Donnerstag, 23. Februar 2017
26 The Danse Society “2000 Light Years From Home”
Freitag

Mit einer Tüte in der Hand stehe ich in der Fußgängerzone. Die belgischen Fritten sind total lecker. Siouxsie und DreiElf kommen die Straße entlang, denn die beiden wollten sich unbedingt mit mir treffen. Wir sind nach Feierabend auf dem Weihnachtsmarkt verabredet, weil ich auf keinen Fall im Moment unnötig ins Rathaus will.
Seit meinem Abenteuer letzten Freitag habe ich unsere Zentrale der Macht und manchmal auch der Machtlosigkeit gemieden. Wenn mich am Montag nicht „Blue Monday“ rettet, wird an dem Tag mein erster Auftritt danach dort laufen. Und dann gleich zur „Großen Runde“ am ersten Montag im Monat. Die Vorfreude darauf liegt auf einer Skala von 1 bis 10 eher so im zweistelligen Minusbereich.
Aber das ist jetzt noch Schnee von nächster Woche. Heute ist heute und wir drei begrüßen uns erst mal in aller Ruhe. Die beiden kommen mir ein wenig aufgeregt vor, als hätten sie irgendwas ausgeheckt oder ausgefressen.
DreiElf versucht total cool und lässig zu wirken. Das Grinsen kann er aber kaum unterdrücken.
„Ich habe die Daten vom Gewerkschaftshaus heute wieder im System untergebracht. Das sieht so aus, als wären die nie weg gewesen.“
Mir ist sofort klar, dass das noch nicht das Ende der Botschaft ist. Ich sehe ihn neugierig an. Er versucht weiterhin total cool und lässig zu wirken. Das Grinsen kann er aber immer noch unterdrücken.
„Siouxsie und ich haben die Daten gestern gesichtet und vorbereitet.“
Da werde ich hellhörig und bin inzwischen sehr neugierig. Mir ist noch nicht klar, was das bedeuten soll. Er versucht immer noch total cool und lässig zu wirken. Das Grinsen kann er aber gar nicht mehr unterdrücken.
„Nick kann jetzt seinen Biergarten beantragen. Der Vorgang kann dann auch bearbeitet werden.“
Das irritiert mich jetzt schon. Ich verstehe nicht, worauf er hinaus will.
„Aber das war doch nur ein Vorwand, um da was ins Rollen zu bringen. Auf den Biergarten hat er doch absolut keine Chance. Den hat er bis jetzt nicht bekommen und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Das Teil bleibt ein Traum.“
Jetzt ist mit cool und lässig voll vorbei und er grinst beinahe debil.
„Ich denke, die Lage hat sich geändert. Er wird den schon bekommen.“
Mein Blick wandert von DreiElf zu Siouxsie und dann wieder zurück. Die beiden strahlen wie zwei Honigkuchenpferde über beide Backen.
„Oh Mann, was habt ihr gemacht?“
Aber Siouxsie antwortet nicht auf meine Frage. Und DreiElf schweigt ebenfalls. Beide bleiben absolut stumm. Stattdessen strahlen sie weiter vor sich hin. Ich hoffe nicht, dass Greenpeace hier einen Einsatz startet, weil die von einem Atomunfall ausgehen.
„Dann hoffe ich wenigstens, dass euch keiner auf die Schliche kommt.“
Die beiden schütteln jetzt den Kopf. Aber das hat Tobias Klein auch gedacht und dann hing er doch am Haken. Irgendwie bin ich mir aber doch sicher, dass DreiElf eine größere Nummer ist und sich da sauber abgesichert hat.
Offenkundig wollen die beiden mich im Dunkeln tappen lassen und es soll eine Überraschung geben, wenn Nick seinen Biergarten beantragt. Dann soll es so sein. Das Thema scheint durch, meine Neugier wird nicht befriedigt. Aber mich interessiert, was im Rathaus sonst so im Moment läuft. Also frage ich Siouxsie danach, die beim Flurfunk stets einen guten Empfang hat.
Siouxsie guckt mich an und lächelt.
„Also, mein lieber Waller, du bist hier immer noch der Held. Wenn wir Schergen in der Verwaltung unseren Chef selbst wählen dürften, hättest du den Job sicher. Dein Auftritt, den du da hingelegt hast, ist immer noch Gesprächsthema Nummer eins bei uns.“
Das kann ja was werden, wenn ich da am Montag auflaufe. Hätte nicht gedacht, dass das so lange anhält. Das dritte Jahrtausend habe ich jetzt doch für schnelllebiger gehalten.
„Und dass der Schmitz dich bei den Sheriffs angeschwärzt hat und dass das dann auch noch vollkommen gelogen gewesen ist, hat der ganzen Sache noch mehr Schwung gegeben. Du brauchst auch gar nicht so zu gucken. Nur weil ihr da fast im Wald am Rande der Peripherie rumhängt, spricht sich das trotzdem alles blitzschnell rum.“
Wenn ich gar nicht erst so zu gucken brauche, kann ich mir die Mühe auch sparen und gucke gar nicht erst so.
„Und du hast ja auch in der Vergangenheit bei uns Schergen einen guten Ruf gehabt. Du hast nie irgendwas auf Kosten anderer gemacht und niemanden angeschwärzt oder in die Pfanne gehauen. Wenn, dann bist du der Chefetage auf die Nerven gegangen. Wie gesagt, jetzt bist du der große Held.“
Das muss ich erst mal schlucken und dann auch noch verdauen. Und das ist ein großer Brocken, den muss ich entsprechend vorsichtig schlucken. Sonst werde ich mich daran verschlucken. Über die Verdauung kann ich mir dann später noch Gedanken machen.
Und deine Entourage steigt natürlich auch im Ansehen. Insbesondere Pete und uns beiden hier wird jetzt eine Menge mehr Respekt entgegen gebracht.“
DreiElf guckt sie ganz irritiert an.
„Davon habe ich ja noch gar nichts mitbekommen.“
„Du solltest auch von Zeit mal die Tastatur Tastatur sein lassen, dein Büro verlassen und dich unters gemeine Volk mischen. Dann kriegst du auch mal was mit, von dem, was in den Fluren und Büros läuft.“
Sie grinst ihn noch mal an und wendet sich dann wieder in meine Richtung.
„Pete hat ja immer schon bei den Frauen ab Mitte 30 gut in die Nahrungskette gepasst, ist jetzt aber noch im Wert gestiegen. Mich hat da schon mehr als eine angesprochen, ob ich da nicht für sie vermitteln kann.“
„Ich glaube nicht, dass der noch wirklich auf dem Markt ist.“
Da die beiden von Petes Vergangenheit wenig wissen, kann ich da durchaus was andeuten. Siouxsie wird das auf die Frauen in der Verwaltung beziehen. Sie guckt mich ganz neugierig an.
Jetzt ist es an mir , mich in Schweigen zu hüllen. Und das tue ich auch. Jetzt muss ihre Neugier unbefriedigt bleiben. Eins zu eins. Ein gerechtes Unentschieden.

Wir sitzen im Cafe in der Fußgängerzone. Luz und Betty wollen noch irgendwo Schnäppchen jagen gehen. Weihnachten nähert sich unaufhaltsam mit großen Schritten und wird bald vor der Tür stehen. Wahrscheinlich wird es auch dieses Jahr wieder reingelassen werden. Snake und ich wollen gleich bei ihm ein Regal in der Abstellkammer zusammenbasteln. Betty war vor ein paar Tagen beim Schweden und hat den obligatorischen Bausatz angeschleppt, der wie immer mit nur einem einzigen Imbusschlüssel nach eindeutiger Bauanleitung zusammengedengelt werden muss. Und der wieder einen seltsamen Namen tragen wird. Ansgar, Willibald oder Hildegard. Oder auch Pnenp. TomTom hatte mal einen Liegestuhl namens Erika von denen. Zunächst waren wir dann irritiert, wenn er am Telefon gesagt hat, er liege gerade im Garten auf Erika.
Es ist der gleiche Tisch im gleichen Cafe, an dem ich vor ein paar Tagen gesessen habe, als Eve am Fenster vorbeigegangen ist. Als ich Luz davon erzählt habe, konnte ich als Antwort auf ihre Frage, was denn jetzt passieren sollte, könnte oder womöglich gar müsste, nur resigniert die Arme heben. Keine Ahnung. Und an dem Zustand hat sich bisher nichts geändert.
Plötzlich tritt eine Frau an unseren Tisch, die aus Richtung der Toiletten gekommen ist.
„Ach Lucia! Sie sehen heute aber wieder unglaublich gut aus. Ja, die Gnade der Jugend. Und der entzückende junge Mann neben ihnen ist doch bestimmt ihr Freund.“
Die grelle Stimme hat meine Ohren schwer eingeschüchtert. Wer oder was ist das denn? Eine Frau Mitte fünfzig, die aber extrem vergeblich versucht, zwanzig Jahre jünger zu wirken. Die Klamotten sind lächerlich, die Frisur ist eher gar keine. Und das fällt selbst mir auf, der von so was gar keine Ahnung hat. Nachdem in den Gehörgängen wieder Ruhe eingekehrt ist und der Schmerz nachgelassen hat, erkenne ich sie auch. Frau Seelmann. In voller Schönheit, was aber nur sie selbst so sieht. Diese Ansicht hat sie absolut exklusiv für sich. Für mich hat sie was von einem Verkehrsunfall. Schrecklich, aber man muss hinsehen.
„Schauen Sie, Lucia. Sehen Sie sich meine Nägel an. Wir müssen unbedingt einen Termin machen.“
Luz kann sie dann abwimmeln. Sie möge sie anrufen. Sie habe ihren Terminkalender nicht dabei. Sie könne da jetzt gar nichts zusagen, was sie auch mit Sicherheit einhalten könne.
Ich gucke ihr hinterher. Das ist zwar nicht gut für die Augen, aber was sein muss, muss sein. Wo sie ist, ist vielleicht der alte Seelmann himself auch nicht weit. Den möchte ich gar nicht wirklich hier treffen. Unser Date in seinem Büro hat mir gereicht. Aber Glück gehabt. Sie ist mit so Tanten da, die ihr aus der Distanz betrachtet auch schon ziemlich ähnlich zu sein scheinen.
Snake guckt Luz an.
„Was war das denn für eine Olle? Die geht ja gar nicht.“
Luz bricht in schallendes Gelächter aus. Ich auch. Betty nicht. Snake auch nicht. Er schaut uns zu, wie wir nach Luft japsen, bis Luz wieder sprechen kann.
„Jetzt weißt du, warum ich zu der Ollen vom Seelmann immer nur Olle sage.“

Snake und ich sitzen bei ihm im Wohnzimmer. Wir haben zunächst gehofft, das Regal würde versuchen, sich im Alleingang selbst zu errichten und bräuchte dabei nur kleine Hilfestellungen, aber wir sind enttäuscht worden. Dabei haben wir sogar einen zweiten Imbusschlüssel dazu gelegt. Jetzt suchen wir Motivation und Inspiration. Bei der Suche nach diesen wichtigen Aspekten des Lebens setzten wir auf die Unterstützung von The Essence. Wir lauschen deren fantastischen Debütalbum „Purity”.
Es klingelt. Snake stutzt. Offensichtlich erwartet er gerade niemanden, aber er latscht trotzdem zur Tür. Als er zurückkehrt, ist er total blass. Als hätte der Tod gerade an die Tür geklopft. Hinter ihm betritt Eve den Raum. Vielleicht wäre der Tod die bessere Alternative gewesen. Der grinst zumindest immer recht freundlich. Eve guckt doch eher ernst. Ich werde augenblicklich zum Fluchttier. Ich will weg. Familiendramen sind nichts für mich.
„Ich muss los.“
„Nein, du musst bleiben.“
Die beiden sprechen im Geschwisterchor. Schön synchron. Als hätten sie vorher geübt. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Mein Hintern fällt zurück in den Sessel.
„Ich hole mal drei Bier.“
Snake verschwindet wieder und lässt Eve und mich zurück. Es herrscht völliges Schweigen. Nicht dieses angenehme Schweigen unter Freunden, eher dieses unangenehme Schweigen, wenn keiner weiß, was er sagen soll. Ich will auch gar nichts daran ändern, ich habe eher nichts dazu beigetragen, dass das jetzt so ist, wie es ist. Langsam beginne ich mich zu fragen, wo Snake das Bier holt. Wohl nicht im Keller, so lange, wie er schon weg ist. An der Bude? Direkt bei der Brauerei im Sauerland? Oder ist erst noch nach Bayern Hopfen ernten?
„Hast du mich gesehen, als ich am Café vorbei gekommen bin?“
Eve macht dann doch einen Anfang. Ich sehe sie an. Sie wirkt unsicher, nervös und auch ein bisschen ängstlich. Gar nicht so, wie wir sie kennen, aber die Situation ist auch anders. Nicht nur ein bisschen anders, sondern total. Anders als alles, was es bisher gegeben hat. Ich nicke nur. Alles was ich sage, kann gegen mich verwendet werden. Kopfbewegungen nicht. Die haben vor Gericht keinen Bestand.
„Ich wusste nicht, dass du hier bist, aber ich freue mich echt, dich zu sehen.“
Meine Antwort sind ein paar vage Gesten, die alles und nichts bedeuten. Eher aber nichts. Mehr so ein unmotiviertes Gefuchtel mit beiden Händen. Ich komme mir dabei auch sofort albern vor und stelle das wieder ein.
Snake hat tatsächlich doch noch den Rückweg gefunden. Er öffnet und verteilt die Flaschen. Wir sitzen da und keiner trinkt. Bei uns wird immer erst gebimmelt, das war schon immer so, ist heute so und wird wohl ewig so sein. Aber sind wir hier immer noch wir oder sind nur Snake und ich wir und sie ist sie?
Es liegt Spannung in der Luft. Als ich dann meine Flasche in Bewegung setzte, beobachten die beiden ganz genau jeden Zentimeter des Weges, den sie nimmt. Ich setzte die Flasche nicht an den Hals, sondern strecke sie Richtung Tischmitte. Snake ist sofort dabei. In Eves Augen glitzern Tränen, als auch sie ihre Flasche hebt.
Die Flaschen bimmeln.
Meine ist sofort fast halb leer und dabei noch die, in der am wenigsten Flüssigkeit fehlt. Snake schiebt die „Feeding The Flame“ von Sad Lovers And Giants in den Player. Leicht melancholisch, aber nicht deprimierend. Eine tolle Platte. Und sie passt wunder zur Situation. Er schaut seine Schwester an.
„Du müsstest schon irgendwie reden, denke ich.“
Sie sieht ihn an, nickt und sagt dann aber weiterhin nichts.
„Warst du schon bei unseren Eltern oder bei Silke?“
Jetzt setzt sie sich gerade hin und schluckt.
„Nein, das ist nicht wichtig, da kann ich mich irgendwann später mit beschäftigen. Vor denen sind einige andere dran, Leute die mir wichtig sind. Wie du.“
Dann dreht sie mich zu mir.
„Und wie du. Und noch ein paar,“
Tränen laufen über ihr Gesicht. Weinende Frauen sind nichts für mich. Da tue ich mich schwer. Snake aber auch. Und eigentlich sind wir dieser weinenden Frau auch noch ziemlich böse. Eigentlich.
„Silke und unsere Eltern gehören nicht mehr unbedingt dazu. Die haben mir so viele Vorwürfe gemacht. Und die haben mich belogen. Sonst wäre ich bestimmt längst wieder hier gewesen.“
Snake und ich wechseln unfällig ein paar Blicke. Er weiß auch nicht, was sie damit meint. Offenkundig sind da ein paar Dinge an ihm vorbei gelaufen. Die andere Schwester ist anders als wir, deshalb gehört sie auch nicht zu uns. Sie ist so, wie ihre Eltern sie sich gewünscht haben. Sie ist so, wie auch wir sein sollten. Zumindest, wenn es nach unseren Eltern ginge. Und die Eltern der drei sind wie meine. Eltern halt. Die besser wissen, was gut für ihre Kinder ist, als es die Kinder es je selbst wissen könnten.
Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie wischt sie nicht weg. Sie schluckt.
„Ich weiß selbst nicht genau, was damals gewesen ist, als ich abgehauen bin. Irgendwas ist da in mir passiert. Der Typ hat damit noch nicht mal was zu tun gehabt. Ich war nie mit dem im Bett oder so. Den habe ich dann hinterher auch nur noch ein oder zwei Mal gesehen.“
Snake und ich sehen uns an. Das ist nicht die Geschichte, die wir erwartet haben. Was auch immer wir erwartet haben, das nun wirklich nicht.
Noch mehr Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie wischt sie immer noch nicht weg. Sie schluckt.
„Und dann saß ich da, weit weg von zuhause. Und ich war einsam. Ich wollte zurück. Und unsere Eltern haben mir erzählt, dass ihr mich alle nicht wiedersehen wollt. Silke hat mir erzählt, dass ihr mich alle nicht wieder sehen wollt. Erst habe ich denen auch geglaubt. Aber etwas später, aber vielleicht zu spät, habe ich darüber mal richtig nachgedacht. Und dann habe ich mich daran erinnert, wie wir sind. Wir sprechen nicht über Menschen, wir sprechen mit Menschen. Ihr hättet mir das direkt gesagt. Irgendwie. Wie auch immer.“
Noch mehr Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie wischt sie weiterhin nicht weg. Sie schluckt.
„Von euch hat mich keiner angerufen. Das war aber klar, ich war ohne Worte verschwunden. Ich hätte euch anrufen müssen. Ich habe mich nicht getraut. Nach einem Jahr oder so, habe ich mein altes Handy weggeworfen und mir eine neue Festnetznummer besorgt. Dann konnten die mich nicht mehr erreichen. Niemand konnte mich mehr erreichen.“
Snake und ich sitzen mit unseren inzwischen leeren Flaschen da und starren sie an. Irgendwas scheint ihr eine lange Zeit vollkommen schief gelaufen zu sein.
Noch mehr Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie wischt sie weiterhin nicht weg. Sie schluckt.
„Also hockte ich da in der großen fremden Stadt. Hatte meinen Job, aber sonst nicht viel. Nur ein paar Bekannte, aber keine Freunde. Ich hatte die besten Menschen, die man haben kann, einfach zurückgelassen. Wofür auch immer. Für nichts. Dann habe ich Facebook und sonst was im Netz nach euch durchsucht, aber ihr tauchtet da alle nie auf. Weil ihr so geblieben seid, wie wir immer waren. Das ist nicht unser Spielplatz. Da gehören wir nicht hin.“
Die Tränen fließen jetzt in Strömen. Ich beginne mir Sorgen um ihren Flüssigkeitshaushalt zu machen. Snake wohl auch, denn er haut ab. Er will bestimmt neues Bier holen. Der Zeitpunkt ist gut gewählt, denn reden kann sie im Moment nun wirklich nicht. Schluchzen klappt aber gut. Diesmal ist Snake in Windeseile zurück. Und er hat mehr als drei Flaschen mitgebracht.
Die Flaschen bimmeln.
Der Tränenstrom wird wieder kleiner. Sie schluckt.
„Bis dann Anfang des Monats plötzlich die Sache mit dem Gewerkschaftshaus und diesen VOD-Zeichen los ging. Ich habe jeden Tag geguckt, ob es irgendwas im Netz gibt. Ich konnte endlich wieder an eurem Leben teilnehmen. Besser gesagt, ich konnte an unserem Leben teilnehmen. Dem Leben, was ich fünf Jahre vermisst habe. Zumindest konnte ich aus er Ferne teilnehmen.“
Der Tränenstrom kommt zum Stilstand.
„Ich habe damals nur ein paar Tage gebraucht, um von hier zu verschwinden. Dann habe ich länger als vier Jahre benötigt, um den Mut zu finden wieder zurückzukommen. Am Ende ging es dann ganz schnell. Eine Wohnung hier in der Stadt zu finden ist nicht schwer. Ich habe da hinten alles gekündigt und dann bin ich zurück, dahin wo ich hin gehöre und von wo ich nie hätte verschwinden sollen.“
Sie kramt einen Stift aus ihrer Tasche und schreibt etwas auf die Fernsehzeitung. Dann sieht sie erst Snake und dann mich an, ehe sie in Richtung der Zeitung deutet.
„So könnt ihr mich erreichen. Wenn ihr wollt.“
Jetzt trinkt sie aus, steht auf und zieht ihre Jacke an. Snake und ich bleiben sitzen. Wir haben gerade nicht die Kraft aufzustehen. Von der Tür winkt sie uns zu. Wir winken zurück. Keiner von uns hat eine Ahnung, wie es weitergehen wird. Winken wir hier ein Bis Bald oder ein Lebewohl?
Snake und ich sitzen noch eine ganze Zeit schweigend rum. Es ist absolut still. Die CD ist schon lange zu Ende. Irgendwann stoße ich ihn an.
„Weißt du, was ich nicht verstehe?“
„Belgisch?“
„Ehrlich gesagt, weiß ich das gar nicht. Bin auch noch nie auf jemanden getroffen, der das spricht. Und ich war schon ein paar Mal in Belgien. Die Fritten sind immer erstklassig. Aber mir geht es um was anderes. Sie hat kein Wort über Pete gesagt. Was bedeutet das?“
Snake denkt kurz nach. Dann nickt er.
„Sie hat es ja selbst gesagt. ‚Weil wir so sind, wie wir sind. Wir sprechen nicht über Menschen, wir sprechen mit Menschen. Also wird sie mit Pete sprechen und nicht über ihn.“
Und wir denken einträchtig über ihre Worte nach. Sie hat da wohl recht. So waren wir früher, so sind wir heute und so werden wir hoffentlich auch immer sein.
Auf dem Tisch liegt die Fernsehzeitung mit einer Adresse und einer Telefonnummer. Wir gucken erst drauf, dann uns an und zücken die Handys. Kontaktdaten kann man auch wieder löschen.
Betty kommt zurück. Wahrscheinlich hat sie das ungeöffnete Paket im Flur stehen gesehen. Als sie uns ansieht, stellt sie aber keine Fragen. Sie merkt, dass irgendwas passiert ist. Etwas, mit dem wir nicht gerechnet haben.
„Ich habe Luz zuhause abgesetzt. Soll ich dich gleich auch eben fahren?“
Ich winke dankend ab, frische Luft wird mir gut tun. Ich nehme noch ein Bier für unterwegs. Nach einem kritischen Blick auf die Flasche, stecke ich eine zweite ein. Es sind fast zwanzig Minuten bis zu mir.
Luz schläft schon. Sie sieht im Mondlicht unglaublich gut aus. Sie sieht immer unglaublich gut aus. Ich küsse sie. Weil ich es darf. Weil nur ich es darf.

Es dauert lange, bis ich wegnicke.

***
Am Montag geht es weiter.

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