Freitag, 3. Februar 2017
20 The Pogues “Dirty Old Town”
Samstag

Ich höre Stimmen. Jetzt ist so weit. Waller dreht endgültig ab. Luz betritt das Zimmer.
„Ah, der werte Herr schlägt auch schon die Augen auf. Dann brauche ich dich ja nicht zu wecken. Und jetzt hör zu.“
Ich höre Stimmen. Eine der Stimmen sagt meinen Namen. Langsam kommt Strom in den Kopf. Luz reicht mir einen Kaffee. Schluck für Schluck wird die Stromstärke etwas größer und das Licht geht dann auch langsam an. Was ich höre ist das Lokalradio und sie berichten über mich. Allerdings wissen sie nicht, was sie über mich berichten sollen. Woher auch, wer bin ich schon. Allerdings müssen sie wohl über mich berichten. Ich habe für Aufsehen gesorgt. Ich lausche einem inhaltslosen Bericht und muss über den letzten Satz schmunzeln,
„Herr Krawallek war für uns leider bisher nicht zu erreichen. Wir werden uns aber weiter um ein Interview bemühen.“
Dann viel Spaß dabei. Könnten außerordentlich mühsame Bemühungen werden. Und fruchtlose.
„Wir gehen doch nachher zum Weihnachtsmarkt, oder?“
Ich erinnere mich. Wenn auch nur ganz dunkel. Wir hatten darüber gesprochen und ich fürchte, ich habe ja gesagt. Weihnachten ist ja nicht so mein Ding. Weihnachtsmarkt auch nicht. Warum auch immer, Ist eben so. Luz steht aber voll drauf. Wir haben da einen Kompromiss gefunden. Der W-Markt bei uns ist eher mickrig und es ist nicht viel los. Deshalb gehen wir dann ein paar Male in der Saison dort hin. Dann muss ich zumindest nicht auf die großen.
Heute ist aber anders. Ich will nicht bei uns in die Stadt. Nicht nach gestern. Nicht nach dem Bericht in der WAZ. Nicht nach dem Bericht im Radio.
„Okay, aber nicht bei uns, oder?“
„Wir gehen immer nur bei uns. Das wolltest du so. Dein Wille geschehe. Auch heute.“
Ich sehe dem Schicksal ins Auge. Das Schicksal guckt zurück. Dann grinst es voller Vorfreude.

Als es dämmert wandern wir durch die Fußgängerzone. Die Anzahl der kleinen VOD-Schriftzüge hat zugenommen. Auch auf fast allen Buden vom Weihnachtsmarkt sind welche drauf. Während wir so unterwegs sind, zeigen wir uns immer wieder gegenseitig weitere. Im Gegenzug machen Menschen andere Menschen heimlich auf mich aufmerksam. Nicht ganz direkt, sondern auf eine Art, die zumindest sie für heimlich oder diskret halten.
Unser erstes Ziel ist der Wagen mit den belgischen Pommes Frites. Der war die letzten zwei Jahre nicht da und wir haben ihn vermisst. Jetzt ist der zurück und wir gönnen uns jeder eine große Portion Fritten. Schön mit viel Mayo.
Während wir so nett Gaumen schmausen, verlässt eine Frau den Drogeriemarkt gegenüber. Ich stupse Luz an und nicke in die Richtung. Luz kennt sie nicht, wir alle haben mit ihr ja eher eine Telefonbekanntschaft.
„Guck mal da drüben, das ist die Stefanie vom Seelmann.“
Sie guckt interessiert zu ihr rüber, wird aber abgelenkt. Sie hat auch jemanden gesehen.
„Da ist ja der Eumel.“
Ja, da ist er. Ich will ihm gerade etwas zurufen, als mich Luz am Ärmel packt und ein wenig mehr in den Schatten zieht.
„Irgendwas ist komisch. Mach mal nichts.“
Also mache ich nichts. Das liegt mir. Darin bin ich ziemlich gut.
Und Luz hat recht. Etwas ist komisch. Stefanie und Eumel kennen sich. Die beiden umarmen sich zur Begrüßung und reden dann miteinander.
„Meinst du das ist was sexuelles?“
Luz hebt die Hände Richtung Himmel und verdreht die Augen. War ja nur eine Idee.
Dann trennen sich die zwei wieder. Stefanie geht die Straße hoch, aber Eumel kommt in unsere Richtung. Ohne uns abzusprechen treten wir genau im richtigen Augenblick synchron aus dem Schatten, so dass wir unvermittelt beide direkt vor ihm stehen. Die Überraschung ist gelungen. So steht es ihm ins Gesicht gehämmert. Quasi in Schablonenschrift.
„Hi, kennt ihr euch?“
Dabei geht mein Blick die Straße hoch, wo Stefanie noch nicht weit weg ist. Eumel sieht nun auch in diese Richtung. Als wäre es abgesprochen, dreht sich Stefanie genau in diesem Moment zu uns um. Sie ist total überrascht, wendet sich dann wieder ab und geht weiter.
Eumel steht vor uns. Wir stehen vor ihm. Er sagt nichts und guckt zu Boden. Er zögert. Ich bin plötzlich vollkommen entspannt, denn ich weiß einfach, dass er uns nicht anlügen wird. Auch wenn wir keine Freunde sind, haben wir doch ähnliche Ideale und Vorstellung vom Leben. Dazu gehört, Menschen nicht unmotiviert anzulügen.
„Sie ist meine Tante. Die Schwester meiner Mutter.“
Damit ist klar, wer die Sprayer sind. Wir sehen ihn an, er sieht uns an. Wir wissen Bescheid, er weiß, dass wir Bescheid wissen. Da gibt es jetzt nichts zu zu sagen. Also sagen wir da auch nichts mehr zu. Luz wechselt das Thema.
„Und sonst so? Alles gut? Was führt dich hierher?“
„Ich will mir die Band untern auf der Bühne ansehen.“
Jetzt bin ich irritiert. Auf dem Weihnachtsmarkt spielen die Bands meistens Weichnachtslieder.
„Hätte nicht gedacht, dass du auf Weichnachtslieder stehst.“
„Nur, wenn die von einer wirklich guten Band gespielt werden. Und gleich gibt es eine wirklich gute Band. So mit Folk- und Punkeinschlag.“
Wir gehen gemeinsam in die Richtung und kommen an, als die gerade loslegen. Und er hat Recht, die sind wirklich gut. Eigentlich zu gut für unseren Weihnachtsmarkt. Da hat hinter den Kulissen aber mal jemand seinen Job richtig gut gemacht. Als die dann noch eine gelungene Version von „Fairytale Of New York“ spielen, bin ich wirklich hin und weg.
Mein Handy macht sich bemerkbar. Nick ruft an. Das Gespräch ist kurz. Eigentlich besteht es nur daraus, dass Nick ein paar kurze Sätze raushaut.
„Wenn ihr könnt, kommt sofort in die Kneipe. Hier passieren reichlich eigenartige Dinge. Ich versuche auch, die anderen zu erreichen.“
Dann klickt es und Ende. Over and out. Das war es auch schon. Keine Ahnung, worum es geht, aber wir sind schon unterwegs. Eine Kleinigkeit hätte ich gerne noch vorher gegessen. Aber egal, was soll’s.

Im „Mercy Seat“ winkt uns Kati sofort in den hinteren Raum durch. Sie hebt die Hände und zeigt uns, dass sie auch nicht richtig etwas weiß. Also marschieren wir in den hinteren Raum und gucken uns die Sache mal aus der Nähe an.
An zusammengeschobenen Tischen sitzen etwa fünfzehn Leute, von denn mir nur einer bekannt ist. Das ist der Typ, der neulich hier war und Nick die Bilder von den beiden Männern, die ihn vermöbelt haben, gegeben hat. Von den anderen meine ich, schon mal welche hier in der Gegend gesehen zu haben. Sicher bin ich mir aber auch nicht. Dafür bin ich mir sicher, dass das noch nicht mal Gelegenheitsgäste sind. Also muss die was ganz Bestimmtes hier hin geführt haben.
Etwas abseits sitzen an einem Tisch Siouxsie, Zeus, TomTom, Nick und der Preacherman. Wir steuern den Tsch an. Die dabei entstehende Unruhe weckt die Aufmerksamt der seltsamen Gemeinde. Mir fällt auf, dass denen mein Gesicht bekannter ist, als es umgekehrt der Fall ist. Das liegt aber nur an meiner ganz frischen Position als Lokalberühmtheit.
„Geht das vielleicht etwas leiser?“
Der Preacherman hebt den Kopf. Er wirkt genervt.
„NEIN, geht es nicht!“
Offenbar ist die Stimmung etwas gereizt. Ich schaue mir den Sprecher an, aber er ist mir auch auf den zweiten Blick immer noch unbekannt. In Gedanken gehe ich auch noch mal die Bilder vom Puff durch, aber da ist er auch nicht dabei. Das wäre ja was gewesen. Der Typ scheint irgendwie die Führung in seiner Gang übernehmen zu wollen. Nick versucht uns die Situation zu beschreiben.
„Können Sie das nicht draußen besprechen?“
Schon wieder der Typ. Der Preacherman hebt den Kopf. Er wirkt ernsthaft genervt.
„NEIN, können wir nicht!“
„Also, die Leute hier wollen eine Bürgerinitiative gründen, um das Gewerkschaftshaus zu erhalten. Die meisten sind hier aus der Nachbarschaft. Bis jetzt diskutieren die aber nur über so Nebensächlichkeiten. Also ob es ein eingetragener Verein werden soll. Und ob es Beiträge geben soll. Oder nur Spenden. Und ob es eine gerade oder ungerade Anzahl an Vorstandsmitgliedern geben soll.“
„Könnten Sie jetzt bitte still sein?“
Schon wieder der Typ. Der Preacherman erhebt sich von seinem Stuhl. Er wirkt außerordentlich genervt.
„NEIN, können wir nicht!“
Der Preacherman bleibt stehen. Der Typ wirkt eingeschüchtert, aber das kann man ihm nicht verdenken. Ein außerordentlich genervter Preacherman wirkt recht furchteinflößend. Snake und Betty stoßen zu uns. Nick klärt auch die beiden kurz auf. Am großen Nachbartisch herrscht Ruhe. Der Blick des Preacherman hat eine beruhigende Wirkung. Dann sind wir so weit fertig und die angehende Bürgerinitiative setzt ihre Gründungsveranstaltung unter unserer kritischen Beobachtung fort.
Und die diskutieren weiter fast nur über Formalitäten und Nebensächlichkeiten. Es fällt auf, dass das unangenehme Großmaul die ganze Sache an sich reißen will, obwohl es so aussieht, als wäre der Anstoß zu diesem Treffen nicht von ihm, sondern von einem Ehepaar gekommen, das aber immer mehr von ihm in den Hintergrund gedrückt wird.
Dann hat sich das unangenehme Großmaul durchgesetzt. Die anderen überlassen ihm den Vorsitz. Im weiteren Palaver wird dann deutlich, dass es denen nicht unbedingt um den Erhalt des Gewerkschaftshauses geht. Die wollen keinen Bau von Seelmann in der Nachbarschaft. Die haben Angst, dass ihre schönen Einfamilienhäuser an Wert verlieren, wenn da ein Neubau entsteht. Die wollen lieber, dass da Bauland für weitere Einfamilienhäuser entsteht.
Nick will sich einmischen. Luz beugt sich vor und bringt ihre Lippen in die Nähe von seinem Ohr.
„Zu früh. Warte noch.“
Ich habe das mehr abgelesen als gehört. Das Palaver geht weiter. Plötzlich steht der Typ, der Nick die Bilder gegeben hat, auf.
„So habe ich mir das nicht vorgestellt. Was ist denn das für ein Scheiß.“
Dann drückt er Nick einen Zehner in die Hand und verschwindet. Wir tauschen ein paar Blicke. Richtig einig sind die sich wohl nicht. Und dann geht das Gelaber weiter. Es ist grauenvoll. Gequirlte Kacke. Luz stößt Nick an.
„Ich kann nicht erkennen, was hier für den Erhalt des „Mercy Seat“ getan werden soll.“
Das unangenehme Großmaul schaut Nick an.
„Nichts, das interessiert uns nun wirklich nicht.“
Ein Blick in die Runde seiner Mitstreiter zeigt, dass es da doch unterschiedliche Meinungen zu geben scheint. Den meisten ist seine Aussage doch eher ziemlich peinlich. Sie rutschen unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Wären sie doch besser auf der Couch geblieben. Es sind eindeutig erste Auflösungserscheinungen zu erkennen. Und das schon vor der eigentlichen Gründung.
„RAUS! ALLE! SOFORT!“
Die Stimme des Preacherman. Der Preacherman steht an der Wand mit verschränkten Armen und unbeweglichem Gesicht. Alle sehen in seine Richtung. Aber die Stimme kam nicht aus der Richtung sondern von der Tür.
Und an der Tür steht der Watchman. Mit verschränkten Armen und unbeweglichem Gesicht. Genau wie der Preacherman. Nur noch ein Stück großer. Und noch ein Stück breiter.
Unter den Mitgliedern der sich schon vor der Gründung wieder auflösenden Bürgerinitiative zeigen sich eindeutige Zeichen von Unruhe mit ersten Tendenzen Richtung Panik. Alle bewegen sich Richtung Tür. Aber dort steht der Watchman. Und einen anderen Ausgang gibt es nicht.
„RAUS! ALLE! SOFORT!“
Dieses Mal kommt die Stimme von der Wand.
Die Unruhe weicht jetzt vollständig der Panik. Alle drängen zur Tür. Der Watchman steht dort wie einbetoniert. Mit verschränkten Armen und unbeweglichem Gesicht. Er lässt gerade so viel Platz, dass die bis vor wenigen Augenblicken beinahe initiativen Bürger an ihm vorbei können. Und sie schlängeln sich. Und winden sich. Sie tun alles, um ihn bloß nicht zu berühren. Wer weiß was dann passiert. Das wollen sie aber auf keinen Fall erfahren, das ist sicher. Dann sind sie endlich alle raus.
Der Watchman schaut den Preacherman an.
„Ich habe dich gesucht. Wir müssen los.“
Dann sind auch die beiden weg. Ohne ein weiteres, erklärendes Wort. Einfach Ciao und weg. Wir sehen ihnen erst hinterher und uns dann an.
Nick holt eine neue Runde Getränke. Die Gläser bimmeln. Luz schaut Nick fragend an.
„Wer war denn dieses unangenehme Großmaul?“
„Heinz Schulz. Das ist der von den Nachbarn, der mir schon immer am meisten Ärger bereitet. Aber immer so hintenrum. So dass sein Name nicht unbedingt fällt.“
„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sich seine und unsere Wege bald noch einmal kreuzen werden.“
Ich zucke innerlich zusammen. Ihren Gesichtsausdruck kann ich nicht richtig deuten. Sollte ich mir Sorgen machen?
In ihren Adern fließt revolutionäres katalanisches Blut.
Wir sollten über etwas anderes reden.
„Was ist den jetzt mit deinem Ex-Chef?“
Zeus trinkt noch einen Schluck, ehe er anfängt.
„Ja, der Ralf. Dass der jetzt verheiratet ist und in Versicherungen macht, habe ich ja schon in der Mail erwähnt. Die Agentur gehört übrigens seiner Frau. Das sollten wir im Hinterkopf behalten. Ich habe noch Kontakt zu einem Typen von früher, der den gut kennt. Wir tauschen manchmal noch Musiktipps. Den habe ich heute angerufen und dann das Gespräch mal so auf den Ralf gelenkt. So wegen den guten alten Zeiten. Seine Stammkneipe ist immer noch die „Bergmannsklause“. Und jeden Sonntag geht er da Fußball gucken und bleibt dann meist bis die schließen. Ich denke, ich sollte mich da morgen mal sehen lassen und ein nettes Gespräch unter alten Kumpels führen. Alleine will ich aber nicht, ich hätte gerne Rückendeckung.“
Alleine soll er auch nicht. Auf keinen Fall. Zeus zeigt auf die Kickertische.
„Und mein Kumpel hat auch gesagt, dass da noch viel gespielt wird. Und sich der Ralf für so eine Art König hält. Vielleicht gewährt er uns ja auch darin eine Audienz.“

Wir gehen ins Trainingslager.

***
Am Montag geht es weiter.

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