Sonntag, 12. Februar 2017
23 New Model Army “Green And Grey”
Dienstag

Draußen scheint die Sonne, ich hätte den gelben Stern fast nicht wiedererkannt, so lange hat er sich zuvor hinter grauen Wolken versteckt. Kalt ist es trotzdem. Nicht kühl, wirklich kalt. Beinahe bitterkalt. Ich sitze im Cafe und schlabbere einen Kakao. Richtig schön süß und mit dick Sahne obendrauf. Man kann zwar eigentlich immer Kaffee trinken, muss man aber nicht.
DreiElf hat mich vorhin angerufen, er will mich unbedingt treffen, also mache ich offiziell eine Sporthallenkontrolle. Falls jemand fragen sollte. Obwohl im Moment keiner bei mir fragen würde. Ich bin im derzeit irgendwie besonders. Nicht mehr richtig im System. DreiElf hat sich heute einen Tag frei genommen. Ganz normal eigentlich, aber doch verwunderlich. Manchmal glaube ich, die Datenmörder sind immer im Dienst und haben gar keinen Urlaub. Weil sie nicht wissen, was sie dann den ganzen Tag tun sollen. Auf jeden Fall hat er am Telefon aufgeregt geklungen. Und so sieht er auch aus, als er reinkommt und sich zu mir gesellt.
„Kannst du dich noch an Karl-Heinz Kulski erinnern?“
Nein, kann ich nicht. Bevor ich das aber auch ausspreche, denke ich doch genauer nach. Der Name sagt mir irgendwas, aber nur mit sehr leiser Stimme, so dass ich nicht verstehen kann, was er mir da mitteilen will. Also, bleibt das „Nein“ dann ich doch so stehen.
„Nein, kann ich nicht.“
„Der war so was wie der EDV-Saurier in unserer Verwaltung. Der war schon vor Urzeiten zugange und hat noch mit irgendwelchen Lochkarten wilde Dinge angesellt. Der hatte alle Berechtigungen, die es überhaupt je gegeben hat, und durfte im System wohl wirklich alles. Oder sogar noch mehr.“
Ich habe zwar keine Ahnung, worum es genau geht. Aber es klingt richtig spannend.
„Und der hat auch Sachen gemacht, die vielleicht nicht so ganz erlaubt waren. Aber an ihn hätte sich keiner ran gewagt. Alle hatten Sorge, dass, wenn er nicht mehr im Dienst sein würde, alles zusammenbrechen könnte.“
Ich habe zwar immer noch keine Ahnung, worum es genau geht. Aber es klingt sehr spannend.
„Und vor sieben Jahren ist der in Rente gegangen. Dann haben die ihm aber noch so eine Beratertätigkeit andrehen können, weil die Angst hatten, dass seine Nachfahren das alles nicht im Griff haben könnten. Datenapokalypse in der Stadtverwaltung. Und er wusste auch nicht so unbedingt, was sonst den ganzen Tag machen soll, und ist darauf eingestiegen.“
Ich habe zwar weiterhin keine Ahnung, worum es genau geht. Aber es klingt außerordentlich spannend.
„Vor zwei Jahren war dann alles so weit in neue Systeme übergegangen, dass die ihn nicht mehr brauchten. Und dann haben die ihn auch einfach endgültig abserviert. Der Datenmohr hat seine Schuldigkeit getan, er kann gehen. Aber bis sie ihn abgeschaltet haben, hatte er von zuhause immer vollen Zugriff auf das System. Und da hat er natürlich auch Sicherungen gemacht. Vom ganzen System.“
DreiElf sieht mich erwartungsvoll an. Ich spüre, dass er was ganz Tolles gesagt hat, kann es aber nicht ganz genau erkennen. Er muss mir auf die Sprünge helfen. In EDV bin ich eher eine Niete.
„Das bedeutet, er hat auch die Daten vom Gewerkschaftshaus kopiert. Ist zwar der Stand von vor zwei Jahren, aber da sollte sich wohl nichts dran geändert haben. Da ist ja nichts passiert. Zumindest nichts, was hätte passieren sollen. Wir wissen ja nicht, was der Klein und seine Kumpel da denn so vor hatten.
Und jetzt wirkt er noch aufgeregter als vorhin.
„Und ich habe mit ihm telefoniert und besuche ihn gleich. Und ich werde die Dateien dann mitnehmen. Dann gucken wir mal, wie ich die unauffällig wieder ins System bringe und was wir dann so damit anstellen. Muss doch irgendwas für den Nick machbar sein.“
Er wirkt sehr zufrieden, als er aufbricht. Und das zu recht. Ich sehe ihm noch hinterher, bis er aus meinem Sichtfeld verschwindet.
Ein neuer Kakao kommt. Mein Platz ist direkt am Fenster und ich gucke mir interessiert die Menschen an, die an mir vorüberziehen. Hinter der Scheibe nimmt mich von denen eigentlich niemand wahr und das ist auch gut so. Vorhin sind meine Eltern vorbei gezogen und kurz danach auch noch Carsten Schmitz. Der hat überhaupt nicht gut ausgesehen. Unsere gestrige Begegnung ist wohl nicht spurlos an ihm vorübergegangen.
Jetzt kommt eine Frau vorbei. Um genauer zu sein, eine wirklich gutaussehende Frau in meinem Alter, vielleicht zwei drei Jahre jünger als ich. Ich habe den Eindruck, sie lächelt mir im vorbeigehen zu. Muss mit meiner frischen Berühmtheit zu tun haben. Irgendwie ist sie mir dabei aber auch bekannt vorgekommen.
Bevor ich von etwas anderem abgelenkt werde, fangen in meinem Hinterkopf Alarmglocken an zu klingeln. Erst leise, dann immer lauter. Bis es quasi ohrenbetäubend wird. Irgendwas ist mit dieser Frau. So grauenvoll laut wie es inzwischen bimmelt, muss es echt wichtig sein. Ich rufe ihr Bild aus dem Kurzgedächtnis auf und betrachte es eingehend.
Es dauert einen Moment, aber dann beginnt es langsam zu dämmern. Das Gesicht kenne ich. Von früher. In jünger. Eine Erinnerung macht sich breit. Ich versuche sie beiseite zu schieben, denn das kann nicht sein. Das soll auch nicht sein. Aber die grünen Augen lassen dann doch keinen Widerspruch zu. Das war Eve, die da gerade vorbei gegangen ist und mich angelächelt hat. Und das war kein Lächeln, das man einem Fremden im vorbei gehen zu wirft. Das war ein Lächeln, für Leute, die man kennt und mag. Aber Eve gibt es hier nicht mehr. Die ist weg. Schon ewig. Eigentlich auch für immer. Aber das scheint dann aber jetzt doch nicht mehr so zu sein.
Eve. Die Schwester von Snake. Die große Liebe von Pete. Über die er immer noch weg ist. Die beiden waren etwa ein Jahrzehnt zusammen, bis sie es vor etwas mehr als fünf Jahren in den Kopf gekriegt hat. Sie hat da einen Typen kennen gelernt und plötzlich war Pete abgemeldet. Und wir alle auch gleich mit. Von Heute auf Morgen. Von Jetzt auf Gleich. Keine Ahnung, was in ihr vorging, aber ihr wurde das alles hier zu klein. Das Ruhrgebiet. Nur eine Provinz irgendwo im Nirgendwo. Sie wollte die große Welt und schmiss alles hin. Freunde, Familie, Job. Ab und weg. In die Hauptstadt der Republik. Seitdem ist sie wohl nie wieder hier gewesen und niemand hat seit Jahren auch nur einen Ton von ihr gehört. Und jetzt latscht sie plötzlich durch unsere Fußgängerzone.
Trotzdem mag ich sie immer noch und manchmal vermisse ich sie auch. Sie hat super zu uns gepasst, mit ihrer Quirligkeit hat sie uns immer wieder mitgerissen. Auch in schlechten Zeiten. Ganz besonders in schlechten Zeiten. Luz kennt sie nicht, die beiden haben sich damals quasi um wenige Wochen verpasst, Sie wäre wahrscheinlich aber super mit ihr klar gekommen. Die beiden zusammen, die hätten Ziegenpisse in Benzin verwandeln können.
Aber was will sie jetzt hier? Ich rufe Snake an.
„Hi, ich habe gerade deine Schwester in der Stadt gesehen!“
„Interessant, und deswegen rufst du mich an? Die arbeitet doch da in der Buchhandlung.“
Er klingt ein wenig ironisch, es dauert einen Augenblick, bis ich schalte.
„Nein, nicht die Silke. Die andere. Eve.“
Jetzt herrscht Ruhe am anderen Ende der Leitung.
„Bist du sicher?“
„Yes! Kein Zweifel. Was macht die hier? Du musst sie anrufen.“
„Und wie soll ich das bitte machen?“
„Na ja, so schwer ist das doch nicht. Du wählst und so.“
Ironisch kann ich auch. Wir sind beide etwas aus dem Tritt. Ich kann quasi sehen, wie er tief durchatmet. Hören kann ich es aber zweifelsfrei.
„Ich kann sie nicht anrufen, weil ich keine Nummer habe. Niemand von uns hat eine. Meine Eltern nicht. Meine Schwester nicht. Ich nicht. Niemand. Absolut keiner. Seit bestimmt vier Jahren hat es keinen Kontakt mehr mit ihr gegeben. Und mit keinen meine ich genau das, überhaupt keinen. Ich habe auch keinen blassen Schimmer, wen die hier besucht.“
Das Bild der vorbei gehenden Eve erscheint erneut vor meinem geistigen Auge.
„Ich bin mir gar nicht mal sicher, ob die hier nur jemanden besucht. Die hatte zwei große Taschen mit Nahrung dabei.“
Wir lassen das erstemal sacken. Was bleibt uns.
„Waller, was machen wir, wenn Pete auf sie trifft?“
Eine mehr als gute Frage.

Nick und ich stehen vor einem Haus etwa 60 Meter vom „Mercy Seat“ entfernt. Ich frage ihn zum letzten Mal, ob wir nicht doch lieber die Sheriffs einschalten sollen. Er schüttelt wieder den Kopf. Er hält nicht viel von staatlichen Institutionen. Und zu ebendiesen gehören die Sheriffs zweifelsfrei.
Wir beide sind nicht alleine da. Der Preacherman begleitet uns. Er steht mit dem Rücken an der Hauswand direkt neben der Tür. Er hat unserem Getuschel bestenfalls mit einem halben Ohr zugehört. Das Ergebnis davon kannte er vorher. Genau wie ich. Nick ist Nick und bleibt Nick. Aber ich wollte das abschließend geklärt haben. Nicht, dass es hinterher heißt, hättest du doch was gesagt. Der Preacherman macht einen sehr konzentrierten Eindruck.
Nick drückt den Klingelknopf. Nicht kurz, sondern richtig schön ausgiebig. Es sind Schritte und ein missmutiges Gemurmel von drinnen zu hören. Beides wird langsam lauter, bis die Tür geöffnet wird. Ein Mann sieht uns sehr erstaunt an. Scheinbar hat er mit uns nicht gerechnet. Und er scheint sich auch nicht unbedingt über uns zu freuen.
Bei dem Mann handelt es sich um Heinz Schulz. Der Nachbar, der Nick immer die meisten Probleme bereitet. Der Mann, der in der nie initiativ gewordenen Bürgerinitiative auf dicke Hose machen wollte. Das unangenehme Großmaul.
„Was wollen Sie denn hier? Ich denke nicht, dass wir was zu besprechen haben.“
Während er spricht scannt der die Gegend ab. Wahrscheinlich sucht er nach dem Preacherman und dem Watchman. Die beiden haben ihm am Samstag den Tag versaut. Er stellt fest, dass die Luft rein ist.
„Hauen Sie ab! Verlassen Sie sofort mein Grundstück!“
Gleichzeitig will der die Tür wieder zu werfen und muss dabei feststellen, dass er sich geirrt hat. Nicht nur etwas, sondern total. Die Luft ist nicht rein. Der Preacherman ist da. Er hat bis zu diesem Augenblick vollkommen unbeweglich direkt neben der Tür gestanden. Jetzt geht die Post ab. Und zwar richtig.
Der Preacherman hat die ganze Zeit seinen kleinen Schlagstock in der rechten Hand gehalten und steckt den blitzschnell in den Türrahmen, so dass die Tür nicht ins Schloss fällt, sondern aufgehalten wird. Gleichzeitig drückt er mit seiner linken Hand mit viel Schwung die Tür auf und marschiert sofort ins Haus. Der Schulz wird bei der ganzen Aktion drei, vier Schritte nach hinten befördert und starrt den Preacherman mit weit offenem Mund an. Nick und ich sind auch sofort im Haus und schließen die Tür von innen.
Heinz Schulz spricht nicht, er glotzt uns nur an. Noch weiß er nicht, warum wir wirklich da sind. Vielleicht hat er ja eine Ahnung. Vielleicht auch nicht. Aber wir sind ja keine Unmenschen und werden ihm gleich sagen, worum es denn so geht. Ich glaube aber nicht, dass ihn das erfreuen oder gar beruhigen wird.
Bevor wir aber dazu kommen, das Gespräch zu beginnen, guckt sich Nick eine große Vase aus Porzellan kurz an. Dann schubst er das Teil mit einem gezieltem Hüftstoß von seinem Schemel. Der Flur ist recht klein, dadurch ist der Radau um so größer. Die Vase schlägt auf dem gefliesten Boden auf und das war es dann für sie auch. Sie ist jetzt quasi eine Ex-Vase und fängt ein neues Leben als Scherbenhaufen an.
„Ups! Wie konnte mir das denn passieren.“
Nick tut ganz erstaunt. Der Preacherman und ich bleiben absolut unbeeindruckt und behalten den Schulz fest im Blick. Nicht dass der auf dumme Ideen kommt. Der ist aber ganz bei seiner Vase, beziehungsweise bei dem, was davon noch übrig ist. Ein paar Scherben. Ein paar rumliegende Blumen. Und ein paar Liter Wasser, die sich, wie es so die Art von Wasser ist, ihren Weg suchen.
„Wissen Sie überhaupt, was so was kostet?“
Nick stupst mich.
„War da ein Preisschild dran? Meinst du, der handelt mit dem Zeug? Meinst du, das ist legal?“
Dem Preacherman wird das alles wohl zu kindisch. Er packt den Schulz am Hemd, dreht ihn etwa um 90 Grand und gibt ihm einen kleinen Schubser. Jetzt sitzt er auf der Treppe nach oben. Der Preacherman stellt einen seiner schweren Stiefel neben dessen Hintern auf die Treppe und beugt sich zu ihm herunter. Der Schulz wirkt nur sehr bedingt glücklich.
„Wir sind deswegen hier.“
Jetzt zieht er die beiden Bilder von den Schlägertypen aus der Tasche und hält sie ihm vors Gesicht. Wir können ihm ansehen, dass ihm die Typen nicht unbekannt sind. Jetzt wirkt er noch nicht einmal mehr bedingt glücklich. Beinahe könnte man das schon als vollkommen unglücklich bezeichnen.
„Wir haben gestern mit beiden gesprochen.“
Während ich meinen coolen Blick beibehalte, bin ich doch überrascht. Ich war nur bei einem Gespräch dabei, aber so wie der Preacherman das Wort beide betont hat, habe ich keinen Zweifel, dass er mit beiden auch beide meint. Offenbar haben der Preacherman und der Watchman da noch was geklärt. Offenbar wollten sie nicht, dass einer von uns dabei ist. Wahrscheinlich ist es besser, wenn ich mich damit nicht weiter beschäftige. Wir wissen nicht viel über den Preacherman und wir wissen noch weniger über den Watchman. Und ich denke nicht, dass ich über dieses Gespräch vom Vortag irgendwas wissen will. Ich beginne schon zu vergessen, was ich bis gerade gar nicht gewusst habe. Sicher ist sicher.
„Du hast jedem von denen 500 gegeben, damit sie den Nick verprügeln. Die Kohle haben sie sich ja redlich verdient, das konntest du dir ja Samstag in seiner Kneipe noch angucken. Die Macken sind ja noch nicht weg.“
Der Schulz hat jetzt nicht mehr nur ein wenig Angst, der hat inzwischen eine richtige Scheißangst. Er zittert, aber so richtig. Der ganze Körper fängt an zu beben. Der Preacherman sieht sich das Elend vor ihm an.
„Wir werden jetzt gehen. Wenn du noch einmal irgendwelchen Ärger machst oder wir auch nur glauben, du könntest irgendwelchen Ärger gemacht haben, besuchen wir dich wieder. Wenn du dann richtig Glück hast, kommen wir mit den Sheriffs und regeln das dann über die, wenn du weniger Glück hast, kommen wir alleine und regeln das selbst.“
Noch mehr Wasser sucht sich seinen Weg. Der Schulz hat wohl die Kontrolle über seine Blase verloren. So dolle schwitzen kann kein Mensch. Von dem unangenehmen Großmaul ist nicht mehr sehr viel übrig. Wir verlassen das Haus. Wir haben alles gesagt. Der Preacherman hat alles gesagt. Besser als Nick oder ich es hätten sagen können.
Draußen sieht Nick den Preacherman an und will etwas fragen. Ich höre die Frage bereits, bevor auch nur ein Wort aus seinem Mund gekommen ist. Ich packe seinen Arm.
„Frag nicht, ich glaube nicht, dass wir die Antwort hören wollen.“
Der Preacherman guckt uns an. Sein Blick ist eindeutig. Er sagt uns, dass wir die Antwort nicht hören wollen. Nicht jetzt, nicht später, sondern nie.

Der Preacherman und ich warten auf Zeus. Wir haben noch ein Date mit Ralf Schneider. Noch ein unangenehmes Großmaul. Vielleicht aber schon ein bisschen ruhiger, nachdem die Sprayer den VOD-Schriftzug bei seinen Hütten gemacht haben. Mir geht durch den Kopf, dass wir in den letzten Tagen einige Menschen ganz schön eingeschüchtert haben. Ohne Gewalt. Zumindest ohne körperliche Gewalt. Mein Blick geht rüber zum Preacherman. Zumindest ohne körperliche Gewalt, von der wir wissen. Zumindest keine, von der ich weiß.
Wir sitzen schweigend auf einer Mauer. Mit dem Preacherman kann man gut zusammen schweigen. Er strahlt dabei eine unglaubliche Ruhe, Gelassenheit und Souveränität aus. Ich sehe zu ihm rüber. Der Mann ist ein Rätsel. Wir wissen fast nichts über ihn und er steckt voller Überraschungen. Wo hat er diese Sachen gelernt? Dieses Auftreten. Diese Schnelligkeit. Diese Effizienz. Er ist eine Art Ein-Mann-Rollkommando. War er bei der Armee, den Sheriffs oder hat er das auf der Straße gelernt? Ich weiß gar nicht, was ich da bevorzugen würde. Und sein Bruder ist genauso.
„Was macht der Watchman denn jetzt so?“
Der Preacherman guckt zu mir rüber.
„Seinen Kram.“
Ich sehe in fragend an.
„Er ist zurück nach hause. Er hat hier erledigt, was er erledigen wollte.“
„Wo lebt er?“
Der Preacherman zögert, ehe er grinst.
„Wollen wir lieber über das Wetter reden?“
Ich nicke schicksalsergeben.
„Ja, gerne.“
Wir nehmen unser Schweigen wieder auf, bis Zeus auftaucht. Zusammen entern wir dann die „Bergmannsklause“. Wir haben den Eindruck, dass man uns wiedererkennt, was auch nicht verwunderlich wäre. Nicht nur, dass es erst vorgestern war, als wir unsere Premiere in dem Schuppen gefeiert haben, zusätzlich sind wir da auch ziemlich aufgefallen. Wir waren dort in einer fremden Welt. Und wenn alles gut läuft, machen wir heute unseren zweiten und gleichzeitig letzten Stop auf diesem eigenartigen Planeten.
Wahrscheinlich haben die am Sonntag schon vermutet, dass wir irgendwie alle zusammengehören müssen, nun haben sie Gewissheit. Mir ist vollkommen egal, ob sie das jetzt glücklich macht oder nicht. Aus den Augenwinkeln siehe ich, dass die Jungs am Kicker ihr Spiel abbrechen und sich wieder an ihren Tisch setzen. Sie wollen wohl nicht, dass ihnen ähnliches widerfährt, wie dem entthronten Lokalmatadoren Ralf Schneider, der am eigenen Tisch eine furchtbare Demütigung erleben musste.
Zunächst sieht es nicht so aus, als würden wir Getränke bekommen, aber der Preacherman regelt das mit einem freundlichem aber auch eindeutigem Blick. Kurz darauf steht die Frau Wirtin höchstpersönlich bei uns am Tisch und nimmt die Bestellung entgegen.
Die Gläser bimmeln.
Auftritt Ralf Schneider. Er ist zu früh. Bestimmt mit Absicht um sich einen Vorteil zu verschaffen. Clever gedacht, aber wir waren noch cleverer. Wir sind deshalb schon da und haben einen Tisch gewählt. Ihm bleibt nichts, als zu uns zu kommen. Er blickt uns drei an und kann seine Überraschung und Sorge nicht verheimlichen. Das hat er so nicht erwartet, er hat wohl mit Zeus alleine gerechnet. Ganz allein sein Problem.
Er ist echt nervös und hat auch ein weinig Angst. Er weiß nicht, was hier abgeht. Er kennt das Spiel nicht. Er kennt die Regeln nicht. Wir schon. Ganz allein sein Problem.
„Was hat das mit den Zeichen an meinem Haus und an der Agentur auf sich?“
Er starrt uns abwechselnd an. Wir starren gleichzeitig zurück. Zeus ist zwar Städter durch und durch, gibt jetzt aber ganz überzeugend die Unschuld vom Lande.
„Welche Zeichen? Keine Ahnung, wovon du redest.“
Das glaubt er nicht, aber das ist vollkommen egal. Zumindest uns. Er hat keine Ahnung. Von nichts. Ganz allein sein Problem.
Zeus mustert ihn intensiv, dann beugt er sich etwas vor. Genug Geplänkel. Wenn wir einfach nur nett ein Bier trinken wollen, gehen wir woanders hin.
„Ich will den Namen.“
„Ich kann euch den Namen nicht sagen.“
Der Preacherman und ich überlassen Zeus die Bühne. Die beiden sind alte Kumpels. Wir geben die Dekoration. Der Preacherman glänzt in der Rolle des Abschreckers, indem er mit aufmerksamem, finsterem Blick dasitzt, Ich hingegen habe keine passende Rolle gefunden. Also bin ich einfach da. Das aber sehr überzeugend. Ich erinnere mich, dass hier das Rauchen verboten ist und zünde mir daher eine an. Die Asche geht in die Blumen. Die Frau Wirtin schäumt und kocht vor Wut, hält aber den Mund. Die Abschreckung durch den Abschrecker wirkt hervorragend.
„Doch kannst du. Vielleicht willst du nicht. Aber das ist was vollkommen anderes. Du solltest vielleicht deine Aussage noch einmal überdenken.“
Bei diesen Worten zückt er sein Handy und lässt den Schneider einen Blick auf das Display werfen. Der Schneider sieht sich selbst. Er sieht sich vor dem Puff. Er denkt noch einmal nach. Das erkennen wir wieder daran, dass sich seine Stirn bewegt. Und die Bewegungen produzieren ein Ergebnis.
„Gerd Wolsch.“
Nie gehört. In Gedanken gehe ich die Stadtverwaltung durch, aber auch da klingelt nichts. Aber natürlich kenn ich nicht alle da. Aber zumindest die Wichtigen und die, die sich selbst zu den Wichtigen zählen, sind mir schon ein Begriff. Ich sehe Zeus und dem Preacherman an, dass es ihnen genau so geht. Nie gehört. Wer soll das den jetzt sein? DreiElf bekommt sofort eine SMS mit dem Namen von mir. Der kann bestimmt auch von zuhause abchecken, ob es den bei der Stadt gibt.
„Wenn der Name falsch ist, kommen wir nicht wieder. Dann geht das Bild direkt an deine Frau.“
Guter Schachzug von Zeus. Wir warten, aber der Schneider sagt nichts mehr dazu. DreiElf schickt seine Antwort. Einen Gerd Wolsch gibt es bei der Stadtverwaltung nicht und hat es auch in der Vergangenheit nicht gegeben.“.
Zeus hakt nach. Dabei spielt er mit seinem Handy so rum, dass Schneider das Bild von sich selbst vor dem „Salome“ wieder gut sehen kann.
„Hast du noch einmal in aller Ruhe drüber nachgedacht, wer das für den bezahlt haben könnte?“
„Ich habe absolut keine Ahnung.“
Wir lassen ihm noch ein paar Augenblicke Zeit, aber es kommt nichts mehr. Bleibt die Frage, ob er blufft und mit hohem Einsatz zockt oder nicht. Werden wir bald wissen. Wir schmeißen ein paar Euro auf den Tisch und hauen ab.
Vor der Tür klatscht sich Zeus mit der Hand vor die Stirn. Zuerst denke ich, dass sich da wohl ein kleines Insekt oder etwas in der Art ungebeten niedergelassen hat. Aber die kalte Jahreszeit deutet dann doch eher drauf hin, dass ihm gerade noch etwas eingefallen ist.
„Jetzt habe ich ihm gar nicht das Bild von der Gestalt gezeigt, die zuletzt den Puff verlassen hat.“
Stimmt hat er nicht. Wir gucken uns an. Keiner scheint zu glauben, dass der Typ jetzt noch eine Rolle spielt. Aber letztendlich weiß man ja nie.
„Heute nicht mehr. Den können wir immer noch einmal besuchen, wenn wir die Info doch brauchen. Vielleicht dann auch bei ihm zuhause. Dann können wir auch gleich seine bestimmt entzückende Frau kennen lernen.“
Der‚Vorschlag des Preacherman stößt auf breite Akzeptanz.

Ich schließe die Wohnungstür auf. Endlich zuhause. Luz liegt auf der Couch. Es läuft die „Sleep No More“ von den Comsat Angels. Sehr düster. Sehr schön. Sehr unbekannt. Aber insbesondere „Be Brave“ und „Dark Parade“ sind richtige Kracher.
Ich küsse sie und drücke ihr den mitgebrachten Blumenstrauß in die Hand, Sie guckt sehr überrascht.
„Oh danke. Wo hast du die denn um die Uhrzeit noch herbekommen?“
„Die sind von Fleuraub.“
Jetzt guckt sie mich schon etwas verwirrt an. Sie scheint das nicht zu kennen. Blumen, die man auf dem Friedhof hat mitgehen lassen, kommen dann von Fleuraub. Das habe ich seit vielen Jahren nicht mehr gemacht, aber heute konnte ich nicht anders, als wir auf dem Rückweg am Hauptfriedhof vorbeigekommen sind. Luz fragt nicht weiter nach.
Eigentlich steht mir der Sinn nach Schlafen, aber es gibt noch etwas zu tun. Ich hole uns Ramazotti und Eis. Luz fährt den Rechner hoch.
Zuerst schauen wir bei der Seite der WAZ vorbei, aber da ist nicht das, worauf wir warten. Luz hat heute vorher auch schon mehrmals geguckt, aber da passiert bisher nichts. TomTom war gestern unterwegs und hat aus dem Ordner, den es zwar eigentlich nicht gibt, der aber trotzdem aus Seelmanns Büro verschwinden konnte, ein paar Dokumente gescannt. Dokumente, aus denen eindeutig hervorgeht, dass der Seelmann da mit dem Gewerkschaftshaus was dreht und dass er dabei Unterstützung hat. Dokumente, mit denen sie eine fundamentierte Fortsetzung des Berichts vom letzten Donnerstag schreiben können. Wenn sie denn wollen. Eine Fortsetzung, die von Seelmann und der Verwaltung nicht so leicht ignoriert und dementiert werden kann. Warten wir ab, ob sie wollen. Vielleicht auch, ob sie sich trauen. Oder ob vielleicht Parteisoldaten schon im Vorfeld für Frieden sorgen.
Danach widmen wir uns dem uns total unbekannten Gerd Wolsch. Wir stöbern in den Social Media. Mir fällt auf, wie geschickt Luz dabei inzwischen vorgeht. Sie hat da in den letzten Tage Erfahrung gesammelt und die setzt sie jetzt ein. Wir finden dabei zwar nichts, aber wir haben auch nicht viel Zeit darauf verschwendet, nichts zu finden. Ich küsse sie. Weil ich es darf. Weil nur ich es darf.
Also Google. Und die Bildersuche zeigt uns schnell, das wir zumindest nicht ganz falsch unterwegs sind. Wir finden ein Bild, das einen der Männer zeigt, den wir vor dem Puff fotografiert haben. Und wir finden eine Adresse und eine Telefonnummer. Ansonsten scheint er bei einer Krankenkasse zu arbeiten. Keine Ahnung, ob das wirklich interessant ist, aber es scheint nun mal so zu sein.
Dann stöbern wir hier und gucken da. Wir finden ganz viele tolle Sachen und was auch immer, aber nichts, was uns auch nur einen Schritt weiterbringt. Ein neuer Ramazotti muss her. Mit Eis. So wie wir ihn mögen.
Die Gläser bimmeln.
Wir sind kurz davor aufzugeben, als Luz noch mal die Eingabe im Suchfeld leicht verändert. Die Trefferleiste bleibt ähnlich. Die meisten Seiten haben wir schon besucht, das zeigt uns die Farbe der Links. Wir wandern so durch das Suchergebnis. Plötzlich sehe ich einen Eintrag, der mich sofort ganz dolle interessiert.
„Da, der dritte von oben. Klick da mal drauf. Ich glaube, das ist was für uns.“
„Das ist eine Traueranzeige.“
„Sehe ich auch, jetzt klick schon.“
Sie klickt. Die Anzeige öffnet sich. Ein gewisser Ludwig Wolsch ist gestorben. Ist aber schon ein paar Jahre her. Ich lese. Ich nicke. Das ist es. Ich grinse Luz an.
„Das ist wohl der Vater von diesem Gerd Wolsch. Das ist aber nicht wichtig. Interessant ist die Schwester vom guten Gerd. Die Anne, die diesen Herbert Stupski geheiratet hat. Und er ist ein recht hohes Tier im Personalamt. Und ich denke nicht, dass es Männer, die Herbert Stupski heißen wie Sand am Meer gibt.“
Laut der Online-Ausgabe vom Örtlichen gibt es genau einen.
Während ich den Rest vom Ramazotti auf unsere Gläser verteile, schreibt Luz eine Mail. An die Sprayer. Mit den Adressen von Gerd Wolsch und Herbert Stupski.
Sie führt den Mauszeiger zum Senden-Button. Sie strahlt mich an. Mit dem Lächeln, das Granit schmelzen kann.
In ihren Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut.
Die Gläser bimmeln.

Versendet.

***
Am Freitag geht es weiter.

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