt sein angetrunkenes Bier zur Seite.
„Vielleicht sollten wir mal beim Puff gucken gehen, wer da so hingeht. Vielleicht kriegen wir raus, für wen Seelmann bezahlt. Ich hol mein Auto und meine Kamera. Kommt einer mit? Alleine wird es bestimmt ganz doll langweilig.“
Snake wechselt einen Blick mit Betty.
„“Bin dabei. Habe morgen frei. Waller du bist doch da gewesen. Erzähl mal, wie das da aussieht.“
Ich beschreibe den beiden die Umgebung so gut, wie es geht. Die beiden hauen ab. Kopfüber in die Nacht.
Es ist spät. Siouxsie und Zeus wollen auch langsam los. Betty ebenfalls. Der Preacherman will sie begleiten. Bevor sie aufbrechen, hebt der Preacherman die Hand.
„Eins noch. Wir dürfen die beiden Gestalten nicht vergessen, die Nick vermöbelt haben.“
Das ist wahr. Die sind uns vorhin durchgegangen. Die dürfen wir auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Der Preacherman lächelt. Immer noch ein Anblick, an den wir uns gewöhnen müssen.
„Vielleicht kann ich da noch was beitragen. Weiß ich aber erst morgen“
Dann sind die vier auch weg. Luz, TomTom, Pete und ich bleiben übrig. Wir wollen noch ein Runde Drinks. Pete zeigt auf einen der Kicker. Wir stehen sofort auf. In den letzten Tagen ist das Spiel deutlich zu kurz gekommen. Pete und TomTom gegen Luz und mich. Ein tolles Spiel. Spannend bis zum letzten Ball.
Der letzte Ball gehört Pete.

Treffer. Versenkt.

***
Am Freitag geht es weiter.

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