Montag, 23. Januar 2017
17 Trisomie 21 “The Story So Far”
Mittwoch

Gespannt gucken Pete und ich in die Zeitung. Aber kein Bericht über das Gewerkschaftshaus und den Besuch bei Nick. Auch in der Onlineausgabe gibt es nichts darüber zu lesen. Arbeiten die noch dran oder hat sich das für die erledigt? Vielleicht gibt es auch Druck von der Stadtverwaltung und die sollen nichts veröffentlichen. Man weiß nie, wer wem noch einen Gefallen schuldig ist. Oder wer welches Parteibuch hat.
Dafür finden wir einen neuen Eintrag im Blog. Bestimmt zu Tobias Klein. Und noch einen weiteren. Pete und ich schauen uns an. Wir klicken den ersten an. Ein Wohnhaus. Unspektakulär. Der Schriftzug ist am Behälter für die Mülltonnen aufgesprüht. In Schwarz. In Schablonenschrift. Saubere Arbeit. Gut lesbar.
Dass der erste Eintrag die Hütte, in der Tobias Klein wohnt, gezeigt hat, wird sofort klar, als wir den zweiten Eintrag öffnen. Denn dieser ist eindeutig. Darauf ist das „Salome“ zu sehen. Der Puff am Stadtrand. Kein Zweifel. Die Beschriftung über dem Eingang sagt alles. Und das in rotem Neonlichtern. Das war mit Sicherheit kein leichter Job. Deshalb gibt es auch gerade einmal zwei Fotos. Eins von der ‚Entstehung und eins, als alles fertig ist. Die haben den VOD-Schriftzug auf der anderen Straßenseite an einen rostigen Container besprüht. In Schwarz. In Schablonenschrift. Und das Teil haben sie dann mit dem Gebäude zusammen geknipst.
Das haben wir aber gar nicht auf der Rechung gehabt. Pete runzelt seine Stirn, während ich mich erhebe.
„Ich glaube, das sehe ich mir mal aus der Nähe an.“

Kraft des mir hoffentlich nur vorrübergehend gegebenen Amts habe ich einen Außentermin für mich angesetzt. Besichtigung der Sportanlage Mitte-Süd. Und wie es der Zufall will, grenzt diese Sportanlage an der einen Seite an das Grundstück vom „Salome“. Bisher kenne ich die Gegend da eher nur vom vorbeifahren.
Ich bin mit dem Wagen von Pete unterwegs und stelle den auf dem Parkplatz vom Baumarkt ab. Von hier sind es geschätzt 600 Meter bis zum Puff. Die Ansammlung von Autos der Stadtwerke erinnert mich daran, dass es hier eine sensationell gute Paprikafrikadelle gibt. Ich gönne mir eine. Und eine Zigarette danach.
Die Stöpsel vom MP3-Player in die Ohren. Ich scrolle durch die Liste und suche etwas, was zur Stimmung und zum trüben Wetter passt. Erst weit unten in der Liste werde ich fündig. The Twilight Sad „Fourteen Autumns & Fifteen Winters”. Nicht nur der Titel passt super, auch die Musik dieser phantastischen, aber beinahe vollständig unbeachteten schottischen Band, ist jetzt genau das, was ich will.
Dann latsche ich los. Bis zum Puff gibt es kaum etwas. Keine Wohnhäuser, nur ein paar Firmen. Manche sind längst geschlossen und gammeln so vor sich hin, andere noch in Betrieb. Ab spätestens sechs Uhr ist die Straße tot. Da muss keiner hin. Da gibt es nichts. Außer natürlich das edle und teuere „Salome“.
Das ganze Grundstück vom Puff ist mit einer mehr als zwei Meter hohen Mischung aus Mauer und Metallzaun umgeben. Das soll keiner rein, der nicht durch das Tor kommt. Verständlich, Diskretion gehört zum horizontalen Geschäft. Am Tor stehen zwei recht kitschige Statuen irgendwelcher Göttinnen. Ansonsten halt ein Bungalow. Mit verdunkelten Fenster. Es scheint geöffnet, obwohl wir späten Vormittag haben. Wahrscheinlich für den solventen Herrn mit Tagesfreizeit. Und mit Kleingeld. Zur Not auch in großen Scheinen.
Die Besichtigung der Sportanlage hätte ich mir in jeder Beziehung schenken können. Die grenzt zwar an den Puff, aber da sind Büsche, Mauern und Zäune zwischen. Es lässt sich noch nicht mal ein noch so kleiner Blick werfen. Also zurück. Auf der anderen Straßenseite. Unauffällig gucke ich mir den Container und seine Aufschrift an. Respekt dafür, das war bestimmt nicht leicht.

Pete sitzt bei mir im Büro. Wir schlürfen Kaffee. Die Tür ist nur angelehnt. Auf dem Gang ist eine Stimme zu hören.
„Hallo! Ich suche das Büro von Herrn Krawallek. Er hat ein Problem mit seinem Computer gemeldet, das haben wir aber per Fernwartung nicht beheben können.“
Eindeutig DreiElf. Wir sehen uns an. Ganz hoher Besuch. An einen Computernotruf können wir uns nicht erinnern. Er wird einen sehr guten Grund haben, hier so unvermittelt aufzutauchen. Und er wird den uns bestimmt auch mitteilen. Wir warten gespannt.
Eine weibliche Stimme antwortet ihm.
„Wer auf dem richtigen Weg ist, findet sein Ziel auch ohne fremde Hilfe.“
Da ist er jetzt ausgerechnet auf Judith getroffen. Bei der Stadt nehmen sie aber auch fast jeden. Judith, Pete, sogar mich. Die Antwort wird ihm nicht unbedingt weiterhelfen. Das macht dann aber Pete.
„Zweite Tür links.“
„Danke.“
Dann steht er kopfschüttelnd in der Tür und blickt über seine Schulter hinweg Richtung Judith. Wir kennen das, wir winken ab.
„Wisst ihr, was ich nicht verstehe?“
„Sorbisch?“
Er guckt etwas irritiert. Schaltet aber schnell. Er ist ein echter Held der EDV. Und ebensolche sind unglaublich geschickte Geistesakrobaten. Manche können sogar Gedankensaltos mit doppelter Schraube.
„“Richtig, überhaupt nicht. Obwohl es Amtssprache in unserem Land ist. Aber ich meine eigentlich, dass Judith jetzt bei euch ist. Die war doch mal im Vorzimmer vom Vorgänger von unserem verehrten OB.“
Das habe ich bis gerade nicht gewusst. So wie Pete guckt, er auch nicht. Das Mädel ist vor drei, vier Jahren zu uns gekommen. Unser Amt ist so was wie die Fremdenlegion der Stadtverwaltung. Die Vergangenheit zählt nicht. Man fängt wieder bei Null an. Man darf aber seinen Namen nicht ändern, muss im Gegenzug aber auch kein Französisch lernen. Seit sie bei uns ist, erfreut sie uns mit ihren wilden Weisheiten. Offenkundig hat sie früher auch noch andere Qualitäten gehabt. Welcher Art auch immer.
DreiElf sieht vollkommen verknittert aus, als wenn er in seinen Klamotten geschlafen hätte. Oder als wenn er wogmöglich sogar gar nicht gepennt hätte. Der ist ziemlich durch, da ist nicht mehr viel Spiel nach unten. Wir zapfen ihm erst mal eine ordentliche Tasse starken Kaffee. Er sieht aus, als hätte er die nun wirklich mehr als nötig.
„Danke Jungs, dann lasst uns mal raus gehen und ein ruhiges Eckchen suchen.“
Draußen ist es wirklich frostig, das habe ich bei meinem Trip zum „Salome“ schon ausgiebig feststellen dürfen. Mein Bedarf an frischer Luft ist eigentlich gedeckt. Aber DreiElf sieht überhaupt nicht so aus, als hätte er auch ein klitzekleines Interesse, darüber jetzt mit mir zu philosophieren oder zu diskutieren. Also halte ich schön das Maul und wir trollen uns in den Hof.
Er versucht sich eine Zigarette anzumachen, aber seine Hände zittern gewaltig. Vielleicht war es doch keine gute Idee, ihm noch weiteren Kaffee zu geben. Bevor ich ihm aber zu Hilfe kommen kann, hat er die Fluppe doch noch an gekriegt. Pete guckt ihn sehr skeptisch an, aber ehe er irgendwas fragen kann, setzt DreiElf an.
„Jungs, ich bin vollkommen kaputt.“
Gut, dass er das sagt. Da wären wir sonst nicht sofort drauf gekommen, obwohl er weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick auch nur annähernd wie das frisch blühende Leben aussieht.
„Bei uns war ja gestern schon die Hölle los, nachdem Nick und du beim Ordnungsamt wart. Und dann hat ja Luz das mit dem Klein rausgefunden und dann hatte ich ja für die Nacht ordentlich was zu tun.“
Er nimmt einen tiefen Zug und einen ordentlichen Schluck.
„Also habe ich mich hingesetzt und mir ein bisschen was überlegt. Will euch da jetzt nicht mit Details langweilen. Kurz gesagt, ich habe ein paar Dinge vorbereitet, um die dann später unauffällig ins System der Verwaltung reinpacken zu können. Was man da so machen kann. Halt so Eintragungen in Logfiles und Configdateien und anderes Zeugs in der Art. Damit diese Dateien dann quasi mit dem virtuellen Zeigefinger anklagend auf den Klein zeigen.“
Er nimmt noch einen tiefen Zug und noch einen ordentlichen Schluck. Seine Tasse ist fast leer, ich fülle da schnell aus meiner was nach. Weil ich noch nie so viele Worte in so kurzer Zeit von ihm gehört habe, bekomme ich Angst, dass da bei ihm drinnen irgendwas austrocknet. Nicht dass er womöglich bleibende Schäden, welcher Art auch immer, davonträgt.
Auch wenn Pete und ich nicht unbedingt wirklich verstehen, was er da gemacht hat, hängen wir total gebannt an seinen Lippen. Klingt wie aus einem Agentenfilm.
„Damit bin ich aber heute Morgen auch gerade so eben fertig geworden, so dass ich dann direkt ins Büro bin. Da war ich zwar vor den anderen und für meine Verhältnisse zeitig, aber nicht so früh, dass das irgendwem komisch vorgekommen ist. Wir haben ja gerade auch Ausnahmestatus. Den Kram habe ich dann ganz vorsichtig so in unser System gepackt, dass die beiden anderen das finden müssen. Das haben sie dann auch schön getan.“
Er nimmt noch einen tiefen Zug und noch einen ordentlichen Schluck. Er wirft die Kippe weg. Ich halte ihm sofort das Feuerzeug vor die Nase und er zündet sich eine neue an. Pete schüttet aus seiner Tasse Kaffee bei ihm nach. Wir wollen seine Routinen so lange laufen lassen, wie es irgendwie geht. Nicht dass das System DreiElf plötzlich abstürzt und wir die Erfahrung machen müssen, wie sich ein Bluescreen bei einem leibhaftigen Menschen auswirken mag.
„Kurz hintereinander sind sie dann auch zum Chef rein und haben über ihre Entdeckungen berichtet. Schön ist ja, dass uns Billy The Gates ja Systeme beschert hat, in denen inzwischen keiner mehr weiß, was wo stehen kann, darf oder muss und was wo halt nicht.“
Er nimmt noch einen tiefen Zug und noch einen ordentlichen Schluck. Pete und ich tauschen Blicke, Kaffee ist jetzt alle.
„Dann hat der Chef den Klein in seinem Vorzimmer geparkt. Der war total irritiert und hat sich wohl gefragt, welche Fehler er gemacht hat.“
DreiElf grinst diabolisch. Er scheint in letzter Zeit schlechten Umgang zu haben. Ich beginne mir Sorgen um ihn zu machen. Er ist nicht mehr der Jüngste.
„Dann hat der Chef ein paar Sachen geklärt. Dem Klein sind dann alle Zugänge ins System gesperrt worden und er soll jetzt mal schön zuhause bleiben. Der sah irgendwie paralysiert aus, als er die Treppe runter ist. In unserer Abteilung und auch im Rathaus tobt so ein bisschen der Bär. Und dann habe ich mich mal unauffällig vom Acker gemacht. Ist auch keinem aufgefallen, da sie ja alle meine beiden Kollegen bejubelt haben. Die haben den üblen Gesellen ja absolut heldenhaft zur Strecke gebracht.“
Er grinst schon wieder diabolisch, dann nimmt er noch einen tiefen Zug und will die Tasse ansetzen. Auf halben Weg hält er inne und scheint sich zu wundern, dass er den Boden der Tasse sehen kann. Die Hand sinkt zurück. DreiElf hat fertig. Im Moment auch wirklich mit allem. Das Grinsen wirkt jetzt eher leicht verwirrt oder schon fast irre. Das System DreiElf ist dann doch abgestürzt. Ein einfacher Reset allein wird hier wohl nicht helfen.
Pete und ich sehen ihn anerkennend an, auch wenn er davon rein gar nichts mehr mitbekommt. Er steht einfach nur noch rum. Da hat er eine richtig geile Nummer durchgezogen. Wir müssen nicht groß reden, wir stellen uns beide die gleiche Frage. Ist Tobias Klein jetzt der große Zampano oder nur ein weiteres Zahnrad in der Maschinerie wie Carsten Schmitz? Pete tippt schon auf seinem Handy rum und aktiviert unsere Ohren im Rathaus.

Es ist inzwischen fast dunkel und noch kälter. Und ich bin schon wieder draußen. Im Moment stehe ich an einer Bushaltestelle, warte aber nicht auf den Bus. Dort lungere ich rum und friere, weil die sich etwa dreißig Meter vom Palast der beiden Blagen von Holger Schäfer entfernt befindet.
Luz und Nick wollten gerade los, um ihren Versuch zu starten, mit den Vögeln Kontakt aufzunehmen, als ich zuhause angekommen bin. Da haben sie mich gleich mitgeschleppt. Sie meinten, es wäre doch besser, wenn noch jemand da ist. Sicher ist sicher.
Also bin ich jetzt da. In beiden Haushälften brennt hinter mehren Fenstern Licht. Die beiden scheinen daheim zu sein. Luz hat mir ihr Handy gegeben, da mein alter Knochen nichts kann. Das Ding ist halt ein Telefon und mehr nicht. Jetzt beobachte ich die Gegend unauffällig sowohl über das Gerät hinweg als auch auf dem Display durch die Kamera. Ich versuche so auszusehen, wie jeder andere auch, der an irgendeiner Bushaltestelle irgendwo auf der Welt steht und sich die Wartezeit mit seinem Phone vertreibt.
Luz und Nick kommen die Straße entlang. Sie ignorieren mich vollkommen und ich würdige sie im Gegenzug auch keines Blickes. Sie steuern auf den Eingang von Martin Beier zu. Der wird dem Lächeln von Luz bestimmt nicht wiederstehen können. Luz wird wieder versuchen Granit zu schmelzen. Und das kann sie gut.
Luz drückt den Klingelkopf. Das Läuten ist bis zu mir zu hören. Die beiden warten. Es passiert nichts. Die beiden schauen sich an.
Luz drückt erneut auf den Klingelknopf. Die beiden warten weiter. Es passiert wieder nichts.
Luz drückt erneut auf den Klingelknopf. Genau in dem Moment wird die Tür aufgerissen.
„Seid ihr bekloppt? Was soll das?“
Ein Charmebolzen sondergleichen. Er hat Luz überrumpelt. Es dauert einen Augenblick, bis ihr Lächeln leuchtet. Von meinem Platz sieht es aus, als wäre der Typ davon absolut unbeeindruckt, aber ich bin ein ganzes Stück entfernt. Das täuscht bestimmt.
„Hallo Herr Beier, wir gehören zum „Mercy Seat“ und möchten gerne mit Ihnen reden. Können wir ...“
„NEIN!“
Er schneidet Luz sofort das Wort ab. Offenkundig hat mein Eindruck mich nicht getäuscht. Er muss aus einer ganz besonderen Sorte Granit bestehen. Aus einer unglaublich harten Sorte. Vielleicht ist er gar nicht von dieser Welt.
„Aber Herr Beier ...“
„Welchen Teil von NEIN hast du nicht verstanden?“
Die Tür wird zugeknallt. Luz wirkt konsterniert, Nick hingegen eher versteinert. Die beiden brauchen einen Moment, um sich zu sammeln. Dann rüber zum anderen Eingang. Vielleicht ist Frau Kaiser ja zugänglicher.
Ehe Luz den klingeln kann, wird die Tür geöffnet. War ja gerade auch laut genug.
„Was ist denn hier für ein Krach?“
Begrüßungsformeln scheinen nicht zum Wortschatz der beiden zu gehören, aber zumindest schreit sie nicht. Vielleicht auch nur noch nicht. Freundlich ist aber auch anders. Luz kann freundlich.
„Hallo Frau Kaiser, Herr Pozigalla ist der Wirt vom „Mercy Seat“ im Gewerkschaftshaus. Wir würden gerne mit ihnen reden.“
Nick kann auch freundlich. Sie ist ja keine staatliche Institution.
„Hallo Frau Kaiser.“
Frau Kaiser arbeitet jetzt im Misstrauensmodus. Mit dem Thema hat sie nicht gerechnet. Womit auch immer sie gerechnet haben mag. Sie geht aber sofort in die Defensive.
„Ich weiß nicht, was ich damit zu tun haben soll.“
Luz macht eine vage Handbewegung zur anderen Haushälfte.
„Sie und ihr Bruder haben ja den Pachtvertrag von ihrem Vater quasi geerbt. Und jetzt gibt es ja wohl Überlegungen den zu kündigen. Da sollten wir bitte drüber reden.“
Heike Kaiser schweigt und mustert Luz. Von oben bis unten. Danach schweigt sie weiter und mustert Nick. Von oben bis unten. Man sieht ihrem Gesicht an, wie ihr Hirn arbeitet. Auf diese Situation ist sie nicht vorbereitet gewesen und jetzt weiß sie nicht, wie sie hier geschickt wieder raus kommen soll. Sie schweigt, denkt und guckt von Nick zu Luz und wieder zurück.
„Also, ich weiß nicht, was Sie das angehen sollte, was ich so mache, aber Sie haben den Typ nebenan ja wohl kennen gelernt. Und je weniger ich mit dem zu tun habe, je besser. Und über diesen miesen Pachtvertrag kommt auch noch nicht mal Kohle rein.“
Sie merkt sofort, dass sie sich hat hinreißen lassen und mehr gesagt hat, als gewollt. Diese Infos wollte sie eigentlich den beiden nicht geben. So ist das mit den Emotionen.
„So, ich habe keine Zeit mehr. Auf Wiedersehen.“
Bevor Luz oder Nick noch etwas sagen können, ist die Tür zu. Die beiden schütteln die Köpfe. Die beiden sind harte Brocken. Harte Brocken aus ungewöhnlichem Granit. Aus ungewöhnlichem Granit mit unbekanntem Schmelzpunkt.

Abends sind wir alle im „Mercy Seat“. Wirklich alle. Außer DreiElf. Zum einen ist das „Mercy Seat“ nicht wirklich sein Laden und zum anderen hat Pete ihn heute, nach seinem Besuch bei uns, nach hause gebracht. Seitdem wird er wohl schlafen und vor morgen früh auch nicht wieder wach werden. Aber sonst sind alle da. Als Siouxsie und Zeus zusammen reinkommen, stupst Luz mich an. Das scheint jetzt zur Gewohnheit zu werden. Mir ist es recht. Gut für Zeus, gut für Siouxsie und auch gut für mich.
Wir haben uns in den hinteren Raum mit den beiden Kickern verzogen. Da ist es ruhiger und es kann niemand unbemerkt zuhören.
Es ist viel passiert. Es gibt viel zu erzählen. Die Kehlen werden trocken.
Nick bringt neue Getränke. Die Gläser bimmeln.
Snake wirkt nachdenklich und trommelt geistesabwesend mit den Fingern auf dem Tisch. Zeus wedelt mit den Händen vor seinem Gesicht.
„Alles klar, mein Bruder und Droog?“
„Nein, nicht alles. Wisst ihr, was ich nicht verstehe?“
„Serbokroatisch?“
„Stimmt, das auch nicht. Aber das meine ich gerade nicht. Mir lässt das mit dem Zeichen an dem Puff keine Ruhe. Wie sind die darauf gekommen?“
Jetzt herrscht Stille. Alle sehen ihn an. Das war vorhin auch schon ein Punkt, an dem wir nicht weiter gekommen sind. Sind dann aber darüber hinweggegangen.
„Ich bin mir da nicht sicher und ich sage das auch nicht gerne, aber ich vermute, dass die Stefanie da was mit zu tun haben könnte.“
Ehe es Proteste geben kann, redet er schnell weiter. Pete dreht die Augen zur Decke und danach in meine Richtung. Ich weiß, was er meint. Da hätten wir aber auch heute Morgen schon drauf kommen können. Aber vorhin hat das auch keiner so gesehen. Für uns war Stefanie eine Frau von Ehre.
„Den einzigen Zusammenhang zu dem Puff hat Stefanie am Telefon hergestellt. Wenn auch eher allgemein. Ansonsten gibt es da erst mal keine Verbindung. Und es war vorgestern, als sie uns das erzählt hat. Und letzte Nacht haben die dann schon das Zeichen dran gemacht.“
Alle lassen das erst mal sacken. Wenn Stefanie Kontakt zu den Sprayern hat, würde das einiges erklären.
„Dann rufen wir sie doch einfach mal an.“
Snake holt sein Handy raus und wählt. Er aktiviert den Lautsprecher. Es klingelt.
„Ah, hallo Snake.“
„Hi Stefanie, wir sitzen hier so zusammen und da überlegen wir gerade, wie die Sprayer auf den Puff gekommen sind. Und jetzt haben wir uns gefragt, ob sie das nicht genau wie wir von dir wissen könnten.“
So ist Snake manchmal. Direkt. Ohne Umwege. Jetzt schweigt er. Stefanie schließt sich ihm zunächst dabei an. Eine kleine Weile vergeht.
„Und wenn?“
Wir schauen uns an. Keine Reaktion, mit der wir gerechnet haben.
„Ich bin von mir aus zu euch gekommen, habe euch Infos gegeben und meine Hilfe angeboten. Falls – und ich sage ganz bewusst falls und nicht wenn – ich noch anderen Infos gegeben haben sollte, was spricht denn dagegen? Und in dem Fall, würde ich denen auch nicht sagen, dass ich euch Infos gegeben habe. Genauso wenig wie ich euch sagen würde, dass ich anderen Infos geben habe. Das hat auch was mit Schutz zu tun.“
Von uns kommt kein Widerspruch. Weil es keinen Widerspruch gibt. Wir verstehen sie.
Sie ist eine Frau von Ehre.
„Wo wir gerade vom „Salome“ sprechen. Da ist noch etwas. Heute musste ich da eine Vorauszahlung hinbringen. In einem Umschlag. Die wollten das vorher, weil es echt viel ist. 3000. Irgendwer darf da jetzt bald mal richtig einen drauf machen.“
Interessant.
„Ihr fragt euch bestimmt, warum ich das mache ...“
Ehe einer von uns was sagen kann, legt Siouxsie den Finger auf die Lippen und schüttelt den Kopf. Kein Wort. Abwarten Aber ohne Tee trinken. Tee steht im „Mercy Seat“ nicht auf der Getränkekarte.
„Ich will nicht, dass das Gewerkschaftshaus abgerissen wird. Das gehört zur Geschichte unserer Stadt und ist ein Mahnmal. Und so sollte es auch behandelt werden. Als ich Kind war, ist mein Opa da oft mit mir hingegangen und hat von früher erzählt.“
Die Blicke von Luz und mir treffen sich, als sie ihren Opa erwähnt.
„Mein Opa war noch sehr jung, als das mit dem dritten Reich los ging. Seine Brüder waren aber älter und auf Zeche. Und natürlich in der Gewerkschaft. Und im Gewerkschaftshaus haben sie sich getroffen und versucht, irgendwas zu tun. Bis die Gewerkschaften dann verboten wurden und in das Haus irgendwas von der Partei kam.“
Alle hören ihr aufmerksam zu. Kati bringt eine neue Runde Getränke. Die Gläser bimmeln dezent.
„Einer seiner Brüder starb dann im KZ, weil er Gewerkschafter war. Und ein paar andere auch, die mein Opa kannte. Und als ich alt genug war, hat er immer wieder gesagt, dass so was nie wieder passieren darf. Kein neues drittes Reich und auch kein viertes.“
Da hat sie zweifelsfrei Recht.
Wir verabschieden uns von ihr. TomTom schaut in die Runde.
„Das ist inzwischen ganz schön verworren. Ich versuche das mal zusammenzufassen. Unterbrecht mich, wenn ich falsch liege oder was vergesse.“
Wir fangen augenblicklich an ihm aufmerksam zuzuhören, auch wenn er noch gar nicht angefangen hat. Wenn das jemand gut hinbekommt, dann er.
„Fangen wir mal bei der Stadt an. Da haben wir den Schmitz. Das ist eine Pfeife, der kann nur ein Handlanger sein. Für eine Handvoll Euroscheine wird er den Kontakt mit Seelmann halten. So richtig was wissen wird der nicht. Der zweite Kandidat ist der Klein. Schon ein etwas größeres Kaliber. Meiner Meinung nach, aber auch nicht der Topstar. Der Klein ist ja erst mal aus dem Spiel. Da muss noch wer mit drin sein, der recht hoch in der Hierarchie ist. Der OB ist das so direkt aber wohl nicht, der freut sich wahrscheinlich nur, dass Kohle in den maroden Haushalt fließen soll. Der weiß, dass das nicht nach allen Regeln läuft, aber dass er da richtig die Finger drin hat, glaube ich nicht. Der will ja nächstes Jahr wieder gewählt werden.“
TomTom ist clever. Er kann schnell denken. Wir schweigen. Er nickt.
„Okay. Dann haben wir den Seelmann. Der ist ja wohl klamm und braucht ein Projekt, mit dem er Kohle machen kann. Da hat er wohl das Grundstück hier ins Auge gefasst und irgendwas eingestielt, damit er da dran kommt und dann bauen kann. So viel Geld, wie er schon da reingehauen hat, ist er wohl sicher, dass alles klappt und auch der Denkmalschutz wegkommt. Da könnte der Unbekannte bei der Stadt eine gewisse Rolle spielen. Und dann bezahlt er irgendwem auch reichlich für den Puff.“
TomTom guckt in die Runde. Zustimmendes Nicken. Er macht das gut.
„Beier und Kaiser, die beiden Erben. Scheinen ja total angenehme Zeitgenossen zu sein. Wie es scheint, wollen sie die Gelegenheit nutzen, aus dem Vertrag hier rauszukommen. Ich frage mich da aber, warum die das nicht längst gemacht haben, wenn die das Scheiße finden und auch nichts damit verdienen. Wenn die den Vertag nicht kündigen, wäre alles andere aber Makulatur. Dann bliebe alles, wie es ist.“
Er schaut erst Luz und dann Nick an. Er grinst.
„Ihr habt die beiden ja heute kennen gelernt. Habt ihr eine Idee, wie wir die mal eben umstimmen können?“
Die beiden winken resigniert ab. Mit denen ist nicht zu reden. Die Lektion haben wir schon hinter uns.
„Das ist aber alles nur Halbwissen und Spekulation. Das reicht nicht, um da irgendwas offiziell zu starten.“
Nick nickt zustimmend und lächelt schelmisch.
„Absolut. Das reicht nicht. Da können wir bei der Polizei oder Stadt nichts vorbringen.“
TomTom stößt ihn an und lacht. So ist er unser Nick. So war er schon immer. Er hält nicht viel von staatlichen Institutionen.
„Ich bin noch nicht ganz fertig. Dann ist da noch die Sache mit den verschwundenen Dateien. Das ist jetzt bekannt und dadurch sollte sich das, was auch immer da passieren soll, verzögern. Dadurch dass Nick mit seinem Antrag den Stein ins Rollen gebraucht hat, ist da jetzt Feuer im Busch. Die werden sich jetzt vielleicht erst mal ein bisschen zurückhalten, bis die erste Aufregung im Rathaus sich wieder gelegt hat.“
TomTom zögert noch einmal ganz kurz.
„Ich habe nicht das Gefühl, dass wir mit irgendwem von den Leuten vernünftig reden können. Nicht mit Seelmann, nicht mit Schmitz, nicht mit Klein oder sonst wem. Jemand eine Idee, was wir machen könnten?“
Er hat alles gesagt, was er dazu zu sagen hat. Und das war wirklich viel. Jetzt schaut er uns erwartungsvoll an. Wir enttäuschen ihn ein wenig. Keiner hat eine Idee. Absolut niemand.
Kati bringt neue Getränke. Die Gläser bimmeln nachdenklich.
Der Captain nimmt noch einen Schluck und schiebt sein angetrunkenes Bier zur Seite.
„Vielleicht sollten wir mal beim Puff gucken gehen, wer da so hingeht. Vielleicht kriegen wir raus, für wen Seelmann bezahlt. Ich hol mein Auto und meine Kamera. Kommt einer mit? Alleine wird es bestimmt ganz doll langweilig.“
Snake wechselt einen Blick mit Betty.
„“Bin dabei. Habe morgen frei. Waller du bist doch da gewesen. Erzähl mal, wie das da aussieht.“
Ich beschreibe den beiden die Umgebung so gut, wie es geht. Die beiden hauen ab. Kopfüber in die Nacht.
Es ist spät. Siouxsie und Zeus wollen auch langsam los. Betty ebenfalls. Der Preacherman will sie begleiten. Bevor sie aufbrechen, hebt der Preacherman die Hand.
„Eins noch. Wir dürfen die beiden Gestalten nicht vergessen, die Nick vermöbelt haben.“
Das ist wahr. Die sind uns vorhin durchgegangen. Die dürfen wir auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Der Preacherman lächelt. Immer noch ein Anblick, an den wir uns gewöhnen müssen.
„Vielleicht kann ich da noch was beitragen. Weiß ich aber erst morgen“
Dann sind die vier auch weg. Luz, TomTom, Pete und ich bleiben übrig. Wir wollen noch ein Runde Drinks. Pete zeigt auf einen der Kicker. Wir stehen sofort auf. In den letzten Tagen ist das Spiel deutlich zu kurz gekommen. Pete und TomTom gegen Luz und mich. Ein tolles Spiel. Spannend bis zum letzten Ball.
Der letzte Ball gehört Pete.

Treffer. Versenkt.

***
Am Freitag geht es weiter.

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