Sonntag, 29. Januar 2017
19 Rosetta Stone “Adrenaline”
Freitag

Luz weckt mich. Zehn Uhr. Das ist okay, obwohl ich noch vollkommen erschlagen bin. Es riecht gut. Es duftet. Nach katalanischem Omelett. Ich wanke in die Küche. Tatsächlich. Katalanisches Omelett. Lecker. Und dazu Kaffee. Schön schwarz. Schön stark. So wie ich ihn mag.
Sie lächelt mich an und zeigt auf die Leckereien.
„Du musst ja gleich fit sein, wenn du den OB besuchen gehst. Pete hat auch schon geschrieben, dass er seine Quelle angesaugt hat. Der ist heute den ganzen Tag im Haus.“
Wie es scheint war Petes Vorschlag auf Zustimmung gestoßen. Aber welche Quelle hat er da angesaugt? Da weiß ich jetzt gar nicht Bescheid, da bin ich neugierig, da muss ich doch mal den Bohrer ansetzen. Siouxsie und DreiElf scheiden auf jeden Fall aus.
Omelett und Kaffee. Keine Rasur. Rasieren ist immer optional. Duschen ist Pflicht. Abmarsch.

Im Rathaus sofort Richtung viertes OG. Eliteetage. Da sitzen die ganz großen kommunalen Meister. Ich stehe unter Strom. Zu wenig Schlaf, zu viel Kaffee und reichlich Adrenalin. Besser ich treffe unterwegs nicht meinen Vater, sonst könnte meine Mutter womöglich gar Witwe werden. Ich bin eindeutig überdreht und phantasiere auch schon.
Auf dem letzten Treppenabsatz hängt ein großer Spiegel, vor dem ich abrupt bremse. Ich sehe recht mitgenommen aus. Totenblass, dicke Ringe unter den Augen, unrasiert. Wird durch die schwarzen Klamotten noch verstärkt. Egal. Muss ich jetzt mit leben. Wird bestimmt wieder besser. Schlaf könnte da hilfreich sein.
Vor dem Vorzimmer des OB halte ich einen Augenblick inne und sammele meine Gedanken. Damit bin ich schnell fertig. Viele davon sind gerade nicht da, aber alle, die ich gleich brauchen werde. Heftig und mit viel Radau öffne ich ohne zu klopfen die Tür.
Die Tuse vom OB wirkt irgendwie überrascht, verschreckt und verwirrt, als sie erkennt, wer denn da reinkommt. Alles gleichzeitig. Und auch abwechselnd. Das Mienenspiel ist nett anzusehen. Sie scheint etwas hilflos und greift dann zum Terminkalender.
„Nicht nötig, da stehe ich nicht drin. Und sonst, alles fit im Schritt?“
Die Tuse wird knallrot und droht zu platzen. Mit einer solchen Respektlosigkeit kann sie nicht umgehen. Sie kann die Lage an sich auch nicht einschätzen und weiß nicht, wie sie im Moment reagieren soll. Jetzt langt sie nach dem Telefon.
„Auch nicht nötig, ich melde mich selber an.“
Schon habe ich das Zimmer durchquert und reiße die Tür vom obersten Meister auf. Anklopfen habe ich irgendwie vergessen.
„Da habe ich doch schon ein herein gehört, bevor ich klopfen konnte. Einen schönen Tag ihr zwei.“
Außer dem OB ist noch ein zweiter Typ da. Ein bekanntes, aber nicht unbedingt beliebtes Gesicht der Verwaltung. Der Stadtkämmerer. Beide sehen nicht so aus, als würden sie meiner Bewertung des Tages zustimmen. Schön ist auch relativ, was einem gefällt, muss für andere nicht auch was sein.
Beide starren mich an. Der Kämmerer eher irritiert, ein bisschen Richtung wütend. Der OB ist vollkommen entsetzt und vielleicht auch verängstigt. Mit mir hat er nicht gerechnet. Und er freut sich auch nicht. Unser letztes Treffen in diesem Raum hat ihn schon nicht glücklich gemacht. Im Gegensatz zu ihm, weiß ich auch schon, dass es heute in der Hinsicht nicht besser für ihn wird. Die Bilder werden ihm nicht gefallen. Dabei ist er ganz gut getroffen.
„Herr Krawallek, sie kommen leider sehr ungelegen. Ich habe wirklich gerade keine Zeit.
Die ungewohnte Höflichkeit mir gegenüber gehört wohl zu den Nachwehen unserer letzten Begegnung. Er will keinen Ärger mit mir. Hat er aber schon. Können wir auch gerade nicht ändern. Wollen wir auch gerade nicht. Zumindest ich nicht.
„Oh, ich denke doch.“
Auf meinem Handy habe ich schon das beste Bild von gestern ausgewählt. Ungerührt gehe ich zu seinem Schreibtisch und halte ihm das Telefon so hin, dass er das Foto gut sehen kann, der Kämmerer aber nicht. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie der neugierig, aber vergebens den Hals reckt.
Alle Farbe entweicht seinem Gesicht. Er schaut mich an. Mein Gesichtsausdruck ist vollkommen reglos. Das kann ich wirklich gut. Der Kämmerer ist interessiert, weiß aber gar nicht was ab geht. Er kramt nach seinem eigenen Handy.
„Nicht nötig, es ist alles in Ordnung, aber ich muss unseren Termin leider beenden.“
„Bitte?“
Jetzt ist der Kämmerer vollkommen von den karierten Socken. Dass für ihn jetzt hier Feierabend ist, hat er so gar nicht auf dem Schirm gehabt. Er mustert mich ganz genau und ich kann quasi sehen, wie er sich meinen Namen ins Hirn meißelt. Er wird einen Grund suchen, ein Gespräch mit mir zu führen. Und er wird einen finden. Radio Flur berichtet schon länger, dass er auf den Job an der Spitze der Verwaltung scharf ist. Und zwar so schnell wie geht. Zur Not auch ohne Wahlen. Radio Flur verfügt bei so was über gute Quellen.
Jetzt sind wir beide unter uns. Der OB lächelt mich an. Jetzt wird es langsam peinlich.
„Herr Krawallek, wir müssen reden.“
„Aber nicht hier. Draußen.“
Ich gehe entschlossen zur Tür. Er dackelt hinter mir her. Wir betreten das Vorzimmer. Die Tuse wirkt schockiert.
„Frau Schulz, alles ist gut.“
Das glaubt sie ihm nicht, aber das glaubt er sich selbst auch nicht. Im Gang will er Richtung Fahrstuhl, aber ich deute auf die Treppe. Soll er mal weiter mit mir her wandern, mir ist nach Bewegung. So zieht unsere Zwei-Mann-Prozession Richtung Hauptausgang. Ich vorneweg mit unbewegter Miene, er hinterher mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern.
Alle, denen wir begegnen, blicken ungläubig und neugierig in unsere Richtung, aber keiner traut sich was zu sagen. Als wir auf dem Vorplatz kommen, sind hinter einigen Fenstern Gesichter zu sehen. Manche machen auch schnell Fotos. So ist das im dritten Jahrtausend. Nicht nur der große Bruder beobachtet dich, sondern alle anderen ebenso. 1984 ist auch schon über dreißig Jahre her.
Kurz danach sind wir da, wo ich hin will. Ein Hinterhof, in dem ich alles gut im Auge behalten kann. Zuhörer sind nicht erwünscht.
„Na, wie war es denn im Puff. Schön einen weggesteckt?“
Er will was sagen, aber ich bin schneller.
„Ich glaube nicht, dass es ums poppen gegangen ist. Sondern um irgendwas anderes. Aber ob ihre werte Frau Gemahlin das denn auch glaubt, wage ich ganz dolle zu bezweifeln. Auch bei vielen anderen bin ich da nicht unbedingt zu hundert Prozent sicher.“
„Herr Krawallek, wissen sie was ich nicht verstehe?“
„Kantonesisch?“
Er schaut mich ratlos an. Running Gags funktionieren nur bei Eingeweihten. Das ist er aber nun wirklich nicht. Rein gar nicht. Wird er auch nicht werden. Ich schweige, er bekommt noch eine Chance.
„Herr Krawallek, was wollen sie eigentlich?“
„Weltfrieden wäre schön. Und sauberes Trinkwasser für alle Menschen auf der Welt.“
Wir beide funken offenkundig nicht synchron. Zumindest entnehme ich das seinem Gesichtausdruck. Das verstehe ich nicht, denn es gibt wohl mindesten eine Milliarde Menschen auf diesem Planeten, die mir sofort begeistert zustimmen würden.
„Worum ging es gestern da im Puff?“
„Nicht um das Gewerkschaftshaus. Etwas vollkommen anderes.“
Seltsam, aber ich neige dazu im zu glauben.
„Worum genau?“
„Das möchte ich Ihnen wirklich nicht sagen. Sie haben da auch nichts von. Und in der Hand haben Sie mich mit den Bildern sowieso schon. Wahrscheinlich sind die auch schon bei der Presse und für mich hat sich meine Ehe und meine Karriere da drüben erledigt.“
Bei den letzten Worten gestikuliert er vage Richtung Rathaus. Dabei beobachte ich ihn genau. Er weiß ja, dass mir was am Gewerkschaftshaus liegt, da hätte er was angeboten, um zu retten, was vielleicht noch zu retten ist. Hat er aber nicht. Wahrscheinlich weil er nichts anzubieten hat. Also schlage ich eine andere Richtung ein.
„Die Bilder sind nicht bei der Presse. Die sind nur bei mir. Und da können die auch bleiben. Irgendwas läuft mit dem Gewerkschaftshaus, was wissen Sie darüber.“
Das ganze Thema hat ihn scheinbar tatsächlich bisher nicht ernsthaft interessiert. Er klaubt das zusammen, an was er sich so erinnert.
„Es ist wohl der Plan gemacht worden, dass, wenn die Erbengemeinschaft den Pachtvertrag kündigt, versucht werden soll, den Denkmalschutz loszuwerden und dann das Grundstück zu verkaufen. Das würde dem Etat gut tun. Unter dem Aspekt habe ich das nur beurteilt. Deshalb habe ich auch keinen Einwand erhoben.“
„Wer hat sich das ausgedacht? Mit wem haben Sie da gesprochen?“
„Ich weiß es nicht mehr, ich spreche jeden Tag mit so vielen Menschen. Und das ist schon einige Monate her. Vielleicht kann ich dazu noch mehr in meinem Terminkalender finden.“
Er macht eine kurze Pause.
„Allerdings habe ich jetzt auch den Eindruck, dass da was im Busch ist. Es existiert auch keine Ausschreibung, aber es gibt bereits einen Preis. Das läuft also nicht richtig. Da kann ich Einspruch erheben und die Sache aufhalten.“
Mehr gibt es hier jetzt nicht mehr rauszuholen. Ich habe jetzt auch genug von ihm.
„So weit, reicht mir das im Moment. Ich will wissen, wer da damals die Sache angeleiert hat. Sonst ist erst mal alles klar. Wenn Sie mir was dazu mitteilen wollen, meine Nummer steht im allgemeinen Verzeichnis.“
„Herr Krawallek, kann ich denn was für Sie tun? Möchten Sie einen besseren Job? Oder was anderes?“
Er wirkt vollkommen hilflos und greift nach einem Strohhalm. Ich winke ab und schüttele den Kopf. Halb im weggehen drehe ich mich in guter alter Inspektor Colombo Manier wieder ein wenig zu ihm um.
„Und wenn ich doch noch wissen will, worum es gestern im Puff gegangen ist, werde ich Sie fragen.“
Dann bin weg. Ich will Kaffee. Ich gehe ins Cafe.

Das Handy hatte ich ausgestellt. Jetzt sehe ich, mehrere Anrufe von Siouxsie und DreiElf. Ich rufe sie zurück, sie wollen wissen, wo ich bin. Ich sage ihnen das. Das ist kein Geheimnis, ich bin ja nicht zur Fahndung ausgeschrieben. Zumindest bis jetzt nicht. Zumindest nicht so weit ich weiß. Es dauert nicht lange, dann sind beide da. Die Zustände in der Stadtverwaltung werden immer seltsamer, alle kommen und gehen scheinbar wie sie gerade wollen.
Die zwei setzen sich zu mir. Grüße von Pete. Wir bestellen Kaffee, ich zusätzlich einen Grappa. Vielleicht bringt mich der etwas runter, ich laufe immer noch sehr hochtourig. Wir sitzen da so schön in aller Stille, bis Siouxsie das Schweigen nicht mehr durchhalten kann.
„Waller, was hast du da abgezogen? Das Rathaus kocht über. Wärst du zurück gekommen, hätten dir die Massen zugejubelt und zu Füßen gelegen. Du hättest zur Revolution aufrufen können, viele wären dir gefolgt.“
„Du hast den ganz schön gedemütigt.“
DreiElf hat da wohl nicht Unrecht.
„Das war ja jetzt alles so nicht mit Absicht. Das hat sich eher so ergeben. Als ich in seinem Büro war, wusste ich, dass ich da nicht reden wollte. Keine Ahnung, ob seine Tuse oder wer auch immer da seine Ohren im Raum hat. Deshalb wollte ich nach draußen. Da wo wir Ruhe haben. Dass der dann wie so ein Büßer hinter mir her eiert, das habe ich aber gar nicht erwartet.“
Dann erzähle ich den beiden über unser lauschiges Gespräch im Hinterhof. Siouxsie verzieht skeptisch das Gesicht.
„Und du glaubst ihm?“
„Ja, schon. Der hat versucht zu retten, was vielleicht noch zu retten ist. Und wenn wir wollen, können wir ihn jederzeit besuchen. Er wird uns nicht abweisen.“
Wir nehmen noch Kaffee. Den Schnaps lass ich weg. Hat nicht geholfen. Wir drehen die ganzen Infos noch mal von links nach rechts und dann wieder zurück. Die zwei sind im Aufbruch, als mir noch was einfällt.
„Was ist jetzt eigentlich mit dem Schmitz und dem Klein?“
„Unverändert. Der Klein ist vom Chef beurlaubt. Der darf das Rathaus auch nicht betreten. Der fragt sich bestimmt immer noch, was ihm da eigentlich passiert ist. Er hatte ja keine Spuren hinterlassen, aber plötzlich waren welche da.“
Jetzt grinst er wieder diabolisch. So wie Mittwoch, als er Pete und mir darüber berichtet hat. Der Klein ist wohl nicht sein Typ.
„Aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen heißt es, er möchte dazu nichts sagen. So absolut nichts. Kein Kommentar. Der Chef will da aber am Ball bleiben.“
Dann macht er eine kurze Pause und schmunzelt in sich hinein.
„Der Schmitz geistert immer noch durchs Gebäude. Gegen den hat bisher keiner was vorgebracht. Aber der ist verunsichert. Noch mehr, seit der Klein aus dem Spiel genommen worden ist. Der macht sich dolle Sorgen. Und weiß gar nicht weswegen und wegen wem. Außer natürlich wegen dir. Und das wird durch deine Show bestimmt noch geschürt.“
Siouxsie und DreiElf ziehen ihre Jacken an.
„Tut mir einen Gefallen, wenn ihr wieder zurück seid. Sagt niemandem, dass ich hier bin.“
Siouxsie schüttelt mitleidig den Kopf und nickt in Richtung einiger Nachbartische. Mein Blick folgt ihrem Nicken. Dort sitzen zwei Frauen, die ihre Smartphones in der Hand halten und mehr oder weiniger unauffällig zu mir rüber gucken. Okay, da spielen die Social Medias wohl nicht ganz mit. Die Menschheit beginnt mein Leben zu teilen. Vielleicht auch zu liken. Oder eben auch nicht.
Für einen kurzen Augenblick überlege ich, die Nerven zu verlieren, entscheide mich aber dagegen. Der Zeitpunkt ist ungünstig und so was wirkt auch uncool.
Ich verlange die Rechung und auch die Kellnerin sieht mich mit ganz anderen Augen an, als vor einer halben Stunde. Wir machen uns weg. Draußen piepst mein Handy. Der Akku ist fast leer. Ich kann gerade noch sehen, dass einige SMS eingegangen sind. In etwa so viele, wie sonst in einer Woche. Ich will eine öffnen, aber das Display wird schwarz. Der Akku ist leer.

„Oh, Robin Hood, der Rächer der Enterbten, der Beschützer von Witwen und Waisen ist endlich wieder zurück im heimischen Forest.“
Meine Gefährtin spottet. Ich küsse sie trotzdem. Weil ich es darf. Weil nur ich es darf. Bevor sie noch was sagen kann, hebe ich abwehrend die Hände. Ich brauche ein, zwei Augenblicke um mich zu sammeln. Auch wenn sie vor Neugierde fast platzt, gibt sie mir die zehn Minuten, die ich ganz dringend benötige. Sie nutzt diese Zeit und sucht lange nach einer passenden CD. Und da hat sie dann auch richtig gut gewählt. „What Does Anything Men? Basically” von The Chameleons. Seit dem ersten Hören mag ich dieses Album total. Und dieses erste Hören ist inzwischen fast dreißig Jahre her.
Und dann erzähle ich ihr den ganzen Kram. Vom OB. Vom Kämmerer. Vom Besuch im Cafe. Alles eben. Und während ich es erzähle, wird auch mir langsam klar, was ich da wirklich gemacht habe. Dann sehe ich sie sehr nachdenklich und sehr fragend an.
„Hast du wenigstens die ganzen SMS gelesen?“
„Nein, der Akku war alle.“
Sie braucht nichts zu sagen, ich kann es in ihrem Gesicht lesen. Typisch Waller. Geht los, mischt die Welt auf und das alles mit einem nicht richtig geladenen Akku.
„Du hast einiges verpasst. E-Mail und Internet hättest du mit dem Antikteil aber eh nicht abrufen können. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Willst du erst was über deine Heldentat hören oder über das, was sonst noch so war?“
Sie holt uns noch einen Kaffee und den Aschenbecher. Ich drehe uns zwei Zigaretten und zünde sie auch an. Sie nimmt eine davon. Da ich nichts sage, entscheidet sie.
„Dann mal erst den ganzen Rest. Pete hat ja eure Bilder von letzter Nacht verschickt und Zeus hat einen der Typen erkannt. Ralf Schneider, den damaligen Besitzer von Zeus Records. Er hat auch schon mal gegoogelt. Der hat jetzt mit seiner Frau eine Versicherungsagentur.“
Das klingt ja wirklich nicht uninteressant. Seine Frau wäre bestimmt auch nicht so unbedingt begeistert, wenn sie von seinem Ausflug erführe Vielleicht kann der uns ja ein paar Fragen beantworten. Wenn wir womöglich mal welche haben, auf die er Antworten haben könnte.
„Bleiben wir noch beim Puff. Stefanie hat Snake angerufen. Das „Salome“ hat heute per Mail die Rechnung geschickt. Die 3000 Euronen haben nicht gereicht, das hat noch 350 mehr gekostet. TomTom meint, es wäre ganz nett zu wissen, was man für diese Menge Kohle im Puff so bekommt. Er denkt, dass dieser Ralf Schneider uns da vielleicht gerne Auskunft zu geben würde.“
TomTom ist clever, er kann schnell denken. Und schon haben wir die erste Frage, die wir dem guten Mann stellen können.
„Und wenn die jetzt die Rechnung gestellt haben, könnte es auch gut sein, dass wir in einer der beiden Nächte den Typ fotografiert haben, für den Seelmann da so ausgesprochen großzügig bezahlt hat.“
Messerscharf kombiniert. Ich muss wieder an den Mann denken, der nach dem OB da noch rausgekommen ist. Der muss lange da drin gewesen sein. Für mehr als 3000 Ocken kann man auch einiges erwarten. Oder er gehört halt doch zum Personal.
Luz zieht den Laptop zu uns rüber. Sie zeigt mir das Foto von Ralf Schneider. Erinnern kann ich mich nicht an ihn, aber es war ja auch eigentlich immer Zeus in dem Laden. Danach schauen wir uns noch mal alle Bilder aus den beiden Nächten an. Das Ergebnis bleibt. Wir erkennen sonst niemanden.
„Gibt es ein Bild, wie der Typ reingeht, der nach dem OB rausgekommen ist?“
„Nein, gibt es nicht. Entwerder war der sehr, sehr zeitig da und ist dann halt lange geblieben. Oder es gibt noch einen Eingang. Oder er gehört wirklich zum Personal.“
„Vielleicht macht es Sinn, den Schneider nach dem Typ zu fragen.“
„Klingt gut. Aber jetzt wollen wir uns mal dir widmen.“
Sie grinst mich breit an. Dann öffnet sie im Blog den neuesten Eintrag. Dieser zeigt nicht wie sonst Stellen, an denen der VOD-Schriftzug angebracht worden ist. Es verschlägt mir die Sprache. Ich starre auf den Bildschirm und glaube nicht, was ich da sehe.
Oben steht: Wir verneigen uns vor dir!!. In Schablonenschrift. Auf die Details achten. Wie es sich bei denen gehört. Da sind sie echt pingelig.
Darunter kommt ein eingebettetes Youtubevideo. Das Standbild sagt mir schon genug, aber ich klicke trotzdem auf den dicken Pfeil zum Abspielen. Ich sehe, wie ich mit dem OB im Schlepptau den Vorplatz vom Rathaus überquere. Dass das so krass wirkt, hätte ich nicht gedacht. Demütigend. Nicht für mich. Aber für ihn.
Ansonsten gibt es noch ein Bild. Eine Fotomontage. Eine hervorragend gemacht Fotomontage. In Schwarz weiß. Zwei Personen sind zu einer verschmolzen. Das eigentliche Gesicht kenne ich sehr gut. Das sehe ich immer, wenn ich mich rasiere, im Spiegel. Der Rest drum herum – Jackenkragen, Haare und die unverkennbare Mütze – ist nicht von mir. Von wem das ist, wissen aber leider nur sehr wenige. Der Rest ist von Buenaventura Durruti. Darunter steht „Brüder im Geiste“. In Schablonenschrift. Wie es sich gehört. Wie auch sonst.
Meine Suche nach Worten verläuft erfolglos. Es fühlt sich an als sei der Ort in meinem Hirn, an dem sich das Sprachzentrum bisher befunden hat, implodiert. Zumindest das Denken scheint aber noch zu funktionieren. Besser als nichts. Falls mir was einfällt, kann ich dann ja versuchen, das aufzuschreiben. Sofern das Schreibzentrum nicht auch implodiert ist.
Luz sieht mich an und fängt an zu lachen.
„Waller, alles gut mit dir? Du guckst so hektisch. Krieg dich wieder ein.“
Sie schiebt mir den Tabak rüber. Drehen geht noch, rauchen auch. Sprechen nicht. Sie mustert mich intensiv.
„Ansonsten wissen seit heute alle, die dich bisher nur vom sehen kannten, wie du heißt. Eigentlich wissen jetzt ganz viele, wer du bist. Habe mich bei Facebook umgesehen und viel Spaß gehabt. Sollen wir uns die besten Bilder und Kommentare angucken?“
Kopfschütteln. Sprechen geht immer noch nicht.
„Die WAZ hat sich gemeldet. Die sind auf dem AB und möchten, dass du zurückrufst und ein Interview gibst. Das Lokalradio natürlich auch. Interesse?“
Kopfschütteln. Sprechen geht immer noch nicht.
„Da ist auch schon ein Bericht für die Ausgabe von morgen online. Michael Krawallek. Groß im Lokalteil. Deine Eltern werden sich freuen. Besonders dein Vater, oder?“
Kopfschütteln. Sprechen geht immer noch nicht.
Sie steht auf und holt mir noch einen Kaffee. Dann schweigen wir beide.
Das Telefon klingelt. Das Display zeigt den Namen meiner Eltern. Wir lassen es einfach weiter klingeln. Der AB macht seinen Job und sagt seinen Spruch. Die LED für Aufnahme ist nur kurz an. Luz drückt die Wiedergabetaste. Die Stimme meines Vaters. Ganz kurz. Nur eine Frage.
„Bist du jetzt vollkommen bekloppt geworden?“

Allerdings eine ziemlich sinnvolle Frage.

***
Am Freitag geht es weiter.

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