Montag, 6. März 2017
29 Angelic Upstarts “Solidarity”
Montag

Der Wecker macht sich bemerkbar. Lautstark. Ein gezielter Hieb und die himmlische Ruhe kehrt zurück. Ich bin ausgesprochen schlagfertig für meine Verhältnis um diese Zeit. Und auch schon ziemlich wach. Es ist Montag. Zeit für die CD, aber ich zögere einen Augenblick, denn eigentlich würde es nicht gut passen, wenn ausgerechnet heute die Zufallswiedergabe mit mir sein würde.
Und heute ist nicht nur Montag, sondern der erste Montag im Monat. Der Tag, an dem die Meister der Verwaltung ihr spektakuläres Treffen haben und dabei den immer wieder beeindruckenden Worten ihres Obermeisters lauschen. Seit ich zumindest als Interimsmeister zu dieser Runde gehöre, habe ich jeden ersten Montag im Monat gehofft, dass mich „Blue Monday“ vor dieser Show retten würde. Jedoch jedes Mal vergeblich. Aber auch die Aussicht aus der Nummer rauszukommen, ändert nichts. Heute würde es wirklich nicht gut passen.
Aber es ist mein Spiel, es sind meine Regeln. Und die gelten auch heute. Ob ich nun will oder nicht. Und wenn es dann so sein soll, dann ist es eben so. Dann muss ich halt zusehen, das anders auf die Reihe zu bekommen. Also schmeiße ich das Gerät an und warte gespannt.
Es kommt „Electricity“ von Ochestral Manoeuvres In The Dark. Ich merke, dass ich auch gleich Strom in der Birne bekomme. Und die Lampe dann auch. Es werde Licht. Luz schaut mich erst vorwurfsvoll an, lächelt dann aber strahlend. Es werde noch viel mehr Licht. Die orchestralen Manöver in der Dunkelheit enden dann auch recht schnell. „Electricity“ ist nicht sonderlich lang.
Den ersten Kaffee hole ich uns ans Bett. Wir sitzen schweigend nebeneinander. Die Ruhe nach dem Sturm oder auch die vor dem nächsten Sturm. Wir wissen es nicht. Ich muss los. Bevor ich mich aufmache, küsse ich sie noch einmal. Weil ich es darf. Weil nur ich es darf.

Als ich ins Amt komme, sitzt Pete schon in seinem Büro, also pflanze ich mich auf seine Schreibtischkante und leiste ihm ein wenig Gesellschaft. Wir schweigen gemütlich im Duett, aber das wird sich gleich ändern. Pete möchte reden, das merke ich ihm an, aber die Suche nach den passenden Worten ist noch in vollem Gang. Ich stelle uns zwei frische Kaffee auf den Tisch.
„Ich habe Eve angerufen.“
Das ist jetzt so wirklich verwunderlich nicht, das hat er ja gestern bereits so angekündigt.
„Wir haben lange geredet. Über dies und das und anderes. Auch über damals und so. Über alles halt.“
So ist Pete, mein ältester und bester Freund. Seit Ewigkeiten, noch heute und hoffentlich für immer. Genau so ist er. Kein Mann vieler Worte. Und er war auch nie anders. Ich sehe ihm direkt ins Gesicht, ich gucke quasi durch die Augen in seinen Kopf. Wir kennen uns so gut und so lange, dass mir das total leicht fällt. Dann grinse ich ihn an. Er schüttelt den Kopf.
„Frag nicht.“
Und ich frage nicht. Brauche ich auch nicht. Ich kenne die Antwort schon, warum soll ich ihn also noch fragen. Er will Eve zurück. Am besten sofort. Besser gestern als heute. Aber er weiß noch nicht, ob das umgekehrt genau so ist. Aber er wirkt da schon irgendwie zuversichtlich. Er guckt mich an.
„Wenn du mir vor vier Wochen gesagt hättest, dass Eve wieder hierhin zurückkommt, hätte ich das nicht geglaubt.
„Wenn du mir vor vier Wochen erzählt hättest, was in den letzten vier Wochen passiert ist, hätte ich dir nicht geglaubt, dass du von unserem Leben sprichst. Von wessen Leben auch immer, aber bestimmt nicht von unserem: Nie nicht.“
Wir sehen uns an und müssen beide grinsen. Wir lassen das noch einmal vor unserem geistigen Auge ablaufen, was alles so passiert ist. Und was wir gemacht haben. Da sind schon ein paar recht wilde Sachen dabei gewesen.
Um am Ende verknacken die mich noch, weil ich auf dem Friedhof ein paar Blumen geklaut habe.“
„So was haben wir doch schon seit zwanzig Jahren oder so nicht mehr gemacht, da werden die jetzt nicht mehr mit um die Ecke kommen, auch wenn die dich irgendwie auf dem Kieker zu haben scheinen.“
„Ein Fleuraub für Luz kann so lange noch nicht her sein.“
Ich gucke ihn leicht debil an. Er verdreht die Augen und hebt die Hände Richtung Decke oder auch Himmel. Wer auch immer im Universum dafür zuständig ist, möge Hirn vom Himmel werfen. Und sie oder er möge gut zielen. Und sie oder er möge dann auch genau treffen. Und zwar den Typen ihm direkt gegenüber. Dort scheint es wirklich ernsthaften Bedarf zu geben.
Pete schaut auf die Uhr. Wir werden langsam ungeduldig. Stefanie haben wir gestern gebeten, Pete zu kontaktieren, wenn Heike Kaiser oder Martin Beier beim Seelmann auftauchen. Und jetzt passiert nichts. Ist die Sache doch nicht zu Ende? Haben wir irgendwas übersehen? Wir warten weiter. Was bleibt.
Petes Handy klingelt. Er guckt auf das Display, aber er muss nichts sagen. Seine Miene spricht schon Bände. Es ist Stefanie. Endlich. Und kaum hat er die grüne Taste gedruckt, rattert sie schon los wie ein Maschinengewehr. Laut und schnell. Unseren Ohren verschwinden in einem imaginären Schützengraben.
„Tut mir leid, Leute. Ich kann mich erst jetzt melden, früher ging es nicht. Die Kaiser ist vorhin in unser Büro gekommen und dann war auch fast sofort richtig Getöse. Der Seelmann ist direkt aus seiner Kaschemme geschossen, dann haben sie sich quasi direkt vor meinem Schreibtisch duelliert. Ich habe schon fast damit gerechnet, dass die sich noch prügeln, so hoch ging das her.“
Eine kurze Pause. Sie muss zumindest ein wenig frische Luft holen. Wirklich nur eine sehr kurze Pause. So kurz, dass die Ohren diese kaum wahrnehmen.
„Als die Kaiser ihm dann klar gemacht hat, dass sie und ihr Halbbruder raus wären und der Pachtvertrag nicht gekündigt wird, ist der Seelmann erst richtig ausgetickt. Ich weiß gar nicht, worüber die sich bis dahin eigentlich gestritten haben, aber jetzt, beim Gewerkschaftshaus, ging die Post dann noch doller ab.“
Eine weitere kurze Pause. Sie muss noch ein wenig frische Luft holen. Wirklich nur eine sehr kurze Pause. So kurz, dass die Ohren diese kaum wahrnehmen.
„Dann hat der Seelmann seine Kohle zurück gefordert. Aber die Kaiser hat gesagt, er habe keine Belege und ohne Belege keine Kohle. Er könne sie mal und das auch kreuzweise. Seelmann hat dann noch mehr getobt, aber das hat ihr nichts weiter gemacht. Das ist eben unter der Hand gelaufen und da hat er sich wohl verkalkuliert. Sein Pech. Dann ist die Kaiser abgerauscht. Das ganze Projekt mit dem Gewerkschaftshaus ist damit gestorben. Das ist tot. Mausetot.“
Stille. Die Ohren wagen sich vorsichtig aus dem Schützengraben. Offensichtlich ist das verbale Dauerfeuer vorbei. Pete und ich schauen uns fragend an.
„Und was ist jetzt? Was macht er?
Wir hören Schritte. Stefanie scheint durch das Büro zu gehen, dann lacht sie.
„Der Seelmann läuft da draußen im Regen auf und ab und wartet auf seine Olle.“
Auch Stefanie nennt die Olle vom Seelmann Olle. Die ist in der Rolle der Ollen wirklich ausgesprochen gut, weil alle unabhängig voneinander immer sofort Olle zu ihr sagen. Ehe ich fragen kann, warum der da im Regen rumrennt und auf sie wartet, bekomme ich auch schon Antwort auf meine noch nicht einmal zu Ende gedachte, geschweige denn ausgesprochene Frage.
„Der hat ja gerade keinen Lappen mehr. Vor drei oder vier Wochen hat der einen krassen Auftritt bei der Sparkasse gehabt und ist dann wutentbrannt und mit Vollgas in eine Polizeikontrolle geknallt. Und was getrunken hatte er mal wieder auch. Da haben die ihm erst Blut und dann den Lappen abgenommen.“
An einen Teil seines Auftritts kann ich mich erinnern, als wäre ich dabei gewesen, was aber wahrscheinlich daran liegt, dass ich tatsächlich dabei gewesen bin. Mein Mitleid hält sich in Grenzen. In ganz engen Grenzen.
„Im „Mercy Seat“ ist aus gegebenem Anlass heute ab halb acht große Party. Du bist herzlich eingeladen.“
„Danke, danke, aber ich glaube nicht, dass das was für mich ist. Ich bin ja eher so eine Schlagertante. Aber ich denke nachher noch drüber nach..“
Sie ist eine Frau von Ehre.
Der Kreis schließt sich.
Pete guckt mich an. Ich gucke ihn an. In beiden Gesichtern ein großes Fragezeichen. War es das jetzt? Wir gucken uns weiter an.
„Waller, das war es, oder? Alles ist gut.“
Ich nicke. Ja, alles ist gut. Glauben wir zumindest.
Der Kreis ist richtig schön rund. So wie es sich für einen guten Kreis gehört.
Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es Zeit ist zum Rathaus zu fahren. Die „Große Runde“ steht gleich an. Als ich aufstehen will, packt mich Pete am Arm.
„Wissen die anderen, das Eve wieder da ist?“
„Snake, Betty, Luz und ich. Und ich glaube nicht, dass einer von denen den andern schon davon erzählt hat.“
„Ich schreibe ihr jetzt, dass heute Abend Party ist. Dann ist sie halt Überraschungsgast. Und wenn sie nicht kommt, können wir immer noch davon erzählen.“
So sei es.

Der Bus hält nicht weit vom Rathaus. In meinem Portemonnaie herrscht Ebbe und ich habe noch Zeit bis die „Große Runde“ losgeht, also mache ich noch einen Abstecher zur Hauptstelle der Sparkasse. Genau hier habe ich vor knapp vier Wochen den Aufstand vom Seelmann miterleben dürfen oder müssen. Ganz wie man will. Alles eine Frage der Perspektive.
Mir geht durch den Kopf, dass Stefanie gesagt hat, dass er vorhin wieder ganz dolle getobt hat und auf seine Olle gewartet hat, damit die ihn irgendwo hinfährt. Wo auch immer er hin will, ich habe ein wenig Mitleid mit den Menschen, die es dort mit ihm zu haben werden.
Als ich mir gerade die Frage stellen will, wem er denn auf die Nerven gehen möchte, habe ich auch schon die Antwort. Ein Stück vom Eingang entfernt steht die Luxuskarre von ihm und seine Olle sitzt drin. Sie hat sich wieder sehr seltsam aufgetakelt und segelt wohl in sehr nervösen Gewässern. In einer Tour trommelt sie mit den Fingern auf dem Lenkrad. Um den Seelenfrieden der beiden scheint es gerade bestenfalls bedingt gut zu stehen.
Als ich nur noch ein paar Schritte von der Tür weg bin, wird es plötzlich laut. Das hat jetzt aber rein gar nichts mit mir zu tun. Fast gleichzeitig kommen die Sheriffs und ein Rettungswagen mit Blaulicht und Sirene angebraust und dann mit quietschenden Reifen zu stehen. Die Autotüren fliegen auf und die Besatzungen stürmen in die Sparkasse. Ich gleich hinterher. Aber nicht stürmend sondern mit gemäßigtem Schritt. Ich will für die ja nicht deren Job erledigen, ich brauche nur dringend ein paar Penunsen. Und mich interessiert natürlich auch ein wenig, was hier denn wohl los ist. Ein Gefühl sagt mir, dass Seelmann im Gebäude ist und die alle wegen ihm angerückt sind. Aber das ist nur so ein ganz vages Gefühl. Muss auch nicht stimmen. Vielleicht ist er auch nur hier irgendwo Brötchen holen.
Aber dieses vage Gefühl bestätigt sich schon kurz nachdem ich dem Geldautomaten ein paar Scheine abgeluchst habe. Es geht mit Geschrei los und die Stimme vom Seelmann kann ich heraus hören. Und dann gibt es auch was zu sehen.
Die beiden Sheriffs haben dem Seelmann wirklich Handschellen anlegen müssen und zerren ihn jetzt an den Armen Richtung Ausgang. Es sind viele Leute hier. Monatsanfang eben. Und alle bleiben stehen und gucken interessiert. Seelmann dreht sich immer wieder um und beschimpft lauthals irgendwelche Banker.
Durch die Glasfront kann ich nach draußen gucken. Und wer draußen ist, kann umgekehrt natürlich in die Halle gucken. Und das macht gerade die Olle vom Seelmann. Ihr Gesichtsausdruck friert erst ein und verändert sich dann ein wenig Richtung leichter Panik. Die Finger stellen das Trommeln ein und schweben unbeweglich in der Luft.
Wenige Augenblicke später kommen auch die Sanis zurück ins Bild. Sie sind in Begleitung eines Bankers, der ihnen aber offensichtlich nicht den Ausgang zeigen will. Der Typ blutet ganz ordentlich aus Mund und Nase. Sein weißes Hemd hat reichlich rote Flecken. Ich bezweifele, dass das nur mit Waschmittel wieder raus geht. Da wird selbst der Weiße Riese kapitulieren. Sieht mehr nach einem Fall für die Fleckenschere aus. Da hat der Seelmann ihm wohl richtig eine verpasst. Deswegen auch die Sheriffs.
Der Kreis schließt sich.
Die Sheriffs besteigen mit ihrem Gefangenen ihre Schleuder und sausen los. Die Sanis besteigen mit ihrem Verwundeten ihre Schleuder und sausen los. Die Olle sitzt schon in ihrer Schleuder und saust los. Den Sheriffs hinterher. Mit sorgenvoller Miene. Ich vermute, Luz hat gerade eine Kundin verloren.
Der Kreis ist richtig schön rund. So wie es sich für einen guten Kreis gehört.

Da ich gerne bei meiner ersten Rückkehr ins Rathaus nach meinem letzten Besuch beim OB möglichst wenig Aufsehen erregen will, betrete ich den Bau durch einen Seiteneingang und wandere zum großen Besprechungssaal. Unterwegs motiviert das postmoderne Abbild eines schwarzen Männekens auf einer weißen Tür meine Blase um sofortige Entleerung zu bitten.
Diese Bitte kann ich ihr nicht abschlagen und ich betrete das Klo, um dasselbige mit einer Stange Wasser zu tun. In der Tür zum eigentlichen Bedürfnisraum bleibe ich stehen. Carsten Schmitz steht vor einem der Becken, hat aber noch nicht wahrgenommen, dass er nicht mehr alleine ist. Entweder ist er total fasziniert von dem, was er da gerade tut, oder diese Aufgabe benötigt seine kompletten geistigen Kapazitäten. Ich tendiere eher zur zweiten Variante.
„Schmeiß weg, was du in der Hand hältst.“
Meine Stimme donnert durch den Raum. Er schmeißt zwar nicht weg, aber er lässt zumindest los. Kein schöner Anblick. Die Reinigungsfachkräfte werden auch nicht erfreut sein.
Im Moment ist er mit der Situation ein klein wenig überfordert. Er versucht, die Kontrolle über alle Teile seiner unteren Körperhälfte wieder zubekommen und gleichzeitig auch herauszufinden, wer da rumbrüllt. Das Multitasking funktioniert eher rudimentär. Dazu hat er auch das falsche Geschlecht, das ist im Moment sogar ganz offensichtlich. Dann sieht er endlich mich. Ich lehne cool und locker mit verschränkten Armen im Türrahmen und grinse breit. Vermutlich gefällt mir die ganze Situation irgendwie deutlich besser als ihm.
Er grinst nicht sondern guckt reichlich entsetzt. Dann versucht er etwas zu sagen, jedoch passiert irgendwie nicht viel. Sein Mund öffnet sich zwar, aber das war es auch schon. Sprache ist gerade nicht. Bei mir schon.
„Schmitz, das mit den Sheriffs hättest du nicht tun sollen. Du bist ein Riesenarschloch. Und jetzt verpiss dich! Ohne Händewaschen!“
Hinter einer der geschlossen Türen der Orte für das große Geschäft wird applaudiert. Offenkundig vertrete ich keine Einzelmeinung. Der Schmitz hat Tränen in den Augen, als er sich an mir vorbei windet. Ist wohl nicht unbedingt sein Tag. Richtig viel Mitleid kann ich nicht empfinden.
Ich erledige das, weshalb ich hier reingekommen bin. Dann werfe ich noch eine Blick auf die Tür, hinter der geklatscht worden ist, aber sie wird noch nicht geöffnet. Der Sympathisant bleibt anonym. Also Händewaschen und auf zur „Großen Runde“.

Die Tür zum großen Besprechungssaal steht weit offen und lacht mich quasi an. Als wäre sie nur für mich überhaupt da und auch offen, also trete ich ein. Hier bin ich. Waller. Waller Krawallek. Live und in Farbe. Also live und in Schwarz. Alle Augen auf mich. Und sie starren mich an. Bisher wussten sie gar nichts mit mir anzufangen und jetzt eher noch weniger. Ich will das hier auch nicht. Aber es bleibt mir ja nichts. So unbedingt freiwillig und gerne bin ich nicht hier.
Mein Blick wandert durch en Raum und zu DreiElf. Er lächelt mir zu, leider sind beide Stühle neben ihm besetzt. Aber sofort steht neben ihm einer auf und murmelt irgendwas, was sich irgendwie so anhört, als würde er sagen, dass er gerne für mich den Platz neben meinem Freund räumt. Dabei sieht er aber gar nicht so aus, als täte er das gerne. Ich halte ihn aber trotzdem nicht auf, sondern setze mich auf den jetzt freien Stuhl. Der somit schon kein freier Stuhl mehr ist.
„Warst du schon mit Nick beim Ordnungsamt?“
Er ist noch genauso aufgeregt wie am Freitag, als er die Sache mit den zurückgespielten Dateien anspricht. Inzwischen hat er mich auch angesteckt und ich bin auch total neugierig.
„Nein, aber wir sind gleich verabredet und gehen dahin. Heute Abend ist große Party im „Mercy Seat“. Du bist dazu herzlich eingeladen.“
„Vielen Dank, aber ich glaube nicht, dass das was für so einen alten Mann wie mich ist. Aber ich denke drüber nach.“
Der OB betritt den Saal und geht zum Kopfende. Dort ist sein Platz. Wie es sich für den Platzhirsch gehört. Er hat aber schon mal besser ausgesehen als heute. Er setzt sich hin und guckt in die Runde. Sein Blick bleibt bei mir hängen und ich gucke zurück. Kurz habe ich den Eindruck, er hätte mir zugezwinkert. Er nimmt seine Tagesordnung und legt los.
Die Runde der Meister. Der Meister der Stadtverwaltung. Alle Wichtigen und viele von denen, die sich zumindest für einen der Wichtigen halten. Und ich. Weil ich erst nicht richtig aufgepasst und im Anschluss noch irgendwie Pech gehabt habe.
Aus guter alter Tradition höre ich nicht zu. Jetzt gucke ich in die Runde und ich bleibe bei Herbert Stupski hängen. Nur dank des Intranets der Verwaltung weiß ich, wie er überhaupt aussieht . Ich mustere den unscheinbaren Typen ganz offen. Bisher ist der mir hier nie aufgefallen, aber wird schon immer dabei gewesen sein. Dass ich ihn anstarre, ist ihm total unangenehm. Ich genieße das eine Weile, bis ich ein wenig gelangweilt davon bin.
Also weiter. Jetzt nehme ich die Tuse vom OB ins Visier. Die fängt sofort an, sich unter dem Blick zu winden. Ich kann ihre Abneigung fast körperlich spüren. Eigentlich ist sie die Einzige, die dem OB hier wirklich zuhört. Aber wohl nur, weil sie ihr nichts anderes bleibt. Sie muss ja das Protokoll schreiben. Seit ich sie aber im Visier habe, hört sie nicht mehr zu. Sie nimmt nur noch mich wahr. Das Protokoll wird eine Lücke haben.
Eher zufällig lande ich dann beim Kämmerer, aber der merkt das erst gar nicht. Der beobachtet den OB. Wie ein Bussard die Maus. Hungrig. Siegessicher. Er sieht sich selbst schon da vorne. Als Meister der Meister. Als Obermeister. Dann merkt er, dass ich ihn mustere. Er guckt zurück. Mir gefällt die Art nicht, aber ich bin auch nur kurz für ihn interessant. Das Objekt seiner Begierde sitzt woanders.
Der OB hat es heute sehr eilig mit dieser Veranstaltung. Er fasst sich so kurz, wie er sich bisher noch nie gefasst hat und auch nie vorgehabt hat sich zu fassen. Nicht nur bei einem Punkt der Tagesordnung. Bei allen Punkten. Vom ersten bis zum letzten.
Das hat ein bisschen was mit mir zu tun. Ich habe ihn vorhin auf dem roten Telefon der Verwaltung angerufen. Eine Nummer die nur die wirklich Wichtigen und Mächtigen in der Stadt haben. Und ich. Und ich habe ihm gesagt, dass ich ihn zehn Minuten nach dem Palaver wieder in dem Hinterhof treffen will, in dem wir uns beim letzten Mal unterhalten haben. Allerdings reisen wir getrennt an. Nicht wie beim ersten Mal.
Das hat aber auch ein wenig mit ihm zu tun. Er weiß nicht, was ich von ihm will und das macht ihn bestimmt etwas unruhig. Außerdem hat er heute noch einen wichtigen Termin, das hat Pete über seine Quelle bei den Vorzimmermädels herausgefunden. Und weil er nicht weiß, wie lange das mit mir dauern wird und weil der seinen Termin danach unbedingt halten will, macht er jetzt mal zügig. Damit erfreut er bestimmt nicht nur mich.
Der Kreis schließt sich.
Heute hat sich unser Amtsleiter gemeldet. Sein Feuer brennt wieder. Ab Januar ist er wieder im Einsatz. Dann sitzt er wieder in dieser Runde in diesem Saal. Dann bin ich raus. Endlich. Das hier ist überhaupt nichts für ich. So gar nicht.
Der Kreis ist richtig schön rund. So wie es sich für einen guten Kreis gehört.

An eine Mauer gelehnt warte ich im Hinterhof auf den OB. Und da ist er auch schon. Super pünktlich. Genau zehn Minuten nach Ende des Palavers. Wir haben beide nicht viel Zeit und auch nicht so richtig Lust, also gleich in medias res.
„Ich will wissen, warum Sie in dem Puff waren. Worum ging es da?“
„Wie damals schon gesagt, es ging um nichts, was auch nur im Ansatz mit Ihnen oder dem Gewerkschaftshaus zu tun hat. Es ging um etwas vollkommen anderes. Und wie ich gehört habe, haben Sie ihr Ziel ja auch bereits erreicht.“
Er ist gut informiert, aber wenn nicht er, wer dann. Gehört zur Arbeitsplatzbeschreibung. Jetzt sieht er mich an. Ich ihn im Gegenzug auch. Ich habe überhaupt keine Lust jetzt irgendein Drohgebilde mit den Bildern aufzubauen, aber wenn es sein muss, werde ich das trotzdem tun. Eigentlich will ich das einfach nur wissen, weil ich es wissen will. Weil es der letzte offene Punkt ist. Und offenkundig ist meine nonverbale Botschaft angekommen.
„Okay. Was bleibt mir.“
Genau. Was bleibt ihm. Eigentlich nichts. Zumindest, wenn er nicht allzu viel mal eben auf die Schnelle verspielen will.
„Ich war da, weil ich klären wollte, ob es möglich ist, jemanden so was wie eine Falle zu stellen. Um ihn zu kompromittieren. Sie wissen schon, was ich meine. Und irgendwas mit Sex oder Drogen ist da immer gut. Und wo kann man da besser was versuchen als im Rotlichtmilieu.“
Er guckt mich an und ich nicke ihm aufmunternd zu. Weiter im Text bitte.
„Da arbeitet jemand, der vorher bei uns im Ordnungsamt war. Die haben den abgeworben. Wahrscheinlich deutlich bessere Bezahlung, aber bei ungewöhnlichen Arbeitszeiten. Viel Nachtzulage. Den kenne ich aus seiner Zeit bei uns. Und er hat für mich den Termin mit seinem Chef gemacht.“
Er guckt mich an. Ich nicke ihm wieder aufmunternd zu. Weiter im Text bitte.
„Es geht um den Kämmerer. Der will meinen Job. Um jeden Preis. Der war bestimmt auch ganz schnell bei Ihnen, nachdem er Sie bei mir im Büro getroffen hat. Und er hat versucht, Sie mit irgendwas zu ködern.“
Den letzten Satz hätte er auch als Frage formulieren können, hat er aber nicht. Er kennt den Kämmerer. Er weiß, wie der tickt. Das ist Politik. Das ist nichts für mich. Ich nicke jetzt vielsagend und verdrehe ein wenig die Augen. Ja, er war da. Ja, hat er.
Er schaut mich fragend an. Ich hebe abwehrend die Hände. Er versteht sofort. Ich werde ihn hier bestimmt nicht aufhalten. Das sollen die beiden untereinander klären, da mische ich mich nicht ein. Mir geht etwas durch den Kopf, dass er genau im gleichen Moment in Worte fasst.
„Ja, Herr Krawallek. Für jemanden wie sie, der irgendwie seinen Weg geht und sich nicht unterordnet, ist es vielleicht besser, wenn an der Spitze der Stadt ein Arschloch steht, gegen das Sie was in der Hand haben, als wenn da einfach nur ein Arschloch steht.“
Jetzt lacht er, während ich doch eher sprachlos bin. Mit der Aussage hat er mich doch kalt erwischt. So was habe ich von ihm nicht erwartet.
Der Kreis schließt sich.
Jetzt sind wir durch, nur ein kleiner Punkt ist noch offen. Wahrscheinlich unwichtig, aber noch offen. Ich krame mein Handy raus. Der OB guckt irgendwo zwischen überrascht und entsetzt, aber ich schüttele den Kopf und winke sofort ab. Er braucht sich keine Sorgen zu machen. Um ihn geht es nicht mehr, er ist raus. Ich zeige ihm das Bild von dem Typ, er ganz zum Schluss den Puff verlassen hat. Er wirft einen schnellen Blick auf das Display.
„Walter Michel. Der Mann, der vorher beim Ordnungsamt gearbeitet hat.“
Der Kreis ist richtig schön rund. So wie es sich für einen guten Kreis gehört.
Der OB sieht aber so aus, als will er noch was sagen. Er zögert kurz, aber leider nicht so lange, dass ich einen Abgang machen Kann.
„Herr Krawallek. Wir kennen uns ja schon lange. Länger als die Zeit, die Sie bei der Stadt sind. Wir kennen uns ja schon aus der Schule.“
Da sagt er mir nichts, was ich nicht schon weiß.
„Und ich habe Sie auch damals schon gemocht. Weil Sie auch zu der Zeit schon so waren, wie so heute noch sind.“
Jetzt sagt er mir etwas, was ich bis gerade noch gewusst habe. Wird das sein Coming Out? Und eine Liebeserklärung an mich? Ich bin glücklich vergeben. Luz ist eine absolut tolle Frau.
„Den Namen Andreas Kopsch werden Sie mit Sicherheit nicht vergessen haben.“
Die Alarmglocken läuten. Aber volles Programm. Ein Höllenlärm. Natürlich erinnere ich mich an den Namen Andreas Kopsch. Und das ist ganz dünnes Eis. Nicht für ihn. Für mich. Innerlich bin ich mächtig aufgewühlt, nach außen bleibe ich total cool. Das kann ich gut. Richtig gut. Es gibt nicht viel, was ich besser kann. Aber vorerst schweige ich eisern. Weil das besser ist. Zweifelsfrei. Erst will ich hören, was er dazu zu sagen hat.
„Andreas Kopsch war damals und ist heute immer noch ein absolutes Arschloch. Der geht gar nicht. Und der hat damals diese abscheulichen Schmierereien an der Wand neben dem Eingang gemacht. Das wissen Sie. Das weiß ich. Das wissen alle.“
Ich weiß, dass ich das weiß. Bis gerade habe ich nicht gewusst, dass er das auch weiß. Und dass das scheinbar alle wissen. Ich sage aber weiterhin nichts.
„Aber wir konnten damals nichts machen. Wir konnten ihn nicht von der Schule schmeißen. Wir konnten in gar nicht bestrafen. Weil es keinen Beweis gab. Niemand hat etwas gesehen oder niemand hat sich getraut etwas zu sagen. Uns waren die Hände gebunden. Wir wollten. Und wie wir wollten. Aber wir konnten nicht.“
Noch immer habe ich keine Ahnung, worauf er hinaus will. Irgendetwas folgt noch. Irgendetwas, was ich wahrscheinlich nicht hören möchte. Irgendetwas, was ich mit Sicherheit nicht hören möchte. Ich hülle mich weiter in Schweigen und bin total cool. Aber nur nach außen.
„Ja, und dann war da ja ein paar Tage später die Sache mit dem Auto von dem Burschen: Mit rotem Lack übergossen und dann in Flammen aufgegangen. Ein anständiger Feuerwehreinsatz. Viel Blaulicht. Ein Mordsgestank. Und die Straße sah aus. Und auch da wieder. Keiner hat was gesehen. Niemand hat etwas gesagt. Niemand wurde bestraft.“
Er ist immer noch nicht am Ende der Geschichte. Das Finale furioso fehlt noch, aber es wird kommen, da bin ich mir aber so was von sicher. Ich habe aber immer noch keine Ahnung, was seine Botschaft sein wird, aber ich denke nicht, dass ich mit dem Schlimmsten rechnen muss.
„Dass keiner was gesehen hat, stimmt dann aber doch nicht. Wir hatten noch Lehrer-AG und ich war auch in der Gasse neben der Sporthalle.“
Inzwischen gucke ich so cool, dass mir dabei das Blut in den Adern zu frieren beginnt. Ansonsten ändere ich jetzt meine Grundtaktik und fange augenblicklich an mit dem Schlimmsten zu rechnen. Und das sicherlich nicht zu Unrecht.
„Drei junge Männer waren in der Gasse. Aus einem Kanister haben sie den Lack auf dem Auto verteilt. Wahrscheinlich sollte das auch alles sein. Dass der Wind einem die Zigarettenkippe aus dem Mund reißt und die dann die Farbe in Brand setzt, war wohl nicht geplant. Ich weiß aber nicht ob sie von Ihnen, Pete oder TomTom gekommen ist.“
Er guckt mich an wie ein Zauberer, der gleich ein Kaninchen aus dem Hut ziehen wird.
„Der Kanister war weiß mit einem roten Totenkopf drauf.“
Kein Kaninchen, sondern seine eindeutige Botschaft. Er spekuliert nicht, was gewesen sein könnte, er weiß es. Weil er es tatsächlich gesehen hat. Der Kanister war weiß. Und ein roter Totenkopf war drauf.
Jetzt schweigt er, ich aber auch immer noch. Durch einige vorsichtige Bewegungsübungen der Zunge versuche ich herauszufinden, ob mir inzwischen das Blut in den Adern total gefroren und der komplette Mechanismus dadurch lahmgelegt ist. Da geht aber noch was, also müsste auch sprechen gehen. Allerdings weiß ich gerade spontan nicht, was ich dazu jetzt sagen soll. Das ist etwa dreißig Jahre her und mit dem Thema bin ich eigentlich schon lange durch. Das hat sich jetzt aber schlagartig ganz deutlich geändert.
„Warum haben Sie nichts gesagt?“
Wirklich absolut nicht originell, aber originell ist gerade nicht. Er sieht mich einige Sekunden lang an, bevor die Antwort kommt.
„Es war mit Sicherheit nicht richtig, was Sie gemacht haben. Allerdings war es ja wohl eher als eine Art Denkzettel geplant, aber dann ist die Sache schief gegangen. Glaube ich zumindest. Und wenn es doch mehr war, will ich es jetzt auch gar nicht mehr wissen.“
Er macht eine kurze Pause, geht in sich und nickt dann.
„Der Typ hatte eine Strafe verdient. Und hat sie dann auch bekommen. Wir konnten nicht, aber Sie drei haben gehandelt. Damit haben Sie sich bei mir Respekt erworben.“
Er macht noch eine kurze Pause, geht in sich und nickt dann erneut.
„Ich habe da noch nie mit jemandem drüber geredet. Eigentlich habe ich auch nicht vorgehabt, je mit Ihnen darüber zu reden.“
Der OB hat jetzt wohl gesagt, was er sagen wollte. Auch wenn er eigentlich wohl nicht alles davon hätte sagen wollen. In meinem Kopf schießen die Gedanken hin und her. Ich bin froh, dass die sich nicht frontal treffen, sonst könnte der Kopf explodieren. Oder eher implodieren. Wegen dem momentan dort herrschenden Vakuum. Ich wage gar nicht ernsthaft darüber nachzudenken, wie mein Leben denn wohl gelaufen wäre, wenn er nicht geschwiegen hätte. Mit Abitur wäre dann wohl nichts gewesen und meine Akademikerkarriere hätte es auch nie gegeben. Wobei diese auch so keinerlei Spuren an der Universität oder in der Wissenschaft hinterlassen hat. Dafür aber im Nachtleben. Und da sogar reichlich.
Alles scheint jetzt aber wirklich gesagt, eigentlich sogar eher noch ein bisschen mehr als nur alles. Abgang Waller.
„Herr Krawallek?“
Alles scheint gesagt, eigentlich sogar eher noch ein bisschen mehr. Was will er denn jetzt noch? Wenn ich einfach weitergehe, werde ich es nie erfahren. Also drehe ich mich zu ihm um und sehe ihn mehr oder weniger interessiert an.
„Wissen Sie was ich nicht verstehe?“
„Finnisch?“
Er zögert. Aber nur kurz. Zwei Mal fällt er auf die gleiche Sache nicht herein. Offenkundig habe ich ihn unterschätzt. Das darf mir nicht noch einmal passieren.
„Ja, richtig. Mit den ganzen Äs komme ich gar nicht klar. Aber eigentlich geht es mir darum, dass ich mich frage, warum Sie und ihre Freunde das alles gemacht haben. Ging es nur um diese Kneipe? Da hätte man doch auch an anderer Stelle weitermachen können.“
„Es geht nicht einfach nur um diese Kneipe. Ganz und gar nicht. Es geht um mehr. Viel mehr. Es geht um ...“
Bevor ich die Suche nach den richtigen Worten, die sich als schwieriger als erwartet darstellt, obwohl ich doch genau weiß, wie die Botschaft lauten soll, erfolgreich beenden kann, winkt er schon ab.
„Reicht schon. Ich habe verstanden. Wenn es mehr Leute wie Sie und Ihre Freunde gäbe, wäre die Welt bestimmt besser. Vielleicht dafür aber langweiliger. Oder ein Scherbenhaufen. Wir wissen es nicht.“
Und wahrscheinlich werden wir es auch nie erfahren.
Reichlich Stoff zum Nachdenken. Und dabei habe ich ihn noch nicht einmal mehr gefragt, warum er nichts unternommen hat, nachdem mich der Schmitz damals angeschissen hat.
Es hat wahrlich schon so absolut gereicht.

Aber das mit dem Nachdenken wird auf später verschoben, denn kaum bin ich um die Ecke, sehe ich auch schon Nick, der zum Rathaus stapft. Er schaut glücklich und zufrieden aus der schwarzen Wäsche. Dazu hat er aber auch allen Grund. Er sieht mich, wartet kurz und dann setzten wir den Weg gemeinsam fort. Dieses Mal betrete ich das Gebäude durch den Haupteingang. Wir latschen in den Südflügel. Da residiert das Amt für öffentlich Ordnung. Und da wollen wir hin. Und da kommen wir dann auch an.
Heute ist offizielle Sprechzeit und den Schildern an den Türen nach stehen dem werten Bürger in drei Büros fachkundige Stadtverwalterinnen oder Stadtverwalter für Anträge und Auskünfte zur Verfügung. Das rote Licht zeigt uns, dass bei Chantal Chmielewski schon jemand sitzt. Die anderen beiden Büros sind gerade frei. Da könnten wir sofort rein.
Wollen wir aber nicht. Wir wollen wieder zu Chantal. Sie gehört in die Kategorie angenehme Mitmenschen. Also lungern wir mehr oder weniger geduldig rum und warten darauf, dass wir dran sind. Dabei begucken wir uns die Leute, die vorüberziehen. Allerdings macht sich bei mir das Gefühl breit, dass zumindest mich die Stadtverwalterinnen und Stadtverwalter mehr begucken als ich sie. Scheinbar bin ich hier immer noch Wer. Wer auch immer. Dann öffnet sich die Tür von Chantals Büro und ein Typ kommt raus. Dafür gehen wir dann rein.
Chantal ist überrascht uns zu sehen, scheint sich aber zu freuen. Insbesondere über Nick.
„Ich fürchte, ihr seid vergebens da. Ich hatte euch doch gesagt, ich melde mich, wenn wieder was geht. Letzten Mittwoch habe ich noch nachgeschaut, aber da war noch immer nichts. Tut mir leid, aber wir können wohl noch nicht weitermachen.“
„Vielleicht solltest du es jetzt noch einmal versuchen. Es könnte sich ja inzwischen was geändert haben.“
Chantal sieht mich forschend an. Ich demonstriere wieder, dass mir beim coolen Gucken kaum einer das Wasser reichen kann. Gleichzeitig merke ich, dass ich Durst bekomme. Es wäre nett, wenn mir jetzt jemand ein Wasser reichen könnte. Besser noch einen Kaffee. Schwarz. Stark.
Sie versucht es also noch einmal. Sie ahnt wohl, dass ich etwas weiß und nicht nur auf blauen Dunst hier bin. Jetzt merke ich auch, dass mir der Sinn nach einer Zigarette steht. So ein bisschen Rauch um nichts, wäre auch schön. Würde gut zum Kaffee passen.
Inzwischen hat Chantal die Tastatur bearbeitet und blickt auf den Monitor. Sie braucht nichts zu sagen. Ihr Gesicht spricht schon Bände. Die Daten sind wieder da und offenbar hat es vorher niemand bemerkt. Sie tippt noch ein wenig und nickt dann zufrieden.
„Sieht gut aus. Du hast ja bereits vor ein paar Jahren einen Antrag gestellt. Biergarten. Toiletten in dem vorhandenen Schuppen. Nutzung auch für Musikveranstaltungen. Ist aber damals abgelehnt worden. Sollen wir den Antrag wiederbeleben oder willst du jetzt was anderes?“
Nick guckt mich an. Ich gucke Nick an. Wie wissen beide, dass er damit damals volles Programm abgeblitzt ist. Nick grinst Chantal an.
„Wir können ja zunächst das alte Teil noch einmal nehmen. Manches liegt ja auch im Ermessen der Sachbearbeiterin.“
Chantal knipst ihm ein Auge zu und studiert dann eine Weile die Dokumente auf dem Bildschirm. Wir wundern uns, dass das so lange dauert. Beim letzten Versuch war das Unterfangen nach einer Minute gescheitert. Und das total. Untergang mit wehenden Fahnen.
Nach einer Weile runzelt sie die Stirn. Das war es dann wohl. Ermessen hin oder her. Sie sucht wohl die passenden Worte, um Nick die unfrohe Botschaft zu überbringen.
„Ermessen hin oder her. Ich verstehe nicht, warum dem Antrag damals nicht stattgegeben wurde. Es spricht absolut nichts dagegen. Es gibt dabei auch keine Probleme mit dem Denkmalschutz. Habt ihr beim letzten Mal irgendwen geärgert?“
Dabei guckt sie dann aber nur mich an. Ich hebe abwehrend die Hände. Zumindest in diesem Fall bin ich mir gar keiner Schuld bewusst. Ähnliche Einschätzungen meinerseits haben sich in der Vergangenheit aber auch schon als fehlerhaft herausgestellt.
„Der einzige Punkt, um den ich mir ernsthaft Sorgen mache, ist, dass da einer von den Nachbarn ernste Probleme bereiten könnte. Ein gewisser Heinz Schulz hat hier schon mehrfach vorgesprochen.“
Nick guckt mich an. Ich gucke zurück. Dann sehen wir beide wieder Chantal und sprechen unbeabsichtigt im Chor.
„Um den machen wir uns keine Sorgen. Wir hatten neulich ein Gespräch in angenehmer Atmosphäre mit ihm.“
Der Kreis schließt sich.
„Ja dann. Wir können das jetzt sofort machen. Dann ist das erledigt. Dauert aber ein wenig.“
Sie gehört in die Kategorie angenehme Mitmenschen.
Nick macht es sich sofort bequem. Die Beute will er nicht mehr vom Haken lassen. Also den Biergarten. Nicht Chantal. Oder doch vielleicht beides? Mich braucht jetzt hier aber kein Mensch mehr, also mache ich dann auch einen Abflug.
Der Kreis ist richtig schön rund. So wie es sich für einen guten Kreis gehört.
Draußen fällt mein Blick auf das Schild, das an der Tür hängt. HEUTE SPRECHZEIT. Ich zucke mit den Schultern und grinse ein bisschen dämonisch. Dann drehe ich das Schild um. BITTE VERSUCHEN SIE ES IN DEN BÜROS A44 ODER A45. Soll hier niemand unnötig stören oder lange warten.

Nach einem frühen Feierabend bin ich erst noch ins „Mercy Seat“. Es gab noch einiges für die große Party vorzubereiten. Nick strahlt wie zwei Uranbrennstäbe. Die Kneipe gerettet und den Biergarten endlich genehmigt bekommen. Zum Thema Chantal verweigert er komplett die Aussage. Er hält nicht viel von staatlichen Institutionen. Aber vielleicht schon etwas von einer der dazugehörigen Mitarbeiterinnen. Ich werde das im Auge behalten. Da kann er sich sicher sein.
Nick ist ein Phänomen. Manchmal wundert man sich doch stark, wie das „Mercy Seat“ unter seiner Regie so lange überleben konnte und nicht nach kurzer Zeit schon vom Erdboden verschwunden ist. Der Organisationsgrad ist manchmal eher gering und ich weiß nicht, wie oft wir noch in der Nacht zur Tanke sind und noch Cola, Fanta, Bier gekauft haben, damit der Laden nicht zur Wüste wird.
Und dann gibt es die andere Seite. Erst gestern zeichnete sich ab, dass heute eine Party steigen könnte. Und gestern war auch noch Sonntag. Und erst vor ein paar Stunden war dann klar, dass es wirklich abgeht. Und das mit mindestens 70 Leuten.
Und dann ist er richtig steil gegangen, bevor wir uns vor dem Rathaus getroffen haben. Und hat sich gekümmert. Und wie. Der Getränkelieferant hat noch schnell geliefert. Inklusive Sekt und allem. Er hat einen Partyservice schwindelig geredet, damit der für heute noch ein kaltes Büffet bringt. Vielleicht hat er aber auch den Preacherman als Parlamentär dorthin geschickt, um seine Argumente zu untermauern. Und er hat noch einen DJ, der damals im „Klaro“ aufgelegt hat, davon überzeugt heute mit seinem ganzen Krempel anzurücken und für uns die Musik zu machen.
Jetzt ist dort alles vorbereitet und ich öffne unsere Wohnungstür. Luz steht im Flur vor dem großen Spiegel. Sie sieht fantastisch aus. Sie sieht immer fantastisch aus. Aber heute besonders extrem fantastisch. Aber wenn nicht heute, wann dann? Ich sehe an mir herunter. Da muss ich aber noch bei, bevor ich mich neben ihr sehen lassen kann. Zumindest ansatzweise. Im Rahmen meiner Möglichkeiten. Ich küsse sie. Weil ich es darf. Weil nur ich es darf.
Mein Blick fällt auf einem amtlich aussehenden Brief auf dem Schuhschrank. Das Wort Polizei ist gut lesbar. Habe ich heute Morgen eine selbsterfüllende Prophezeiung gemacht, als ich zu Pete gesagt habe, dass sie mich womöglich letztendlich ausgerechnet für den Fleuraub einkerkern werden? Das wäre dann aber doch ein sehr bizarres Ende. Und eins, das selbst ich nicht verdient hätte.
Luz sieht mich irritiert an, wahrscheinlich weil ich selbst so irritiert gucke. Ihr Blick folgt dem meinen und landet ebenfalls bei dem Brief. Sie hebt die Achseln.
„Ich weiß auch nicht. Der ist heute gekommen. Da hat Anfang des Monats wohl jemand den Fiat beim Ausparken gerempelt und sich dann erst jetzt bei den Sheriffs gemeldet. Schlechtes Gewissen bekommen oder was auch immer.“
Da bin aber erleichtert, doch kein Knast für den Blumenklau. Sie lächelt und winkt dann ab.
„Ich habe geguckt. An der Karre ist nichts zu sehen, also egal. Soll damals in einer Straße namens „Am alten Flöz“ passiert sein. Habe ich nie gehört. Glaube kaum, dass ich dann da war. Seltsam, oder?.“
„Nein nicht seltsam. In der Straße habe ich den Hobel abgestellt, als der Preacherman und ich beim Seelmann im Büro waren und versucht haben, die Glastür leise einzutreten.“
Wir müssen beide blöd grinsen. Dann mache ich mich ausgehfein, damit ich neben meiner Gefährtin nicht allzu negativ auffalle.

Da wir im „Mercy Seat“ quasi zum Inventar gehören und das Inventar natürlich da sein muss, wenn die Party losgeht, sind wir zeitig dort und belagern unsere Stehtische. Alle von uns sind da. Betty, Snake, Claudia, der Captain, Siouxsie, Zeus, Pete, TomTom, der Preacherman, Kati, Nick, Luz, ich.
Und dann geht es los. Der DJ eröffnet mit „Bela Lugosi’s Dead“ von Bauhaus. Clever, da hat er gleich mal zehn Minuten Zeit in Ruhe ein Bier zu trinken. Nick nimmt erst mal den Platz am Eingang ein, um die Leute zu begrüßen und ihnen gleich einen Sekt in die Hand zu drücken. So was hat es hier noch nie gegen, aber einmal ist immer das erste Mal. Und wenn nicht heute, wann dann? Er hat sofort viel zu tun. Die Massen strömen zeitig. Überall großes Hallo.
Eumel und die anderen von den „Dead Drivers“ treffen ein und werden von Nick freudig hereingebeten. Der DJ hat gerade „Do They Owe Us A Living“ von Crass aufgelegt. Sehr symbolisch, aber absoluter Zufall. Die Band kommt zu uns rüber und wir begrüßen uns. Die Gläser bimmeln.
Eumel tippt mich an und blickt demonstrativ misstrauisch in Richtung DJ. Ich mach eine abwehrende Handbewegung und schüttle den Kopf. Er versteht. Keine Absprache. Reiner Zufall halt. Die Mädels und Jungs verkrümeln sich in ihre Stammecke.
Stefanie betritt das „Mercy Seat“ und wird von Nick begeistert in Empfang genommen. Es läuft gerade „Moscow Idaho“ von The Cassandra Compplex. Ganz schön hartes Zeug für so eine Schlagertante. Sie wirft einen schüchternen Blick Richtung DJ. Wir haben nicht gewusst, ob sie kommt oder nicht. Wir freuen uns, dass sie da ist. Sie gesellt sich zu uns. Die Gläser bimmeln zur Begrüßung.
DreiElf betritt das „Mercy Seat“ und wird von Nick begeistert in Empfang genommen. Es läuft gerade „Never Understand“ von The Jesus And Mary Chain. Ganz schon schrilles Zeug für so einen Progrocker. Er wirft einen vorwurfvollen Blick in Richtung DJ. Wir haben nicht gewusst, ob er kommt oder nicht. Wir freuen uns, dass er da ist. Er gesellt sich zu uns. Die Gläser bimmeln zur Begrüßung.
Der Watchman betritt das „Mercy Seat“ und wird von Nick begeistert in Empfang genommen. Es läuft gerade „Atmosphere“ von Joy Division. Ganz schon weiches Zeug für einen so harten Kerl. Er wirft keinen Blick in Richtung DJ. Wir haben nicht gewusst, ob er kommt oder nicht. Wir freuen uns dass er da ist. Er gesellt sich zu uns. Die Gläser bimmeln zu Begrüßung.
Der Kreis schließt sich.
Jetzt sind wirklich alle da. Alle, die in den letzten Wochen dazu beigetragen haben, dass heute diese Party steigt. Altnernativ hätte es sonst womöglich stattdessen bald eine R.I.P.-Party gegeben.
Der Kreis ist richtig schön rund. So wie es sich für einen guten Kreis gehört.
Aber zumindest Pete und ich wissen, dass eigentlich noch nicht wirklich alle da sind. Auch wenn es sonst niemand ahnt, aber eine fehlt eigentlich noch. Eve. Unauffällig sehe ich zu Pete rüber, aber der zuckt nur mit den Schultern. Er weiß auch nicht, was mit ihr ist. Das macht ihn unruhig und er ist noch nicht von der ansonsten euphorischen Stimmung infiziert.
Aus den Augenwinkeln nehme ich war, wie Nick die Eingangstür plötzlich von innen schließt und auf mich zusteuert. Eine dezente Ahnung, wer da gerade draußen vor plötzlich verschlossenen Türen steht, habe ich schon, aber das lasse ich mir erst mal gar nicht anmerken. Er drängt mich so unauffällig von unseren Tischen weg, dass alle sofort neugierig zu uns rüber sehen.
„Draußen vor der Tür steht Eve.“
Ich werfe ihm einen Blick mit der Botschaft, ich wisse gar nicht, was er von mir wolle, zu, bevor ich dann auch verbal aktiv werde.
„Ja und? Steht sie nicht auf der Gästeliste oder wo ist das Problem?“
Jetzt schaut er mich vollkommen verständnislos an. Ich demonstriere im Gegenzug mal wieder, dass ich unglaublich unbeeindruckt gucken kann.
„Waller. Da steht nicht irgendeine Eve. Da steht die Eve. Unsere Eve. Petes Eve.“
„Eine andere Eve kenne ich auch nicht. Ich kenne nur die eine Eve. Unsere Eve. Petes Eve.“
Da merkt er, dass ich nicht überrascht wirke, weil ich nicht überrascht bin. Dann verdreht er die Augen zur Decke und schielt danach zu Pete rüber. Ich nicke Nick beruhigend zu. Kopfschüttelnd geht er zurück zur Tür.
Eve betritt das „Mercy Seat“ und bleibt nach zwei, drei Schritten stehen. Bei uns herrscht plötzlich große Aufregung. Zumindest bei denen, die Eve kennen und bis gerade nicht gewusst haben, dass sie wieder hier ist. Für die, die sie nicht kennen, ist einfach nur eine gutaussehende Frau hereingekommen. Pete geht nach kurzem Zögern zu ihr und holt sie zu uns an die Tische. Die Gläser bimmeln zu Begrüßung.
Der Kreis schließt sich.
Luz und ich sitzen irgendwann auf dem kleinen Treppchen zum Podest in der Ecke und gucken zu den anderen rüber. Sie stupst mich an. Wir sehen, wie Eve nach Petes Hand greift. Oder wir sehen wie Pete nach Eves Hand greift. Das können wir nicht so ganz genau erkennen. Aber wir sehen, dass sie dann beide nicht los lassen. Das können wir aber ganz genau erkennen.
Ich küsse meine Gefährtin. Weil ich es darf. Weil nur ich es darf.
„Weißt du was ich nicht versehe?“
„Baskisch?“
„Ja, aber das weißt du doch. Ist auch schwer zu erlernen.“
Bevor ich weiterreden kann, schlingt sie ihre Arme um meinen Hals und küsst mich. Nicht nur eben kurz, sondern so richtig. Offenkundig hat sie im Moment wenig Interesse an tiefschürfender Kommunikation über die Dinge, die ich nicht verstehe. Innerhalb von Sekundenbruchteilen habe ich vergessen, was ich vorher ja auch schon nicht verstanden habe. Kann also so wichtig nicht gewesen sein. Wird sich finden. Morgen. Oder irgendwann. Wir werden sehen.
Der Kreis ist richtig schön rund. So wie es sich für einen guten Kreis gehört.
Es ist eine rauschende Ballnacht. Viele tanzen auch. Sogar der Preacherman. Zu „Alice“ von The Sisters Of Mercy. Er sieht dabei aber etwas hölzern aus. Ich tanze nicht.

Natürlich nur wegen meinem schlimmen Knie.

***
Am Freitag geht es weiter.

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