Donnerstag, 2. März 2017
28 Skids “The Saints Are Coming”
Sonntag

Es wird schon langsam dunkel. Noch eine halbe Sunde bis es vollkommen finster ist. Der gestrige Abend war für alle hart, wir haben es ganz schön krachen lassen. Aber die Aufregung hat uns doch ziemlich früh aus dem Bett getrieben. Dann haben wir den Tag totgeschlagen, bis es endlich Zeit war zu gehen.
Luz und ich haben Nick und Kati abgeholt. Sehr zeitig, jetzt sind wir die Ersten am Treffpunkt, der an einer Straßenecke etwas mehr als hundert Meter von der Hütte der beiden Erben entfernt liegt. Spannung liegt in der Luft. Wir sind unruhig. Keiner kann richtig still stehen. Duell am O. K. Doppelhaus-Corral. Nur ohne Waffen. Nur mit Worten. Hoffentlich.
Wir brauchen nicht lange zu warten, dann sind auch schon Siouxsie und Zeus da. Und nur wenige Augenblicke auch Snake und Betty zusammen mit TomTom. Wie aus dem Nichts erschienen steht dann auch der Preacherman neben uns. Der Captain und Claudia haben Pete unterwegs irgendwo eingesammelt. Alle da, keiner fehlt. So wie es sein muss.
Pete sieht noch blasser aus als gestern. Hätte ich mir gar nicht vorstellen können, ist aber so. Wenn er noch mehr Farbe einbüßt, können wir bestimmt durch ihn hindurchgucken. Er sieht gleichzeitig aber noch nach etwas anderem aus und ich habe auch eine Ahnung nach was. Aber ich will es nicht nur vermuten, sondern von ihm hören. Deshalb separiere ich ihn ganz unauffällig von den anderen, indem ich heftig an seinem Arm zerre.
„Waller, ist gut.“
Dann guckt er mich an, zögert aber noch einen Augenblick, ehe er weiterspricht.
„Luz hat Recht gehabt. Eve ist heute Mittag zu mir gekommen und hat mir all das erzählt, was sie auch bei Snake gesagt hat. Woher hat sie gewusst, das sie kommen wird?“
„Denk einfach kurz nach. Luz. Eve. Häng noch ein R dran und spricht es dann laut aus. Dann weißt du, mit wem die beiden im Bunde stehen.“
Dabei gucke ich dermaßen ernst und gleichzeitig ein bisschen wahnsinnig, so dass Pete in seinem leicht übermüdeten Zustand nicht sofort merkt, dass ich ihn auf die Schüppe nehme. Er sieht mich an, als hätte ich nicht alle Latten auf dem Zaun. Vielleicht auch so, als wenn die Latten vollkommen abhanden gekommen wären oder selbst von einem Zaun an sich gar nicht gesprochen werden kann. Dann grinst er endlich. Ihm fehlt eindeutig Schlaf.
„Blödmann. Wie auch immer. Sie war da und hat das alles erzählt. Und sie hat gesagt, dass sie es damit auch hinter sich hat, die ganze Geschichte zu erzählen. Ursprünglich hat sie gedacht, sie müsse drei Mal, aber zwei Mal hat ja dann gereicht.“
„Wer ist denn da in Ungnade gefallen?“
„Keiner, aber du warst ja zufällig bei Snake. Da hat sie euch beide in einem Rutsch erledigen können.“
Auch wenn ich so spontan keine Ahnung gehabt habe, wer es noch hätte sein können, mich selbst habe ich gar nicht auf der Liste gehabt. Ich sehe Pete an und warte. Pete guckt zurück und wartet auch. Aber nicht lange.
„Ich habe gesagt, dass ich nachdenken muss und sie dann vielleicht anrufe.“
Ich sehe ihn weiter an und warte. Er guckt zurück, und wartet auch. Aber wieder nicht lange.
„Ich habe inzwischen nachgedacht.“
Ich sehe ihn weiter an und warte. Er guckt zurück, und wartet auch. Aber wieder nicht lange.
„Ich werde sie anrufen.“
Ich sehe ihn weiter an und warte. Er guckt zurück, und wartet auch. Aber wieder nicht lange.
„Nachher, wenn ich wieder zuhause bin.“
Wir gehen die paar Schritte zu den anderen zurück. Luz schaut zu mir rüber, ich morse sie an und sie nickt erst kurz und lächelt dann zufrieden.
Ansonsten herrscht ein unruhiges Palaver. Die Aufregung und Vorfreude ist groß. Es schwingt aber auch ein bisschen Angst mit, dass doch noch im letzten Augenblick irgendetwas passiert, womit wir nicht rechnen. Worauf wir nicht vorbereitet sind. Was wir übersehen haben. Was uns einen Strich durch die Rechung macht.
Es muss jetzt losgehen. Nick verteilt noch schnell eine Runde kleine Fläschchen Ramazotti.
Die Fläschchen bimmeln.
Der Preacherman ist die Vorhut, er geht zuerst. Erstaunlich, wie geschmeidig, lautlos und schnell sich der große Mann bewegen kann. Wir sehen ihm dabei zu, wie er plötzlich im Vorgraten vor dem Haus von Martin Beier verschwindet und sich hinter einem Busch versteckt. Wie er mit dem Busch eine Einheit wird. Dazu muss er aber den Hut abnehmen. Wir können ihn eigentlich nur noch sehen, weil wir wissen, dass er da sein muss.
Wir gucken uns noch einmal gegenseitig an. Jetzt ist es so weit, es geht los. Nick und Kati vorneweg. Dahinter der ganz Rest. Der Captain. Claudia. Snake. Betty. Siouxsie. Zeus. TomTom. Pete. Luz. Ich. Halt alle. Außer dem Preacherman, der hockt ja ohne Hut im Vorgarten und ist eins mit dem Universum und eins mit einem Busch. Es dauert nicht lange, bis unsere seltsame Prozession ihr Ziel erreicht hat. Für hundert Meter braucht eigentlich niemand lange. Wir also auch nicht. Dann verteilen wir uns gleichmäßig vor den beiden Haushälften. Auf beiden Seiten brennt Licht. Sie sind da. Mit Sicherheit warten sie nicht auf uns. Das ist uns allerdings reichlich egal.
Nick und Luz gehen Richtung Haustür. Auch heute sollen sie wieder mit den beiden reden. Das haben sie nach der Abfuhr vor einigen Tagen verdient. Nick schiebt Luz nach vorne.
„Beim letzen Mal musstest du auch reden. Heute ist es deshalb natürlich auch an dir, den beiden die frohe Botschaft zu verkünden.“
Luz strahlt Nick an. Genau darauf hat sie gehofft, hätte aber nicht zu fragen gewagt. Sie macht die letzten beiden Schritte und ist an der Tür. Nick steht mit verschränkten Armen und unbewegtem Gesicht hinter ihr.
Sie legt den Finger auf den Klingelknopf und drückt drauf. Schon hier draußen ist das ein Höllenlärm. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Drei Sekunden. Vier Sekunden. Fünf Sekunden. Dann nimmt sie den Finger wieder runter. Ruhe. Drinnen passiert nichts.
Wir schauen uns etwas irritiert an. Der Typ ist noch sturer als wir gedacht haben. Stur können wir aber auch.
Luz legt den Finger erneut auf den Klingelknopf und druckt drauf. Der grelle Ton klirrt wieder in unseren Gehörgängen. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Drei Sekunden. Vier Sekunden. Fünf Sekunden. Dann nimmt sie den Finger wieder runter. Ruhe. Drinnen geht das Licht im Flur an und ein Schatten erscheint. Geht doch. Luz und Nick gehen zwei Schritte zurück.
Martin Beier reißt die Tür auf. Damit, dass Luz und Nick schon wieder da sind, hat er nicht gerechnet. Auch nicht mit dem Menschenauflauf auf dem Bürgersteig. Er glotzt verärgert in die Runde.
„Soll ich euch einen guten Rat geben?“
Luz guckt naiv interessiert. So wie ein kleines Mädchen den großen, schlauen Onkel anguckt, der, bevor er endlich die Schokolade rausrückt, noch ein paar wichtige Dinge verkünden will. Dabei hat sie auch schon ihr spezielles Lächeln eingeschaltet. Das Lächeln, das Granit schmelzen kann. Heute aber in der bösen Variante. Mir schwant nicht Gutes.
In ihren Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut.
„Haut einfach ab. Ihr alle. Sofort!“
Dabei gestikuliert er in fast alle Richtungen. Aber nur in fast alle. Nicht jedoch in Richtung des Preacherman. Entweder hat der den noch nicht wahrgenommen oder er ist der einzige, der willkommen ist. Ansonsten wird der gutgemeinte Rat von uns offenkundig als Unrat eingestuft, den keiner setzte sich auch nur im Ansatz in Bewegung. Luz sieht ihn an und sagt ziemlich laut nur ein Wort.
„NEIN!“
„Was?“
„Welchen Teil des Wortes NEIN hast du nicht verstanden?“
Beier springt auf die Provokation auch sofort an und macht zwei Schritte auf sie zu. Darauf hat der Preacherman gewartet. Er löst seine innige Verbindung mit dem Busch, setzt blitzschnell seinen Hut wieder auf und steht dann, ohne dass das geringste Geräusch zu hören ist, in der Eingangstür. Allerdings bleibt von dem Durchgang nicht mehr viel übrig, wenn der Preacherman davor steht.
„Hast du sie nicht verstanden? Sie hat doch laut und deutlich gesprochen.“
Beier zuckt zusammen, als er den Preacherman hinter sich hört, dreht sich um und zuckt wieder zusammen, als er den Preacherman dann auch sieht. Das alles passiert für ihn zu schnell. Er wird überrollt. Man kann quasi auf seiner Glatze sehen, wie darunter gearbeitet wird.
In diesem Augenblick geht die Haustür der anderen Hälfte auf und Heike Kaiser kommt raus. Die können wir noch nicht brauchen, aber der ganze Radau hat sie angelockt. Das haben wir so nicht bedacht, das hätten wir jedoch bedenken sollen, aber jetzt müssen wir improvisieren.
„Was ist denn das für ein Krach. Was wollt ihr denn schon wieder? Ich dachte, wir hätten das geklärt.“
Aber auf der anderen Seite muss noch irgendwas passieren, das ich von meiner Position aus nicht sehen kann. Etwas, das aber Pete und Snake sehen könnten, die beide ganz ungläubig gucken.
„Na Bruder, alles klar bei dir?“
„Ja sicher, schön , dass du da bist.“
Der Preacherman hat das offenkundig bedacht und den Watchman dazu geholt. Der jetzt wohl so in der anderen Tür steht, wie der Preacherman in dieser. Der wohl schon vor uns da war und im anderen Vorgarten eins mit einem anderen Busch oder mit was auch immer geworden ist. Und wir haben ihn nicht gesehen, da wir nicht wussten, dass er da ist. Wir konnten den Preacherman vorhin ja auch nur sehen, weil wir wussten dass er da sein muss. Wir wissen fast nichts über diese beiden Brüder. Und sie stecken voller Überraschungen.
Durch das unerwartete Auftauchen des Watchman ist die Lage jetzt für alle etwas verworren. Ich schiebe mich Richtung Pete, bis ich neben ihm stehe und auch die andere Tür sehen kann. Und auch den Watchman, der mir kurz zuzwinkert.
Einen Augenblick herrscht dann Ruhe und Luz will diese Gelegenheit nutzen, aber dann kommt aus Petes Jackentasche ein einzelnes Bimmeln seines Handys. Dann wieder Ruhe. Als Luz wieder ansetzten will, kommt wieder das Geräusch aus seiner Jackentasche. Das wiederholt sich dann noch einmal.
Luz ist wenig amüsiert. Pete zieht das Handy aus der Tasche und guckt drauf. Seine Stirn kräuselt sich. Dann hält er das Display so, dass auch ich drauf gucken kann.
Zieh die Plane weg.
Über dem Zaun zwischen den beiden Eingängen hängt eine Plane. Auf beiden Seiten bis zum Boden. Die ist mir bis jetzt gar nicht aufgefallen, aber ich bin ziemlich sicher, dass die eigentlich nicht dahin gehört.
Aber von wem kommen die drei SMS? Wer auch immer die schickt, muss uns sehen. Das hat wohl auch Pete im gleichen Moment so gecheckt, denn wir beginnen gleichzeitig unmotiviert in alle Richtung zu gucken. Luz schaut stirnrunzelnd in unsere Richtung. Wahrscheinlich sehen wir ziemlich blöde dabei aus.
Dann greift Pete mit beiden Händen nach der Plane und zieht sie mit einem Ruck weg. Und da ist er. Der VOD-Schriftzug. Auf beiden Seiten des Zauns so gut, wie nur irgendwie möglich auf die Latten gesprüht. In Schwarz. In Schabloneschrift. Wie es sich gehört. Eine saubere Arbeit, die auch von allen Anwesenden mit gebührenden Schweigen zur Kenntnis genommen wird.
„Nick möchte sich sein neues Haus gerne auch mal von innen ansehen.“
Luz hat die allgemeine Verwirrung genutzt, um endlich weiterzukommen. Ihre Augen funkeln. Sie spricht laut und deutlich, damit sie auch jeder versteht. Wirklich jeder. Allerdings scheint das bei den beiden Halbgeschwistern trotzdem nicht richtig angekommen zu sein. Zumindest gucken die so.
„Ah, ich merke, ich muss deutlicher werden. Ihr versteht mich noch nicht. Oder ihr wollt nicht.“
Luz stellt sich so hin, dass die beiden sie und auch Nick, der wieder mit verschränkten Armen und unbewegtem Gesicht halb hinter ihr steht, gut sehen können. Und sie lächelt wieder. Dieses Lächeln, das Granit schmelzen kann. Und wieder in der bösen Variante.
In ihren Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut.
Und sie spricht zu den beiden. Ganz langsam. Wort für Wort. Beinahe schon Buchstabe für Buchstabe. Inklusive Leerzeichen. So wie man spricht, wenn man dem Gesprächspartner eindeutig mitteilen möchte, dass man sie oder ihn für eine Idiotin oder einen Idioten hält.
„Ihr wollt den Pachtvertrag beenden. Und wie ihr bestimmt sogar besser wisst als wir, fällt eure Hütte hier genau in dem Augenblick an Nick. An Helmut Pozigalla.“
Damit die beiden auch genau wissen, wer dieser unglaublich nette Typ ist, von dem sie redet, zeigt sie quasi mit ihren strahlenden Augen auf ihn.
„Und deshalb wollen wir uns heute schon einmal sein neues Haus angucken. Das versteht ihr doch bestimmt und ist doch auch okay für euch, oder?“
Die beiden kapieren endlich, was läuft. Aber Verständnis haben sie nicht und okay ist für sie schon gar nichts. Quasi synchron drehen sich beide Richtung der eigenen Tür. Dass dort der Preacherman und der Watchman stehen, scheint ihnen kurzfristig entfallen zu sein. Das ändert sich dann aber sofort wieder und quasi synchron drehen sie sich wieder um. Die Kaiser findest sogar ihre Stimme wieder.
„Ja, gut. Wir haben gedacht, das könnte klappen. War ja wohl nichts. Was wollt ihr jetzt noch?“
Eins muss man ihr lassen, sie bleibt ihrer unangenehmen Art auch in Krisensituationen treu. Da knickt sie nicht gleich ein. Da wird nicht plötzlich auf Schönwetter gemacht.
„Ihr geht morgen früh zu Seelmann und sagt ihm, dass es das war. Das ihr raus seid. Einer von euch geht da hin. Persönlich. Nicht per Telefon oder so.“
„Das ist alles?“
„Das ist alles.“
Vom Hauseingang meldet sich zum Abschied noch der Preacherman. Er hat einen drohenden Unterton in der Stimme. Aber was er sagt, ist keine Drohung, das ist ein Versprechen. Eins, das er halten wird. Und nicht nur er. Er verspricht für uns alle.
„Wenn das nicht so läuft, wie wir wollen, kommen wir morgen wieder. Wenn es sein muss auch an jedem verdammten Tag.“
Er unterstreicht seine Worte, indem er zwei der Metallstreben des Zauns zwischen den beiden Eingängen packt und ohne sichtbare Anstrengung verbiegt. Das gilt zwar nicht mir, aber es beeindruckt mich trotzdem. So wie er das gemacht hat, scheint er nicht in Erwägung gezogen zu haben, dass das nicht klappen könnte. Und die Dinger wirken wirklich reichlich stabil.
Aber ich sehe, dass er nicht nur mich beeindruckt hat. Auch bei Kaiser und Beier hinterlässt das einen Eindruck. Einen hoffentlich bleibenden Eindruck. Einen hoffentlich zumindest bis morgen bleibenden Eindruck. Die beiden gucken im Moment jedoch so, als würden sie am nächsten Vormittag zeitig zu Seelmann gehen.
Jetzt scheint alles gesagt. Der Preacherman und der Watchman kommen zu uns rüber und wir rücken in aller Ruhe ab. Eher mit einem Gefühl der Erleichterung als des Triumphs. Jetzt sollte eigentlich nichts mehr schief laufen können. Aber erst wenn die dicke Frau endgültig aufhört zu singen, ist die Oper zu Ende. Und ganz sicher bin ich mir nicht, ob sie nicht gerade nur neu Luft holt.
Pete geht jetzt neben mir.
„Eumel und seine Band waren doch gestern auch im „Mercy Seat“, da müssen sie mitbekommen haben, dass wir heute hier hin wollen. Die Hütte war ja auch eigentlich überfällig für so ein Zeichen, aber woher haben die deine Nummer?“
„Habe ich auch vorhin überlegt. Kann nur von Stefanie kommen, würde ich mal vermuten.“
Da hätte ich aber auch selbst drauf kommen können. Es ist nicht lange her, dass ich dabei war, als sie ihn angerufen und uns über Neues bei Seelmann ins Bild gesetzt hat. Nicht nur Pete muss sich mal wieder richtig ausschlafen.

Luz und ich sind zurück. Draußen war es reichlich kalt und wir machen uns erst mal einen heißen, starken Kaffee. Im CD-Player läuft die „Disintegration“ von The Cure. Schon beim Opener „Plainsong“ frage ich mich eigentlich jedes Mal, warum ich das Ding in den letzten Jahren so selten rauskrame.
Luz hat den Laptop hochgefahren und wir gucken uns den ganz neuen Eintrag im Blog an. Der ist erst vor wenigen Minuten online gestellt worden. Er zeigt uns die Entstehung von dem Kunstwerk, das Pete vorhin quasi enthüllt hat. Hätten wir das vorher gewusst, hätten wir für den Anlass eine Flasche Sekt mitgebracht und drauf angestoßen.
Wir genießen leckeren Kaffee bei schöner Musik und hängen ein wenig unseren Gedanken nach. In den letzten Tagen ist echt viel passiert. Wir kommen mit unserem eigenen Tempo selbst kaum noch mit. Sonst ist unser Leben meist nicht so schnell, im Moment schon.
Es klingelt. Einfach so. Wir haben da überhaupt nicht drum gebeten. Luz sieht nicht so aus, als wenn sie jemanden erwarten würde und ich tue das auch nicht. Trotzdem schlurfe ich mit maximal äußerst geringer Begeisterung zur Tür. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, die Türklingel mit Nichtachtung zu strafen. Es könnte Pete sein, der verzweifelt ist. Es könne Eve sein, die verzweifelt ist. Es könnte sogar der Preacherman sein, der seine Lebensgeschichte erzählen will. Na ja, vielleicht doch eher kein sentimentaler Preacherman.
Der Summer summt, weil ich drauf gedrückt habe. Er hat also keine andere Chance gehabt, als genau das zu tun. Ich stehe in der halboffenen Tür und höre wie unten die Haustür wieder geschlossen wird. Den Geräuschen der Schritte nach müssten da zwei Humanoiden die Treppe hoch stapfen. Dem Klackern nach mindestens ein weibliches Wesen, Es sei denn, einer unserer Freunde trägt jetzt so was wie Pumps. Kann natürlich auch sein. Wäre auch absolut okay. Wir leben im dritten Jahrtausend und wir sind auch schon im zweiten sehr tolerant gewesen.
Und da taucht der Überraschungsbesuch auch schon auf dem Treppenabsatz unter mir auf. Meine bisher maximal äußerst geringe Begeisterung entschwindet vollkommen, als ich meine Eltern da um die Ecke biegen sehe. Meine Mutter vorneweg, mein Vater dahinter. Ich bin beinahe fassungslos, was wollen denn ausgerechnet die, ausgerechnet jetzt, ausgerechnet hier? Trotzdem lasse ich die beiden leicht resigniert herein.
Luz steht in der Küchentür und sieht auch eher nicht so glücklich aus. Sie schaut mich verwundert und gleichzeitig fragend an, aber ich kann auch nur ein bisschen ratlos gestikulieren. Wirklich keine Ahnung, was die hierhin führt. Vor allem meinem Vater habe ich nach unserem letzten, nicht ganz so harmonischen Treffen so schnell nicht erwartet.
Also platzieren wir die beiden am Küchentisch und bieten Getränke an. Ehe meine Mutter ihn bremsen kann, äußert mein Vater seinen Wunsch.
„Ich hätte gerne ein Bier, wenn du hast.“
Das sagt er immer, weil er weiß, dass wir eigentlich nie Bier im Haus haben. Nur nach Partys. Aber Party war gerade nicht, wir haben beide im Sommer Geburtstag. Er bereitet schon seinen Spruch vor. Ich gucke in sein süffisantes Lächeln.
Meiner Mutter sehe ich deutlich an, dass es nicht so läuft, wie sie sich das vorgestellt hat. Luz guckt völlig unbeteiligt in der Gegend rum. Nach seinem letzten Auftritt in diesem Theater kann er von ihr keine Unterstützung erwarten. Sie wird mich nicht zurückhalten. Der Erhalt des Friedens oder zumindest des brüchigen Waffenstillstands liegt ganz allein in den Händen meiner Mutter.
Wortlos stehe ich auf und gehe zum Kühlschrank, Es ist noch eine Flasche von den beiden über, die ich mir am Freitag bei Snake für den Heimweg eingesteckt hatte. Zwei Bier in zwanzig Minuten hat vielleicht vor zwanzig Jahren noch funktioniert. Vorgestern habe ich mit Mühe eine Pulle geschafft. Das kommt mir jetzt gelegen. Ich öffne die Flasche und knalle sie vor ihm auf den Tisch. Mich selbst knalle ich wieder auf meinen Stuhl.
Damit habe ich ihn kalt erwischt. Wahrscheinlich will er eigentlich gar kein Bier. Er hat das nur gesagt, damit er danach irgendeinen Spruch absondern kann. Jetzt starrt er enttäuscht die Falsche an.
„Ich hätte gerne ein Glas.“
Meine Mutter zuckt zusammen, sie bekommt die Situation noch nicht in den Griff. Mich bringt er aber bisher nicht aus der Ruhe. Noch nicht. Kann sich aber jeden Augenblick ändern. Ich merke, dass es in mir zu brodeln beginnt. Aber ich bleibe zunächst weiterhin cool.
Wortlos stehe ich wieder auf und gehe zum Schrank. Ich knalle das Glas neben der Flasche auf den Tisch. Mich selbst knalle ich wieder auf meinen Stuhl.
Im Moment fühlt es sich an, wie die Ruhe vor dem Sturm. Man weiß noch nicht woher der Wind weht, aber man spürt, dass er bereits weht. Bis jetzt jedoch nur ganz leicht.
Mein Vater gießt sich ein Bier ein. Schön mit Schaumkrone, setzt das Glas an und nimmt einen Schluck. Er stellt das Glas wieder ab. Ich gucke und gucke gleich noch einmal genauer. Auch Luz muss zwei Mal hinsehen, bis sie es glaubt. Aber es ist wirklich so. Zwischen Nase und Oberlippe bleibt ein etwa drei Zentimeter breites Stück Schaum kleben. Wie ein schmaler Schnäutzer. Wir sehen ihn ganz gebannt an und warten darauf, dass er beginnt, mit fanatischer Stimme eine flammende Rede zu halten. Dann leckt er den Schaum mit der Zunge weg. Schade, keine Rede.
Aus der Hemdtasche ziehe ich den Tabak, drehe mir blitzschnell eine und puste den Rauch durchs Gelände . Mein Vater hasst Zigarettenqualm. Er findet das ganz schrecklich, aber erst, seitdem er es selbst dran geben musste, weil sein Arzt es ihm ganz dolle nahegelegt und meine Mutter im deswegen dann die Hölle richtig heiß gemacht hat.
„Würdest du das bitte lassen. Ich mag das nicht.“
„Wohl eher nicht, ich wohne hier.“
Luz guckt jetzt wieder total unbeteiligt durch den Saal. Es ist an meiner Mutter die Sache in andere Bahnen zu lenken. Sonst ist hier gleich Achterbahn. Aber nicht nur Wilde Maus sondern richtig. Mit Looping und allem. Meine Mutter sieht meinen Vater ernst an. Den Blick kenne ich von früher. Als ich Kind war. Wenn sie so geguckt hat, war Schluss. Mit allem und auch mit lustig. Dann sollte man auf sie hören.
„Wir sind hier, weil du dich entschuldigen willst.“
Mein Vater zuckt zusammen, als sie das ausspricht. Ich zucke zusammen, als sie das ausspricht. Luz zuckt nicht zusammen, in ihren Adern fließ nicht unser Blut. In ihren Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut. Da bedarf es mehr, damit sie zusammenzuckt.
Mein Vater sieht erst zu meiner Mutter und dann zu mir. Ich gucke gönnerhaft zurück. So wie ein Lehrer guckt, der dem Schüler eine absolut unbeantwortbare Frage gestellt hat, um ihm eine ‚Chance zu geben, doch noch eine Vier auf dem Zeugnis zu bekommen. Meine Vater windet sich erst und überwindet sich dann.
„Ja. Also. Beim letzten Mal, das war so nicht richtig von mir.“
Ich warte noch, aber das war es auch schon. Nicht viel, aber doch mehr, als ich je erwartet hätte. Jetzt sieht er mich so an, als würde er damit rechnen, dass auch ich mich für irgendwas entschuldige. Das mache ich aber nicht. Ich glaube auch nicht, dass ich das muss. Zumindest beim letzten Mal habe ich nur auf ihn reagiert. Aber irgendwas muss ich jetzt sagen, deshalb sage ich auch irgendwas. Was bleibt mir.
„Na dann. Okay.“
Danach werden noch ein paar belanglose Sätze getauscht, bis meine Mutter zum Aufbruch drängt. Sie will mit ihm hier weg, bevor doch noch wieder alles ruiniert wird. Von meinem Vater oder auch von mir. Wir können so was beide. Sogar aus dem Stehgreif. Und das jederzeit.
Als wir die Tür hinter den beiden wieder geschlossen haben, schaue ich meiner Gefährten in die Augen. Dann küsse ich sie. Weil ich es darf. Weil nur ich es darf.

Die Welt ist verrückt.

***
Am Montag geht es weiter.

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